SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

02JAN2023
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Das neue Jahr ist erst zwei Tage alt und dauert noch 363 weitere. Das klingt nach viel, aber was ist schon ein Jahr gegen das längste Orgelkonzert der Welt? Es hat vor etwa 20 Jahren begonnen und soll noch 617 Jahre, 8 Monate und 3 Tage dauern. Wenn alles gut geht, ist es erst im Jahr 2640 zu Ende.

Das Ganze ist ein faszinierendes Projekt: Das Stück, das aufgeführt wird, hat der Amerikaner John Cage komponiert. Er hat oben über die Noten geschrieben, dass man so langsam wie möglich spielen soll, „as slow as possible“. 1998 haben Musikwissenschaftler diskutiert, was das heißt. Und daraufhin haben musikbegeisterte Menschen dieses Projekt in einer Kirche in Halberstadt in Sachsen-Anhalt gestartet. Weil das Stück so langsam gespielt wird, ändert sich der Klang nur alle paar Monate. Oft vergehen sogar Jahre zwischen zwei Klangwechseln. Die Orgel wurde extra für dieses Musikstück gebaut, denn keine Organistin könnte tagelang dasitzen und eine Taste drücken. So sorgen kleine Sandsäcke dafür, dass die Töne rund um die Uhr erklingen. Das scheint ein ziemlich langweiliges Konzert zu sein und zieht doch tausende Besucher an.

Mich fasziniert vor allem die zeitliche Dimension des Konzerts, es ist ja auf sage und schreibe sechshundert Jahre angelegt. Wenn ich darüber nachdenke: Vor 600 Jahren waren wir im ausgehenden Mittelalter. Falls das Experiment in Halberstadt glückt: Wie wird das Leben der Menschen im Jahr 2640 sein? Ich hinterfrage mein eigenes Verhältnis zur Zeit, denn das Musikstück ist das krasse Gegenteil von Schnelllebigkeit und Termindruck. Man kann das Gefühl bekommen, dass die Zeit dort in der Kirche von Halberstadt still steht.

Ein bisschen geht es mir auch so, wenn ich eine alte Burgruine oder Kirche besichtige. Ich bekomme eine Ahnung davon, was es heißt, Teil von etwas Größerem zu sein. Ich denke an diejenigen, die vor mir gelebt haben und an die Generationen, die nach mir kommen. Und mir begegnet Gott in diesem Gefühl. Weil ich glaube, dass Gott der Anfang und das Ziel von allem ist. Solche Orte, an denen mir diese Dimension von Zeit bewusst wird, haben etwas Heiliges. Sie schenken eine Ahnung von der Ewigkeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36826
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