SWR2 Wort zum Tag

16MAI2023
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Menschen mit einer genauen Beobachtungsgabe bewundere ich. Wie den Schriftsteller Wilhelm Genazino, der in diesem Jahr achtzig geworden wäre.

Tatsächlich gefällt mir sein Gespür für die winzigen Miniaturen des Alltags. Das kann die Beschreibung eines sanft herabsegelnden Ahornblattes sein. Ein spielendes Kind auf einem Balkon, das durch ein Guckloch auf die Welt schaut. Oder die Stille, die sich manchmal beim Schreiben am Schreibtisch einstellt. Und in der er gemeint hat, eine Sehnsucht nach Erlösung wahrzunehmen.

Dabei war Genazino ein Mensch, der sich in seinem Leben oft gerade nicht sonderlich wohl gefühlt hat. Sondern eingeklemmt, wie er notiert hat, „zwischen Katastrophenangst und Erlösungssehnsucht“.

Um dann aber doch immer wieder festzustellen: weder das eine noch das andere ist eingetreten. Stattdessen, das war so etwas wie sein Credo, kommt immer - der nächste Tag!

In dieser lakonischen Feststellung drückt sich ein Lebensgefühl aus, das vermutlich weit verbreitet ist. Ich kann mich jedenfalls darin ganz gut wiederfinden.

Mit dieser Beklemmung umzugehen, dafür hat Genazino seine eigene Strategie gefunden. Ich würde es eine Art Mystik des Alltags nennen. Sie schaut hinter die glatte Oberfläche des Alltäglichen. Und findet im Vordergründigen das Hintergründige.

So wie Jesus in der Bergpredigt. Der entdeckt  auch in den Lilien auf dem Felde, im Flug der Vögel, im Zug der Wolken die geheimnisvolle Schrift des Schöpfers. An jeden persönlich adressiert, der es sehen mag.

Tröstliche Momente sind das, in denen ich erlebe, dass im Alltäglichen das geheimnisvoll Verborgene aufleuchtet. Und aus dem Ernst des Lebens eine Heiterkeit aufsteigt, die aus der Schwerkraft des Alltags für einen Moment erlöst.

Ich glaube übrigens, dass man so eine poetische Beobachtungsgabe einüben kann. Und dann in der alltäglichen Realität immer wieder den Vorschein einer anderen Welt entdecken wird. Offen wird, wie Genazino notiert, für „die betörenden  Augenblicke“, in denen das Ich sich weitet und „die bedürftige Seele“ sich stärkt.

Ganz in diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute einen Tag mit vielen alltäglich-wunderbaren Entdeckungen!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37640
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