Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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19APR2023
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Im Krankenhaus habe ich einen schüchternen jungen Mann kennen gelernt. Er war sehr groß, ziemlich dick, und war wegen schweren Depressionen in die Klinik gekommen. Er erzählte mir seine Geschichte.

War bei einer Party gewesen und erst morgens früh zurück nach Hause gefahren, als die Sonne schon aufging. Im Dorfeingang kam ihm ein älterer Mann entgegen, vermutlich, um Brötchen zum Frühstück zu holen. Der Autofahrer war total nüchtern, kein Alkohol, keine Drogen, aber er war sehr müde nach der langen Nacht und wollte nur noch heim ins Bett.

Da kam es zu dem Unfall, bei dem der ältere Herr gestorben ist. Der junge Mann versuchte nach der Beerdigung, die Witwe zu besuchen und um Verzeihung zu bitten, aber die war so verzweifelt, dass sie das nicht tun konnte.

So trug er die Last mit sich herum und wurde immer schwerer, baute einen Schutzschild um sich auf und zog sich dahinter zurück.

Der Psychiater hatte ihn dann zur Krankenhaus-Seelsorge geschickt. So lernten wir uns kennen. Zusammen analysierten wir die Situation. Der Fehler war klein gewesen, das Unglück aber riesengroß: ein Mensch gestorben, die Witwe plötzlich allein und der Autofahrer -ein anderer Mensch als vor dem Unfall.

„Wenn Sie jetzt der Richter wären, würden Sie den Autofahrer zu einer schweren Strafe verurteilen?“, fragte ich den jungen Mann. „Nee, eigentlich nicht, es war keine Absicht...er hätte an den Straßenrand fahren sollen und ums Auto rumlaufen, damit er wieder wacher wird. Oder einen Kaffee besorgen.  Aber eine schwere Strafe? Eher nicht.“

„Glauben Sie, GOTT würde ihn bestrafen?“ war meine nächste Frage. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht, aber wir kamen gemeinsam zum Ergebnis, dass GOTT vermutlich auch kein strenger Richter sein würde. Dass ER gesehen hatte, wie schmerzlich der Unfall auch für den Autofahrer gewesen war und dass er sich selbst nicht verzeihen konnte. Wir gingen in die Kapelle und zündeten drei Kerzen an. Eine für den älteren Herrn, eine für seine Witwe und eine für ihn selbst.

Drei Jahre später traf ich ihn zufällig wieder. Groß, schlank, einen kleinen Sohn an der Hand. GOTTES Vergebung war offenbar in ihm wirksam geworden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37507
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