Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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13JAN2023
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Wenn ich donnerstags abends von der Chorprobe nach Hause gehe, habe ich die Ohren und den Kopf voller Töne; ich höre uns noch lange mehrstimmig singen und der Weißwein nach der Probe: auch lecker. Der Weg zu meinem Haus geht bergab und ich komme ins Träumen.

So sind schon vor 102 Jahren Menschen durch unser Dorf gegangen. 1921 ist der Männergesangsverein gegründet worden, anfangs von 20 Männern in Kirchesch und 28 Männern in Waldesch, heute ein Dorf, ein Chor. Irgendwann hatten die Männer keinen Nachwuchs mehr. Sie öffneten sich – zum Teil widerwillig – für Frauen, deshalb darf ich in diesem ehemaligen Männergesangsverein mitsingen. Und jetzt fehlt auch uns der Nachwuchs und vielleicht wird nach 102 Jahren kein Chor mehr in Kirchwald singen. Sehr schade.

Wenn ich dann im Dunklen unterwegs bin, philosophiere ich mit mir selbst über die Vergänglichkeit des Lebens. Die Männer von 1921 sind alle tot, vielleicht leben ihre Kinder noch und bestimmt die Enkel. Die Männer sind zum Teil auf dem Friedhof zu finden. So wird man mich auch irgendwann dort finden und vielleicht erinnert sich dann jemand: die hat doch auch im Chor gesungen, als es den noch gab.

Wir haben ein sehr tiefsinniges Lied von Hubert von Goisern geübt. 

„Heast as nit, wia die Zeit vergeht
Gestern no' ham d'Leut ganz anders g'redt […]
Die Jungen san alt wordn
Und die Altn san g'storbn […]
Heast as nit, wia die Zeit vergeht.“*

Das klingt in meinem Kopf auf dem Weg nach Hause. Ich kann hören, wie die Zeit vergeht und ich weiß, dass die Alten gestorben sind und die Jungen – so wie ich – alt geworden sind und auch irgendwann sterben.

Ich finde es total beruhigend, nur ein Teil vom Kreislauf des Lebens zu sein. Es liegt nicht alles an mir, es geht weiter. 1921 ist auch mein Vater geboren, zu dieser Zeit gründeten die Männer in Kirchwald den Gesangverein.  Wenn ich nicht mehr auf dieser Welt bin, wird es noch Menschen in Kirchwald geben, die abends nach Hause gehen, mit oder ohne Chormusik.
Und ich freue mich dann im Himmel, dass es noch Musik gibt und Kirchwald und Menschen, die singen, notfalls in der Wanne.

* vgl. Hubert von Goisern und die Alpinkatzen: Heast as net

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36899
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