Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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30JAN2023
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Ein Kollege hat mir erzählt: Kurz bevor er aus dem Pfarrhaus seiner Gemeinde weggezogen ist, ist ein Nachbar angekommen und hat ihm eine meterlange Liste präsentiert. An der Haustür hat er seine persönliche Liste von Kränkungen vorgetragen, Papier um Papier. Ein nicht gefegter Bürgersteig war ebenso dabei wie zu langes Glockengeläut, ein zu flüchtiger Gruß ebenso wie falsches Parken. Gut 10 Jahre hat er fast jeden Tag aufgeschrieben, was ihn ärgert. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Liste zum Übeltäter zu tragen.

Im Deutschen gibt es ein Wort dafür, das heißt „nachtragend“. Wenn ich nachtragend bin, habe ich oft viel und lange an etwas zu tragen. Ich werde es nicht los und trage es mit mir rum. Manchen hilft es, etwas zu Papier zu bringen. Bei diesem Mann aber hörte das Nachtragen damit auch nicht auf. Mein Kollege war erschüttert: Einen so verbitterten Menschen hatte er selten erlebt. Nachtragende Gefühle, die können in einer Seele wirken wie Gift, schleichend, ohne dass einer es merkt.

Es gibt allerdings ein gutes Gegengift. Vergebung. Wenn ich vergebe, dann kann ich die Last ablegen, die ich nachtrage. Und die guten alten Qualitäten wie Barmherzigkeit, Nachsichtigkeit, Güte und Vergebung im Herzen pflegen. Und wenn es wirklich einen Grund zur Beschwerde gibt, ist auch dieses wichtig: Miteinander zu reden. Auch Wut darf man haben – aber möglichst nicht jahrelang anstauen. Damit ein Nachbar nicht irgendwann aus allen Wolken fällt, dass ein Anderer einen solchen Groll angesammelt hat, und so viele Kränkungen nachträgt. Statt verbittert zu werden besser früher miteinander reden. Ab und zu räumt das manches Missverständnis aus dem Weg, und spart Tinte und Papier.

Ich habe durch diese Geschichte selber angefangen zu schauen, wo ich nachtragend bin. Wo ein Gespräch, eine Geste oder etwas Nachsicht helfen könnte. Und ich hoffe, dass ganz andere Listen entstehen könnten – über das, was wir jeden Tag auch Gutes einander schenken, und wie wir aufrichtig und barmherzig miteinander umgehen können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36982
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