SWR Kultur Wort zum Tag

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21NOV2023
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Jedes Mal, wenn ich den Geldbeutel zücke, zucke ich noch ein bisschen zusammen, wenn ich zwischen Personalausweis und Kontokarte meinen Behindertenausweis sehe. Wenn ich ihn entdecke, löst das immer noch zwei gegensätzliche Gefühle (in mir) aus.

Ich habe den Behindertenausweis wegen meiner Krebserkrankung bekommen. Das hat sich damals schon eigenartig angefühlt. Als ob ich zusätzlich zu meiner Krankheit noch für den Rest meines Lebens mit dem Stempel „schwerbehindert“ abgestempelt bin und ab jetzt nie hundertprozentig funktioniere. De facto arbeite ich längst wieder und bringe meine Leistung so gut ich kann. Das fühlt sich gut an und ich weiß: In unserer Gesellschaft gilt es als Maßstab, dass Menschen funktionieren und Leistung bringen. Aber als Christ finde ich so eine Sicht auf den Menschen befremdlich. Menschen sind doch nicht daran zu bemessen, wie gut sie in unser Leistungsschema passen. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ob behindert oder nicht. Ich sehe gerade auch bei behinderten Menschen Leistungen und Begabungen, die mich beeindrucken. Ich denke an eine junge Schauspielerin mit Down-Syndrom, die ich in einer Filmkomödie gesehen habe. Sie hat ihre Rolle mit so viel Witz gespielt. 

Das zweite Gefühl, das ich habe, wenn ich meinen Behindertenausweis anschaue, ist nicht so eigenartig, sondern rein positiv. Mein Ausweis zeigt mir nämlich, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der Menschen mit Behinderung besonders geschützt sind. In so einer Gesellschaft fühle ich mich gut aufgehoben und will alles, was mir möglich ist, dazu beitragen damit andere Menschen geschützt sind. Und wenn ich manchmal auch daran zweifle, ob die Mehrheit in unserem Land daran festhält, dass wir solidarisch sind und Schwächere besonders schützen, dann ist mein Behindertenausweis doch ein ganz praktisches Zeichen dafür, dass wir in unserem Land füreinander einstehen und uns gegenseitig schützen.

Wenn ich mit diesen Gedanken meinen Behindertenausweis in Händen halte, merke ich, die Herausforderung in unserem Land sind oft nicht die Menschen mit Behinderung. Wir schaffen es, einen Schutz für sie aufzubauen, und wir schaffen es hoffentlich immer besser, dass Menschen mit Behinderung sich gut entfalten und ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft einbringen können.

Die größere Herausforderung für uns alle sind vermutlich eher die, die andere Menschen behindern. Nach meiner Erfahrung behindern behinderte Menschen selten andere, im Gegenteil. Sie schaffen es oft, anderen so viel zu ermöglichen: Lebensfreude zum Beispiel und eine etwas andere Sicht auf die Welt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38740
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