SWR1 3vor8

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29MAI2023
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„Ich bin keiner von euch und keiner von uns.“[1] Mit diesen Worten hat sich der Dichter Hans Magnus Enzensberger in einem frühen Gedicht dagegen gewehrt, vereinnahmt zu werden, weder von den anderen noch von den seinen. Allen Ansprüchen an sich setzt er ein selbstbewusstes „Ich bin“ entgegen: „Ich bin keiner von euch und keiner von uns“.
Um solcher Sätze willen bewundere ich ihn.

Er ist mir eingefallen, als ich an die biblische Szene dachte, die uns heute in den evangelischen Gottesdiensten vor Augen gestellt wird (Joh 4, 19-25). Jesus lässt sich hier nämlich auch nicht vereinnahmen.

Der Weg nach Hause führt ihn durch Samarien, um das jeder fromme Jude eigentlich einen großen Bogen macht. Das Verhältnis zwischen Juden und Samaritanern ist angespannt. Aber Jesus macht keinen großen Bogen, sondern läuft am helllichten Tag mitten durch das Dorf zum Brunnen. Ich bin keiner von euch und keiner von uns; ich bin ein Mensch, der Durst hat. Jesus muss etwas trinken. Er hat aber keine Kelle dabei, um Wasser zu schöpfen.

Eine Samaritanerin kommt vorbei und Jesus spricht sie an. Überraschend schnell entspinnt sich ein tiefes interreligiöses Gespräch zwischen den beiden. Niemand hätte das so schön planen können. Der Samaritanerin aber bleibt am Ende ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen wichtig: Wir beten Gott auf dem Berg Garizim an, sagt sie, ihr im Tempel in Jerusalem. Das stimmt. Da ist es wieder, das ihr und das wir. Ihr betet dort, wir beten hier.

Jesus aber ist keiner von euch und keiner von uns. Auch deshalb ist er von einer Sehnsucht beseelt, die glaube ich, viele Menschen heute teilen: Es kommt die Zeit und ist schon da, antwortet Jesus, in der es nicht mehr wichtig sein wird, an welchen Orten oder nach welchen Riten wir beten. Wichtig wird sein, dass wir auf Gottes Weise beten, dass wir ihm entsprechen, und nicht euch oder uns. Und Gottes Weise ist Geist und Wahrheit.

Ja, sagt die Samaritanerin, so wird das sein, aber erst, wenn am Ende der Messias kommt. Ich bin der Messias, sagt Jesus, und wir zwei sprechen doch heute hier am Brunnen spürbar im Geist und in der Wahrheit. Also kommt die Zeit und ist schon da.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Feiertag!

[1] Aus dem Gedicht „Schaum“, in: Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1950 – 2020

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