Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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27MAI2023
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Neulich ist es mal wieder passiert. Ich sitze in der S-Bahn, vertieft in irgendeine Sache, – und ein Mann stellt sich neben mich. Schäbig gekleidet, stumm, in der Hand ein Schild: „Habe Hunger, bitte helfen Sie mir.“

Ich weiß: In Zügen darf man nicht um Geld bitten. Und deshalb soll man auch nicht darauf eingehen. Manchmal kommt das sogar per Durchsage. Und diese Regel ist wahrscheinlich vernünftig. Mit einzelnen Münzen bekämpft man nicht die Ursachen von Armut. Es gibt ja andere Hilfsangebote durch den Staat oder auch die Kirchen. Und oft sind Leute auch nicht von sich aus unterwegs, sondern im Auftrag irgendwelcher anderer – und müssen oben abliefern, was sie bekommen.

Alles vernünftige Argumente. Stimmt alles. Aber in diesem Moment stand eben dieser eine Mensch neben mir. Und hatte mich konkret um Unterstützung gebeten. Und ich bin reich, habe genügend Geld. Soll ich jetzt lang und breit erklären, warum ich nichts gebe? „Was würde wohl Jesus tun?“ Ich bin natürlich nicht Jesus, aber als Christ doch mit ihm verbunden. Aus der Nummer komme ich also nicht raus.

Ich glaube: In solchen Situationen mache ich so oder so Fehler. Weil ich mich für irgendwas entscheiden muss. Und egal, wie – ich werde dem Menschen da vor mir und dem Gesamtzusammenhang nie komplett gerecht. Das will ich mir eingestehen.

Dazu gehört für mich, dass ich Leuten ins Gesicht schaue, die mich um Geld bitten. Nach Möglichkeit auch zuhöre, ein paar Worte wechsle. Weil sie Menschen sind, nicht irgendein moralisches Problem. Und weil ich ihnen auf Augenhöhe begegnen will, wenn wir schon so unterschiedlich viel haben.

In der einen Situation in der S-Bahn damals habe ich dem Mann dann etwas von meinem Proviant zu essen angeboten. Auch das ist natürlich keine richtige Lösung. Sondern kann bevormundend wirken – so, als ob ich schon genau wüsste, was mein Gegenüber braucht und was nicht. Für mich war es ein möglicher Weg in dem Moment. Und ich kann diese Entscheidungen ja immer nur für den Moment treffen.

Wann passiert es das nächste Mal? Und was tue ich dann? Ich weiß es nicht. Aber mich der Entscheidung stellen, das will ich.

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