SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Es ist halb zwölf Uhr nachts. Ich bin auf dem Weg nach Hause von der Kerb. Auf meiner Pfarrhaustreppe sitzt eine Gruppe Teenager. Eine Jugendliche steht auf und sagt: „Ich kenne Sie! Sie sind der Pfarrer. Glauben Sie an Gott?“

Das hört sich wahrscheinlich an, als hätte ich es erfunden. Das ist aber so passiert. Ich bin immer wieder überrascht, wie schnell im privaten Bereich so tiefgehende Fragen gestellt werden, und gerade nicht, wenn hochoffiziell Gelegenheit dazu wäre – im Reli-Unterricht zum Beispiel oder beim Gottesdienst.

Ich habe damals geantwortet: „Nicht jeden Tag. Manchmal fehlt mir Gott. Aber ich hoffe, ihn dann wiederzufinden.“ Die Jugendliche war völlig verwundert. Sie hat gefragt: „Muss man denn nicht immer glauben? Im Konfi-Unterricht habe ich gelernt, dass man auch beim Zweifeln immer glauben muss.“ „Nein“, habe ich gesagt. „Immer gleich glauben geht auch gar nicht. Aber die Hoffnung, immer wieder neu Gott zu treffen, die sollte man nicht verlieren.“ Sie hat noch gesagt: „Cool, das klingt glaubwürdig.“, dann bin ich durch die Tür ins Haus.

Ich weiß nicht, ob die Jugendliche – sie muss heute eine junge Frau sein – noch in der Kirche ist. Und mit ihrer Art zu glauben, einen Platz in der Gemeinde gefunden hat.   Ich habe sie nur einmal gesehen; eben in dieser Nacht. Es war ein völlig singuläres Aufeinandertreffen in privater Stimmung.

Ich erzähle Ihnen heute davon, weil gerade in privaten Momenten oder zufälligen Begegnungen Platz für religiöse Fragen ist. Oder genauer gesagt: Weil im privaten Kreis Menschen eher bereit sind, so ganz persönliche Glaubensfragen zu besprechen und sich Antworten suchen. Die Jugendliche damals hat die Gelegenheit genutzt. Sie wollte von einer Amtsperson wissen, ob es okay ist, wenn man nicht immer gleichmäßig stark gläubig ist. Ich kann nur hoffen, dass das Gespräch vor dem Pfarrhaus ihr den Mut gemacht hat, auf Gott zu vertrauen, auch wenn es mal schwer fällt.

Woran liegt es, dass solche Gespräche sich eher zufällig und ganz privat  ergeben können? „Privat“ – das Wort bedeutet unter anderem „Das Eigene“. Und da wird es schon direkt deutlich: Wo es um unser Eigenes geht, geht’s ohne Umschweife um uns. Und darüber lässt sich auch leichter in der eigenen, vertrauten Umgebung sprechen. Wo Menschen sich in einem eigenen Raum befinden, haben sie vielleicht weniger Angst, sich zu zeigen.

In der Öffentlichkeit ist das anders. Da höre ich im Kopf immer die leise Stimme, die fragt: „Aber was werden die Leute sagen?“ Die Jugendliche damals vorm Pfarrhaus hat sich obwohl in der Öffentlichkeit mit ihren Freundinnen privat genug gefühlt, um mich anzusprechen. Und ich hoffe, es hat ihr geholfen.

Solche Gespräche in der Nacht hat es schon immer gegeben. In einer Geschichte aus dem Neuen Testament ist Jesus zu einem Essen eingeladen. Ein Pharisäer, also ein religiöser Experte, hat ihn zu einem Bankett eingeladen. Plötzlich geht die Tür auf. Eine Frau kommt herein. Eine Sünderin, stadtbekannt für ihren schlechten Ruf. Aber hier ist sie nicht in der Stadt. Sie kommt ganz privat und mitten in der Nacht. Und sie weint auf die Füße Jesu, trocknet sie mit ihren Haaren und salbt sie. Jesus sagt: Deine Sünden sind Dir vergeben, geh in Frieden!

Für mich zeigt diese Geschichte, wie stark Menschen sein können, wenn es um das Eigene geht. Die Frau sieht ihre Chance, gesehen zu werden. Ihr Eigenes, Inneres zu zeigen und Anerkennung für sich als Mensch zu bekommen. Sie braucht das, weil in der Öffentlichkeit die Leute über sie reden – sonst wäre sie ja nicht stadtbekannt. Aber bei Jesus kann sie zeigen: Ich bin gar nicht nur so. Ich habe Mängel ja, aber ich wünsche mir Anerkennung. Dann kann ich weitermachen.

Die beiden Geschichten, die aus der Bibel und die von der Kerb, ähneln sich. Obwohl andere dabei waren, ergreifen beide Frauen die Chance, für sich zu sorgen. Sie tun das, indem sie sich anvertrauen und nach ihrem eigenen Gottvertrauen fragen. Die Frau aus der Bibel weinend zu Jesu Füßen. Die Jugendliche, indem sie das, was sie im Konfiunterricht gehört hat, mit einer anderen Meinung abgleicht. Gemeinsam haben beide Frauen: So wie sie sich selbst sehen, war vorher kein Platz für sie. Also jedenfalls nicht bei denen, die glauben, Regeln fürs Glauben aufstellen zu dürfen oder zu müssen.

Die Frau galt als Sünderin. Die Jugendliche hat das Gefühl gehabt, nicht „richtig“ oder „gut genug“ zu glauben. In den kurzen Momenten, in denen sie sich nicht gescheut haben, ihre private Seite zu zeigen, haben beide einen göttlich-spirituellen Moment erlebt. Beide haben gehört: So wie Du bist, bist Du genug.

Sich so ganz privat zu zeigen, erfordert Mut. Und es geht auch nicht immer. Aber ich wollte Ihnen trotzdem von beiden Geschichten erzählen. Manchmal, denke ich, braucht es gute Beispiele, um Zuversicht zu gewinnen. Die Frage nach dem persönlichen Gottvertrauen ist total privat – also ganz ihre eigene Sache. Aber es zu zeigen, kann es ganz zu Gottes Sache machen. Und was will man mehr?

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag und eine gute Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38268
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