Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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12FEB2024
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Nach langer Zeit war ich im letzten Jahr am Rosenmontag mal wieder in Rottweil. Zur Fasnet. Ich stand an der Hauptstraße. Da kommt ein Narr auf mich zu – schnurstracks: Großgewachsen ist er. Behängt mit Glocken. Sein Anzug, ein buntes Fransenkleid. Die Glocken an seinem Gewand machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Erst bin ich noch unsicher. Will der wirklich zu mir? Oder ist es doch eine Verwechslung? 

„Ja, di moin ich…“ Jetzt bin ich mir sicher, er will zu mir. Von hinter der Maske dringt eine kräftige, aber ebenso freundliche Männerstimme an mein Ohr: „So Herr Pfarrer, jetzt gugga mer amol in des Buach nei…“ Die Hände in weißen Handschuhen schlägt der Narr sein sorgfältig eingebundenes und kunstfertig gestaltetes Narrenbuch auf. Eine Doppelseite in der Buchmitte ist ihm besonders wichtig. „Gugg amol was ich do honn…“

Er hat tatsächlich Anekdoten aus meinem Leben und Wirken in seinem Buch festgehalten: Liebevoll, treffend, ein bisschen peinlich, aber nie verletzend. Zum Beispiel zeigt er ein Bild, wie ich mich im langen schwarzen Pfarrersgewand auf mein Fahrrad schwinge, weil ich kurz vor dem Beginn einer Hochzeit noch ganz schnell nach Hause muss. Ich hatte die falsche Rede in mein Ringbuch eingeheftet. Oder wie ich frühmorgens barfuß und auch sonst nur notdürftig bekleidet hinter dem Müllauto herrenne, weil ich mal wieder vergessen hatte, die Tonne rechtzeitig rauszustellen…

Was ich da mit dem Narren erlebt habe, nennen die Rottweiler „Aufsagen“. Dahinter steckt ihr Auftrag, dem anderen den Spiegel vorzuhalten und ihm die Wahrheit zu sagen. Und ich glaube auch deshalb hat die Rottweiler Fasnet etwas so besonders Liebenswertes. Weil es da viele Menschen gibt, die sich die Mühe machen, einander liebevoll die Wahrheit vor Augen zu halten.

Ich musste auf jeden Fall schmunzeln an diesem Tag auf dem Rottweiler Narrensprung. Nicht nur über den freundlichen Narren in seinem Fransenkleidle, sondern vor allem über mich selbst. Und auch wenn ich seit dieser Fasnet mein Ringbuch vor Hochzeiten immer noch mal extra kontrolliere und die Mülltonne dank digitaler Erinnerungsapp jetzt in aller Regel rechtzeitig vor dem Pfarrhaus steht, bin ich mir sicher, dass es auch im kommenden Jahr wieder genügend Geschichten geben wird, die dazu taugen, dass ein Narr mir den Spiegel vorhält. Liebevoll und so, dass ich gerne hineinschaue. Weil die Wahrheit frei macht und uns hoffentlich auch ab und zu schmunzeln lässt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39315
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