SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

17NOV2022
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Vor ein paar Wochen hat mich einee-mail erreicht. Die Kantorin unserer Kirchengemeinde lädt ein, beim Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach mitzusingen.

Ich habe die mail weggeklickt. Ich singe zwar wirklich gern. Und eigentlich mag ich ja schon auch das Weihnachtsoratorium. Aber singen, jetzt? „Jauchzet, frohlocket…“? In den Tagen ging durch die Medien, dass Russland wieder überall in der Ukraine Raketen abwirft. Bilder von zerstörten Häusern, von weinenden Menschen, die alles verloren haben, vielleicht sogar ihre Liebsten. Bilder von den Särgen russischer Soldaten, die kurz nach ihrer Einberufung nach der Teilmobilmachung nach Hause zurückkehren. Tot. Und wieder weinende Menschen.

Singen, jetzt? Mir kam diese Einladung falsch vor. Ich hatte das Gefühl, mir würden die Töne im Mund absterben. Eine freudige Jubelbotschaft verkünden, jetzt, in dieser Welt voller Hass und Trauer. Nein.

Aber dann habe ich eine Radiosendung[1] gehört, in der es u.a. um die Situation der Menschen in Kiew geht. Man hört Detonationen im Hintergrund, Menschen schreien und rennen. Und dann hört man: Gesang. Der Reporter erzählte: Die Menschen dort, die während der Luftangriffe Schutz in einer U-Bahn-Station suchen, singen. Sie singen gegen die Angst. Tapfer. Kräftig. Und wunderschön. In dem Radiobericht hört man wohl Volkslied, das sehr bekannt ist. Immer mehr Stimmen fallen ein. Leider verstehe ich kein Ukrainisch. Aber es hörte sich traurig an, sehnsüchtig und zugleich stark.

Kennen Sie das „andere Osterlied“ von Kurt Marti und Peter Jannsens[2]? Der Gesang der Menschen in Kiew hat mich daran erinnert:

Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte

vergessen wäre für immer.

Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.

Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
‚ist schon auferstanden und ruft uns nun alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren.

Vielleicht gehe ich doch zur Chorprobe. Zum Singen. Gegen die Angst.

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[1] Streitkräfte und Strategien, NDR-Info, Vergeltung für die Krim-Brücke, gesendet am 10.10.2022.
[2] Reformiertes Gesangbuch (RG), Nr. 487.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36536
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