Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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17JUN2023
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Meine Mutter hat diese Woche mit ihrer Freundin telefoniert; mit Lotte. Die lebt im Osten von Deutschland. Lotte ist eine Freundin aus Kindertagen. Die beiden haben auch dieses Mal davon gesprochen, wie das war, als sie sich für sehr lange Zeit zum letzten Mal gesehen haben.

Das war kurz vor dem 17. Juni 1953. An diesem Tag gab es einen Aufstand in der damaligen DDR. Die Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone hatte sich gewehrt. Gegen schlechte Lebensbedingungen, gegen Enteignung und gegen die SED-Diktatur. Viele haben schon vorher gespürt, da liegt was in der Luft, die Situation wird schlimmer und deshalb haben sie versucht zu fliehen. Genau das war auch der Plan meiner Oma. Für sie und ihre drei Kinder hatte sich die Lage damals auf besondere Weise zugespitzt: Die Staatssicherheit hatte mitbekommen, dass die Familie katholisch ist und heimlich Gottesdienst feiert. Christen wurden in der DDR genau beobachtet, meine Mutter und ihre Geschwister wurden in der Schule deswegen sogar verhört.

Darum hat meine Oma geplant, aus ihrem Dorf zu fliehen. Alles musste heimlich geschehen. Wer erwischt wurde, der wurde eingesperrt, „Republikflucht“ lautete der Vorwurf. An jenem Tag also stand meine Mutter mit ihrer Mutter am Bahnsteig. In der Tasche die Ticktes nach Berlin. Die beiden großen Geschwister waren schon vorausgefahren. Kurz vor der Abfahrt dann eine Schrecksekunde; Lotte ist auch am Bahnhof, zufällig, und will mit ihrer Mutter in die nächste Stadt, einkaufen. Sie freut sich, ihre Freundin zu sehen und fragt: „Wohin fahrt ihr?“ Meine Mutter beißt sich auf die Lippen und antwortet ganz kurz: „Nach Berlin, zu Tante Martha, heute Abend kommen wir zurück“. Die Rückfahrtickets hatte meine Oma tatsächlich in der Tasche.

Knapp zwei Stunden später hatten sie es geschafft: Berlin, amerikanische Zone. Der Kontrolleur hat keinen Verdacht geschöpft. Sie waren extra ohne Koffer gefahren und hatten alles zurückgelassen an diesem Tag kurz vor dem 17. Juni 53. Bis meine Mutter ihre beste Freundin Lotte wiedersieht, wird es mehr als 30 Jahre dauern.

Meine Oma ist mit ihren Kindern damals von Ost- nach Westdeutschland geflohen. Heute fliehen Menschen aus der ganzen Welt zu uns. Es ist egal, von wo aus sich jemand auf den Weg macht, für alle gilt: Es braucht Mut, um zu fliehen und es ist schwer, neu anzufangen. Und, davon bin ich überzeugt: Niemand verlässt seine Heimat einfach so. Denn er lässt immer jemanden zurück. 1953 genauso wie 2023.

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