SWR2 Wort zum Tag

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19FEB2024
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Vor hundert Jahren war das eine echte Sensation: Die US-Amerikanerin Margaret Mead ist im Alter von gerade einmal 23 Jahren auf die kleine Inselgruppe Samoa in den südlichen Pazifik gereist. Ohne Begleitung. Sie hat dort einige Jahre lang gelebt und mit heranwachsenden jungen Frauen Gespräche über ihre Rolle in den traditionellen Gesellschaften geführt. Das daraus entstandene Buch hat das Verständnis menschlicher Verhaltensweisen stark beeinflusst und ist ein echter Bestseller geworden. Denn Margaret Mead hat herausgefunden, wie stark Menschen durch ihre jeweilige Kultur und Gesellschaft geprägt sind. Auch in der grundlegenden Frage, was uns Mensch zu Menschen macht.

Als sie später eine berühmte Professorin war, hat eine Studentin diese grundlegende Frage aufgenommen und sie einmal gefragt, was ihrer Meinung nach das erste Zeichen der Zivilisation ist. Wo also die Trennlinie zu ziehen ist zwischen tierischen und menschlichen Verhaltensweisen.

Die Studentin hatte wohl erwartet, dass Mead über das Feuer sprechen würde oder über Angelhaken, Tontöpfe und Schleifsteine. Aber nein, Mead hatte einen ganz anderen Ansatz. Sie hat gesagt: „Das erste Zeichen, das uns sicher zeigt, dass wir es mit Zivilisation zu tun haben, ist ein Oberschenkelknochen. Genauer: ein gebrochener und wieder verheilter Oberschenkelknochen. Warum das so ist? Nun, ein Tier stirbt, wenn es sich das Bein bricht. Denn wenn Tiere sich ein Bein gebrochen haben, können sie nicht mehr vor einer Gefahr fliehen. Sie können auch nicht zum Fluss gehen, um etwas zu trinken oder nach Nahrung zu suchen. Als Tier mit gebrochenem Bein bist du nur noch Fleisch für andere umherstreifende Tiere. Kein Tier überlebt einen Beinbruch lange genug, damit der Knochen heilen kann.

Ein gebrochener Oberschenkelknochen, der verheilt ist, ist dagegen ein Beweis dafür, dass sich jemand die Zeit genommen hat, bei dir zu bleiben. Auf dich aufzupassen. Er hat deine Wunde verbunden, dich in Sicherheit gebracht und dich während der Genesung betreut.Und genau das ist der Beginn der Zivilisation: Jemand anderem zu helfen, wenn er in Schwierigkeiten ist.“

Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Antwort heutzutage umstritten. Aber ich nehme den Impuls gern auf, der in der Position von Margaret Mead liegt: Jede menschliche Zivilisation gründet darin, dass wir einander helfen. Wenn jemand sich ein Bein gebrochen hat oder das Herz. Wir werden dadurch zu Menschen, dass wir einander unterstützen in Situationen der Not. Ich finde: In einer Gesellschaft, die über zunehmende Verrohung klagt, ist die Entdeckung von Margaret Mead aktueller denn je.  

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