SWR2 Wort zum Tag

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14DEZ2023
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Tödlich verunglückt, als sie das perfekte Foto schießen wollte. Das ist tatsächlich passiert, und die Geschichte hat mich schockiert. Ein Schritt zu nah am Abgrund. Und dann - ein tragischer Unglücksfall! Heute, mit etwas Abstand zu den Ereignissen damals, meine ich: Das hat noch eine tiefere Dimension: Es kann buchstäblich tödlich sein, wenn alles perfekt sein muss. Das gilt für perfekte Landschaftsfotos, das gilt auch für Bilder, die ich mir von meiner eigenen Person mache oder nach außen präsentiere.

Ein berühmter Theologe des 20. Jahrhunderts, Henning Luther, hat das in bewegenden Worten zusammengefasst. Er meint: Leben ist immer fragmentarisch. Wir Menschen sind nicht perfekt. Wer meint, er müsse perfekt und fehlerlos sein, erliegt einer verhängnisvollen Täuschung. Henning Luther war der Ansicht: Perfektionswahn ist Sünde. Ich sehe das auch so. Wer immer perfekt sein will, entfremdet sich von sich selbst und auch von Gott. Wir Menschen sind nämlich keine perfekten Geschöpfe. Wir haben – alle – Fehler.

Henning Luther war todkrank, als er seine Überlegungen aufgeschrieben hat. Vielleicht hat ihm sein schweres Schicksal geholfen, ganz neu über den Wahn der Perfektion nachzudenken. In einer Situation seines Lebens, in der nichts mehr perfekt war und auch nicht mehr perfekt werden konnte. Er ist nur 44 Jahre alt geworden. Als Vermächtnis hat er wertvolle Gedanken weitergegeben. Perfektionswahn ist Sünde. Leben ist Fragment.

Theoretisch ist mir das klar. Praktisch leide ich trotzdem immer wieder an Perfektionswahn. Und andere so wie ich. Jedes Jahr sterben viele Menschen auf der Suche nach dem perfekten Selfie, auf dem sie und ein spektakulärer Ort dieser Welt festgehalten werden sollen, am besten so, dass auch andere bestätigen, dass dieser Ort oder dieser Mensch perfekt sind.

Dabei: Ist es in Wirklichkeit nicht gerade umgekehrt? Echte Schönheit hat immer Webfehler. Die perfekte Schönheit oder Symmetrie wäre sterbenslangweilig. Gerade die Unregelmäßigkeiten machen ein Gesicht oder eine Landschaft spannend und unverwechselbar. Wirklich große Fotografen zeigen das auch. Ihre Bilder präsentieren keine Photo-Shop-Ergebnisse, sondern wirkliche Menschen und wirkliche Orte. Mit ihren Fehlern, die in Wahrheit ganz häufig gerade den Charme ausmachen.

Die Schönheit zeigt sich im Fragment. Ich glaube: Gerade so hat sich Gott das vorgestellt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38951
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