SWR2 Wort zum Tag

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19JUN2023
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Zwei jüdische Dichter, die genau das Gegenteil sagen. Wem soll ich da glauben?

Zum einen Kohelet aus dem gleichnamigen Buch in der Bibel. Er sagt: „Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit zu hassen und eine Zeit zu lieben oder eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen.“

Auf der anderen Seite der im Jahr 2000 verstorbene Jehuda Amichai. Er sagt:

„Ein Mensch in seiner Zeit hat keine Zeit, um Zeit zu haben,

für jegliches Ding, Kohelet, der Prediger, irrt!

Er muß hassen und lieben zur gleichen Zeit,
mit den gleichen Augen weinen und lachen (…)
Er muß Liebe machen im Krieg und Kriege in der Liebe.“[1]

Wer hat jetzt Recht - Kohelet, der allem seine Zeit einräumt, oder Amichai, der sagt, dass alles gleichzeitig passiert? Ich denke beide auf ihre Weise.
Das biblische Buch Kohelet gehört zur Weisheitsheitsliteratur, und für mich steckt dort viel Weisheit drin. Das gleich gilt aber auch für das Gedicht von Amichai. Auch wenn die beiden Texte sich scheinbar widersprechen. Weisheit besteht nicht aus Sätzen, die richtig oder falsch sind, sondern sie zeigt sich darin, dass sie uns hilft, unser Leben gut zu meistern. Und da helfen mir beide Texte.

Kohelet fordert mich auf: akzeptiere, dass es unterschiedliche Zeiten in deinem Leben gibt. Manche davon sind angenehm, andere schwierig. Stell dich den schwierigen, du musst sie durchleben, manchmal auch durchleiden. Aber hoffe auch, dass es wieder anders wird. Die schönen Zeiten darfst du genießen. Koste sie voll aus, auch wenn dir bewusst ist, dass es nicht immer so weitergehen wird. Und nimm dir bewusst Zeit für das, was gerade ansteht. Sei mit den Gedanken nicht schon bei etwas anderem.

Das passiert mir allerdings öfter. Aber vielleicht hat das auch mit dem Leben zu tun. Das lese ich aus dem Gedicht von Jehuda Amichai. Das menschliche Leben ist so vielschichtig und komplex, dass es die Zeiten, von denen Kohelet spricht, selten in ganz reiner Form gibt, wie er behauptet. In Zeiten der Trauer gibt es Momente, in denen ich mich freue und vielleicht sogar herzhaft lachen kann. In schwierigen beruflichen Zeiten erlebe ich ganz besonders den Rückhalt von Freunden. Als ich mich über die Geburt unserer Tochter gefreut habe, hat mich zur gleichen Zeit die schwere Krankheit meiner Mutter belastet.

Diese Ambivalenzen gehören zu meinem Leben dazu. Sie zuzulassen und wahrzunehmen, den Schmerz in der Freude und die Freude im Schmerz nicht zu verdrängen, gibt dem menschlichen Leben Tiefe.

 

[1] Jehuda Amichai, Ein Mensch in seiner Zeit, in: ders., Zeit, Frankfurt 1998, S. 65

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37848
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