SWR2 Wort zum Tag

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21JAN2023
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Ich habe jede Menge ungelesener Bücher in meinen Regalen. Seit kurzem steht dort ein ganz besonderes, das mir sehr kostbar ist. Es ist das ungelesene Buch einer guten Freundin. Sie hat es mir zum Lesen ausgeliehen. Bevor ich es ihr zurückgegeben konnte, ist sie gestorben, zu jung und zu früh. Sie wird das Buch nicht mehr lesen können.

Einige Tage vor ihrem Tod waren wir noch bei ihr zu Besuch. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber ihr Mann hat mich durchs Haus geführt und mir die verschiedenen Bücherregale gezeigt. Voll mit vielen Büchern auf Deutsch, Spanisch und Französisch. Die meisten davon gelesen. Ich war sehr beeindruckt.

Jetzt im Nachhinein erscheinen mir diese Bücher wie ein Sinnbild – die gelesenen wie das ungelesene. Das ungelesene Buch steht für mich dabei für all die Dinge, die sie in ihrem Leben noch gerne gemacht und erlebt hätte, die ihr aber nicht mehr vergönnt waren. Das macht mich unendlich traurig, auch wenn ich an ihre Familie denke.

Der Blick auf die vielen anderen Bücher ist zunächst einmal genauso schmerzhaft. Er versinnbildlicht, was dieses Leben ausgemacht hat, und was alles verloren geht, wenn ein Mensch stirbt. Aber neben all dem Schmerzhaften zeigt sich darin auch etwas Tröstliches. Die Zeit, die sich zu kurz anfühlt, war reich und gefüllt.

Das ungelesene Buch in meinem Regal ist mir kostbar. Es erinnert mich nicht nur an die Freundschaft zu einem Menschen, den ich sehr geschätzt habe. Es erinnert mich auch daran, dass meine Zeit begrenzt ist, und ich nicht weiß, wie viel mir noch geschenkt wird.

Ich werde nicht alle ungelesenen Bücher in meinem Regal lesen können. Und ich werde nicht alle meine Träume und Pläne verwirklichen können. Und trotzdem ist es gut, dass es sie gibt, weil sie verheißen, dass es da noch etwas in der Zukunft gibt, was es zu tun und zu erleben gilt.

Aber das Wissen, dass es jederzeit aus sein kann, mahnt mich auch, mich immer wieder neu und bewusst zu entscheiden, was ich lesen und wie ich leben möchte.

Das Leben ist zu kurz um schlechte Bücher zu lesen. Und es ist auch zu kurz, um das, was mir wichtig und kostbar ist, ständig auf morgen zu verschieben.

Es gilt, dass Leben jetzt zu leben, und obendrauf gibt es da auch noch die Hoffnung, dass mit dem Tod vielleicht nicht alles vorbei ist. Vielleicht wird dann ja nochmal ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen.

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