SWR1 Begegnungen
Caroline Haro-Gnändinger trifft Andreas Groll, Leiter der ökumenischen Notfallseelsorge Stuttgart
Wir treffen uns, weil er in seiner Familie etwas erlebt, was mich hellhörig macht. Seine Mutter, Marie José, hat schon relativ früh Demenz bekommen. Die Krankheit betrifft fast zwei Millionen Menschen in Deutschland, Tendenz steigend. Und bei jedem sieht sie etwas anders aus. Ich will mit ihm darüber sprechen, wie er damit umgeht. Aber fangen wir vorne an: Wie das Ganze damals begonnen hat, das kann er nicht vergessen:
Es hat so angefangen, dass die Mama auf einmal nicht mehr so genau wusste, wie man die Waschmaschine bedient oder wie man die Salatsoße mischt. In dieser Zeit waren sie im Entwicklungsdienst in Haiti und mein Bruder war auch dabei, der hat gemerkt, da stimmt was nicht.
Damals ist Marie José Groll erst Ende 60, sie arbeitet mit ihrem Mann und dem Bruder von Andreas Groll weit weg, eben in der Karibik auf der Insel Haiti in einem Hilfsprojekt. Als es schlimmer wird, zieht sie für ein halbes Jahr zu Andreas Groll und seiner Familie nach Stuttgart und sie wird lange untersucht. Am Ende bekommt sie die Diagnose Alzheimer – eine Form von Demenz.
Meine Mama ist auch katholische Theologin, war Lehrerin, eine ganz intelligente Frau, hat auch ein großes Netzwerk gehabt. Es war für sie eine schlimme Situation, das zu realisieren, dass sie dement wird. Dann hat sie richtige Depressionen bekommen und hat viel geweint. Irgendwann mal hat sie es aber dann angenommen, beziehungsweise hat es nicht mehr gemerkt, irgendwann vergisst man das ja dann.
Die Depressionen vergehen. Aber das Erinnern, das Sprechen und das Gleichgewichtsgefühl lassen auch immer mehr nach. Ich frage mich: Wie kommt man damit klar, dass jemand, der einem sehr nah steht, die eigene Mutter, vieles nicht mehr kann, viel vergisst und Raum und Zeit anders wahrnimmt. Für Marie José Grolls Familie ist es erstmal schwer. Wenn sie etwas verwechselt, dann will es oft jemand richtigstellen:
Mein Papa war am Anfang total ungeduldig mit der Mama, hat gesagt: Nein das stimmt nicht, da war nichts, da waren wir nicht oder das hast du doch gerade schon gesagt oder gemacht. Und das frustriert diese Menschen, wenn sie immer wieder damit konfrontiert werden.
Andreas Groll, seine Frau und sein Vater besuchen einen Kurs für Angehörige. Und lernen, dass es Menschen mit Demenz besser geht, wenn man sich auf ihre Wahrnehmung einlässt. Und nicht widerspricht. Das bringt sie weniger durcheinander. Und es geht im Kurs auch darum, welche Phasen von Demenz es gibt:
Also, die Krankheit schreitet fort, dadurch werden die Regionen im Hirn nicht mehr so funktionsfähig und irgendwann mal auch die Motorik.
Inzwischen ist Marie José Groll 82, sie lebt wieder in der Heimat im Landkreis Calw. Sie kann nicht mehr laufen und sich nicht mehr äußern, aber Andreas Groll findet, es ist irgendwie trotzdem ein guter Kontakt da:
Wie sie früher war, das ist nicht ja mehr da. Was geblieben ist, ist: Dass sie doch irgendwie so uns das Gefühl gibt, dass es ihr gut geht in der Situation wie sie ist, dass sie ja auch noch auf ihre Art teil hat am Familienleben.
Für Andreas Groll ist es so, wie es ist. Sagt er mir. Klingt irgendwie versöhnt, finde ich. Was ist sein Rezept dafür? Er erzählt mir erstmal, dass sein Vater das meiste übernimmt:
Das ist seine ganze Lebensaufgabe, die Mama zu pflegen, für sie da zu sein, sie anzuziehen, zu waschen, da wird alles, sogar der Salat gehäckselt mit dem Mixer.
Außerdem helfen der Pflegedienst und Betreuerinnen aus dem Bekanntenkreis und auch die ganze Familie: Andreas Groll und seine Frau wohnen nicht weit weg und auch seine vier Geschwister schauen, dass sie dem Vater unter die Arme greifen:
Wenn er mal woanders hin will, zu Freunden oder Bekannten oder jemanden anders, dass man die Mama nicht allein lässt, wir sind dann so die Brücke, bis er wieder nach Hause kommt.
Ein gutes und weites Netzwerk hilft, das höre ich bei Andreas Groll heraus. Er macht sich aber natürlich auch Sorgen. Er leitet die ökumenische Notfallseelsorge in Stuttgart und bei einem Einsatz musste er zum Beispiel in die Wohnung einer dementen Frau. Für sie da sein, als deren Mann plötzlich verstorben war:
Also ich war selber noch nie so betroffen in einem Einsatz wie da, weil da gleich der Film ablief, mein Gott, wenn es jetzt bei uns so wäre, Mama würde ganz allein im Bett liegen, keiner würde es merken oder erst später.
Ich habe davor einen großen Respekt. Er und seine Kollegen kommen sicherlich immer wieder in Situationen, die auch an ihnen selbst nagen. Wenn Rettungskräfte Menschen reanimieren oder Passanten Unfälle miterleben mussten:
Dann bleiben wir dort und halten diese Situation für die Menschen aus, dass sie irgendwann mal einen Hoffnungsschimmer bekommen, dass es trotzdem mit dem Leben weitergeht.
Ein Hoffnungsschimmer für ihn im Fall seiner Eltern ist es, dass sich sein Vater rechtzeitig meldet, wenn es ihm nicht gut geht. Und was ihm überhaupt auch hilft, ist sein Glaube:
Wir haben schon viele schwere Situationen durchgelebt und auch mit der Hilfe Gottes können wir hoffen, dass es irgendwie trotzdem weitergeht.
Das spürt er zum Beispiel, wenn er das, was ihn beschäftigt, in einem Gebet ansprechen kann. Dem katholischen Diakon Andreas Groll ist dabei auch der Gottesdienst am Sonntag wichtig, besonders der Moment, in dem er das Brot, den Leib Christi teilt und empfängt.
Wenn ich also einen Knoten auf der Brust habe und ich stehe am Altar, spätestens nach der Wandlung, merke ich so richtig, wie dieser Knoten von der Brust sich löst und ich meine ganzen Sorgen in den Kelch oder in die Hostienschale legen kann und ich dem Herrgott sage: Jetzt musst du es tragen, ich kann es nicht mehr.
Das kann ich gut verstehen. Wenn ich in einer Kirche eine Kerze anzünde oder im Gottesdienst den Friedensgruß von anderen um mich herum höre, dann geht es mir auch manchmal so. Es macht die Situation leichter – nicht immer, manchmal nur für eine Weile. Die Situation bleibt schwer, aber ich glaube, Gott hält sie mit mir aus.
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