Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09JAN2024
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Eine gesplitterte Scheibe, in der Mitte ein rundes Loch. Ein Einschuss-Loch. So sieht die Balkontür von Ahmads Eltern aus. Ahmad lebt nicht mehr. Im Oktober ist er auf diesem Balkon erschossen worden, im Krieg zwischen Israel und der Hamas. Von einem Scharfschützen.

Ahmads Mutter sitzt auf dem Sofa in ihrer Wohnung, auf dem Schoß hält sie das Bild ihres 17-jährigen Sohnes, ihr Blick ist nach innen gekehrt. Viel ist ihr nicht geblieben: ein Hemd von Ahmad, sein Schulranzen – und sein Lachen auf diesem Bild. Was ich beschreibe, ist auf einem Foto festgehalten. Es tut mir in der Seele weh, diese Mutter so zu sehen.

Andy Reiner hat das Foto gemacht, der Fotograf aus Oberschwaben war kurz vor Weihnachten in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Ich habe ihn gefragt, ob ich die Geschichte von Ahmad erzählen darf. Er hat ja gesagt und mir dann erzählt, wie fertig ihn diese eine Stunde bei der Familie gemacht hat. Obwohl er nur die Geschichte aushalten muss. Und nicht dieses ganze Leben.

Die Familie von Ahmad lebt in Bethlehem, in einem palästinensischen Flüchtlingslager. Sie haben drei Söhne. Ahmad war der älteste; aufgeweckt und neugierig. Jeden Tag stand er im Schlafzimmer der Eltern und hat durchs Fenster geschaut, zur Universität gegenüber. „Mama“, hat er gesagt, „da werde ich einmal studieren.“ Die Familie lebt seit Jahrzehnten im Lager. Sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nie aufgegeben.

Mit Ahmad stirbt ein junger Mensch. Und mit ihm Ziele und Träume. Da stirbt eine bessere Zukunft. Wo auf Kinder geschossen wird, da ist Friede kaum vorstellbar. Bei der Geschichte von Ahmad gibt es keine Wende, da wird nichts gut.

Trotzdem muss ich sie erzählen. Weil der Name Ahmad stellvertretend steht für viele hundert namenlose Kinder, die in diesem Krieg getötet wurden. Und für viele namenlose Familien in den Flüchtlingslagern.

Ich schaue nochmals auf das Foto: Ahmads Mutter mit dem Bild ihres Sohnes auf dem Schoß, den Blick nach innen gekehrt. Das Bild ist für mich wie eine moderne Pietà, also eine Schmerzens-Maria. Genauso wie Ahmads Mutter wird auch Maria auf manchen Bildern dargestellt, die Mutter Jesu. Ihr totes Kind auf dem Schoß, den Blick nach innen gerichtet.

Und das ist das einzig Tröstliche, das mir bei dieser Geschichte über die Lippen kommt: Ich hoffe für die Familie von Ahmad, dass auch der Tod ihres Sohnes am Ende nicht umsonst war. Dass Friede wird. Dass etwas Neues beginnt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39122
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