SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

15JUL2023
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Gerade wollte ich noch einmal in die Pedale treten und richtig durchstarten. Aber dann sehe ich, wie die rote Ampel angeht, gleich darauf höre ich es bimmeln und schon senkt sich die Bahnschranke unaufhaltsam vor mir herab. Es hilft alles nichts. Ich muss warten.

Ich bin nicht der Einzige. Noch weitere Fahrradfahrer kommen und halten neben mir an. Auch Fußgänger. Viele Schüler. Hinter uns wächst eine Schlange von Autos. Es machen sogar alle den Motor aus. Und nun warten wir. Alle zusammen. Und doch jeder für sich. Für ein paar Minuten sind wir, lauter verschiedene Menschen, doch eine Art Gemeinschaft, im Warten vor dieser Bahnschranke, bevor wieder alle ihrer Wege gehen.

Jeder nutzt die Zeit auf seine Weise. Es ist ein schöner Tag. Manche nutzen die unverhoffte Pause für eine kleine Auszeit, halten der Sonne ihr Gesicht entgegen, genießen ihre Strahlen und die Wärme auf der Haut. Andere haben keine Geduld zur Muße, packen Handy und Kopfhörer aus und hören Musik. Ich denke mit Sorge an den Stapel von Arbeitsmappen und Ordnern in meinem Büro. Und was sonst noch alles zu erledigen ist. Dabei höre ich zufällig, wie sich zwei Schüler neben mir unterhalten. Der eine erzählt, dass seine Mutter für eine Woche ins Krankenhaus muss. Er muss sich dann um seinen jüngeren Bruder kümmern. Darauf hat er eigentlich keine Lust. Vielmehr macht er sich Sorgen um seine Mutter. Und dann sagt der Freund, dass er gerne zu ihm kommt, um ihm zu helfen, zu zweit ist alles leichter. Die beiden verabreden, dass er ihn nun jeden Nachmittag besuchen kommt. Dann rast der Zug vorbei und ich verstehe nichts mehr.

Meine Ungeduld legt sich und ich denke: so ein Moment des Wartenmüssens vor einer Bahnschranke ist im Grunde keine verlorene Zeit. Im Gegenteil. In diesen Minuten war es eine im wahrsten Sinne des Wortes heilsame Unterbrechung. Mitten im Hin und Her des hektischen Alltags auf der Straße. Mit einem Mal geschieht es, dass die einen Zeit finden, die Sonne zu genießen, andere Musik hören und ein Junge seinem Freund in einer schwierigen Situation seine Hilfe anbietet. Und für mich war es heilsam festzustellen, dass andere noch ganz andere Probleme haben als ich. Dann geht auch schon die Schranke wieder hoch und ich trete, wie alle anderen in die Pedale. Und sehe meinem Stapel Akten auf dem Schreibtisch gelassen entgegen.

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