SWR2 Wort zum Tag
Es ist dunkel und neblig. Ich zünde eine Kerze an. Und selbst wenn es nur ein kleines Licht ist, ist die Finsternis für eine Weile weg. Das tut mir gut. Denn es ist mitten im November und ich habe den Novemberblues. Die November-Themen machen mir zu schaffen. Zwischen Allerseelen und Totensonntag geht es um Zerbrechlichkeit und Endlichkeit. Wer ist krank und kämpft mit Schmerzen? Wer liegt im Sterben oder ist in diesem Jahr bereits gestorben?
Der Volkstrauertag erinnert außerdem daran, dass es neben den persönlichen Schicksalsschlägen und Verlusten auch um die kollektive Erinnerung an die Verluste aus den beiden Weltkriegen und aus allen späteren Kriegen geht. Das ist in diesem Jahr so konkret wie lange nicht: In der Ukraine hören der Krieg, das Morden und das Sterben nicht auf. In Israel beweinen Angehörige die Opfer nach den Terrorangriffen und dem Massaker der Hamas.
Die Berliner jüdische Kantorin Avital Gerstetter postet jeden Tag einen Namen von in Israel ermordeten Personen und schreibt unter die Fotos: „Wir rufen deinen Namen und versprechen: Wir werden dich niemals vergessen!“
Und auch die Zivilbevölkerung im Gazastreifen betrauert tagtäglich ihre Toten.
Was ist das für eine unaufhörliche und wahnsinnige Spirale der Gewalt!
An vielen Orten halten Menschen Mahnwache, beten für das Ende von Terror und Gewalt und zünden Lichter an für die Toten und ihre Angehörigen. Diese Mahnwachen und Gebete helfen mir. Gleichzeitig erschüttern mich antisemitistische Parolen, Aufrufe zur Auslöschung Israels und zur Aufrichtung eines Kalifenstaats in Europa und weltweit und machen mir Angst. Was heißt Zerbrechlichkeit und Endlichkeit angesichts von hingeschlachteten Männern, Frauen und Kindern? Wie zynisch sind antisemitische Parolen und Aufzüge gerade in Deutschland, wo wir am 9. November zum 85. Mal der Reichspogromnacht gedacht haben und „nie wieder ist jetzt!“ gerufen haben?
Nichts tröstet in diesen Tagen, nichts nimmt mir mein Gefühl von Ohnmacht und Sprachlosigkeit angesichts der komplett festgefahrenen Narrative und miteinander verstrickten Hasstiraden.
Mitte November: Zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Tod und Leben, zwischen Verzweiflung und Hoffnung trotz allem. Jeden Tag zünde ich ein Licht an für alle, die trauern, die Angst um die verschleppten Geiseln haben oder sich um ihre Kinder im Krieg sorgen. Ich nenne Namen der Toten und lege sie vor Gott. Mehr Sprache habe ich nicht. Mein Kerzenlicht leuchtet. Es ist nur ein kleines Licht. Aber es ist da.
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