SWR4 Feiertagsgedanken

SWR4 Feiertagsgedanken

01NOV2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Über eine Million Mal ist er verkauft worden: Martin Luther – als Playmobil-Figur. Martin Luther im Plastik-Talar und mit Feder und Bibel in der Hand. Keiner kann da mithalten. Keine Playmobilfigur wurde je so oft verkauft.

„Darf man das?“ haben manche seinerzeit gefragt: Den großen Reformator als kleine Spielfigur vermarkten und ein Spielzeug aus ihm machen? Ich denke:  Dem Ernst tut’s keinen Abbruch. Und Humor schadet sowieso nicht. Auch nicht in der Kirche.

Der berühmteste Satz von Martin Luther hat es sogar auf Socken geschafft: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Das ganze Selbstbewusstsein des protestantisch-trotzigen Reformators liegt in diesem Satz. Mit ihm wurde Martin Luther für die einen zum Mythos, für die anderen zum evangelischen Heiligen. Das kam so:

Vor 501 Jahren ist Martin Luther nach Worms zum Reichstag zitiert worden. Dort wurde er kurz und knapp zu seinen Schriften befragt. Luther hatte darin dem Papst widersprochen. Das war damals ungeheuerlich! Und es war gefährlich! Luther wusste, dass er dafür vor Gericht landen konnte, aber er konnte und wollte sie nicht widerrufen. Er war davon überzeugt: Der Mensch ist vor Gott uneingeschränkt wertvoll. Und Christenmenschen können und sollen das, was sie in der Kirche erleben, kritisch an der Bibel prüfen. Selbst wenn es Worte des Papstes sind. Daran hat Martin Luther unverrückbar festgehalten.

Martin Luther vor dem Kaiser und seinen Leuten in Worms. Das ist eine legendäre Szene aus seinem Leben. Unzählige Kunstwerke zeigen sie.  Mit ihr verbindet sich vieles, was engagierte Christenmenschen sich auf die Fahnen geschrieben haben – von bürgerbewegten Protestanten bis zu aufrechten Verfechterinnen von Maria 2.0: Zivilcourage und Geradlinigkeit. Und der lautstarke Einsatz dafür, dass die Kirchen sich immer wieder reformieren müssen. Martin Luther ist zu einem Vorbild für authentisches und standhaftes Eintreten für eigene Überzeugungen geworden, eben für jene Sturheit, die mehr mit Beharrlichkeit als mit Bockigkeit zu tun hat.

Martin Luther selbst muss sehr stolz auf seine Standhaftigkeit gewesen sein. Sein Leben lang hat er immer wieder über die Szene in Worms erzählt.

Und wie das so ist mit den Geschichten, die wir aus unserem Leben erzählen – sie wurde immer größer, er wurde immer standhafter und der Satz am Ende des Verhörs immer donnernder. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.

Die Geschichten, die Menschen aus ihrer Erinnerung erzählen, verändern sich mit der Zeit. Das Erlebte wird intensiver, schöner und dramatischer. Das war auch beim Reformator Martin Luther nicht anders. Im Laufe der Zeit verändert sich der Blick auf das, was ich erlebt habe. Die Geschichten meines Lebens verändern sich. Aus der harmlosen Episode am Rand des Schullandheims wird eine atemberaubende Mutprobe. Die Zufallsbegegnung mit weitreichenden Folgen wird zur großartigen Liebesgeschichte. Die Geschichten verändern sich, weil sich meine Sicht darauf verändert. Meist zeigt sich ja erst im Nachhinein, welche Momente im Leben Schlüsselmomente waren.

Das war bei Martin Luther nicht anders. Je älter er wurde, desto bedeutsamer kam ihm sein Auftritt beim Wormser Reichstag vor.

Dabei war der Luther der Tage in Worms nicht so sehr das unerschütterliche Mannsbild, sondern eher das mit sich und Gott ringende Mönchlein, das unter Magen- und Verdauungsbeschwerden litt.“

In unserer Erinnerung wird eben vieles größer. Manchmal wird es auch einfacher. Ich glaube, dass wir in diesen Tagen die Bereitschaft zum zweiten Blick brauchen. Wir brauchen den Mut, genauer hinzusehen und der Versuchung zu widerstehen, auf komplexe Fragen einfache Antworten zu geben. Es wäre so viel einfacher, wenn es Menschen gäbe, die sich dem Bösen unerschütterlich entgegenstellen. Mutige Kraftprotze, die wir dann zu Helden und Heiligen erklären. Aber Martin Luther ist für mich kein Heiliger, schon gar nicht ist er unerschütterlich.

Erst 300 Jahre nach dem Ereignis in Worms wurde Martin Luther zum unerschütterlichen Mannsbild. Da wurde nämlich die Bronzestatue von Johann Gottfried Schadow geschaffen und auf den Marktplatz in Wittenberg gestellt. Sie ist das Vorbild der millionenfach verkauften Playmobilfigur. Aber heilig ist Martin Luther nicht.

Heilig sind für mich die Erschütterten und die Ringenden, die Zweifelnden und die Sehnenden, die, die an der Hoffnung trotz allem festhalten, die Verletzlichen und die Verletzten. Sie alle tragen an sich etwas von Gottes Glanz und von seiner Heiligkeit. So sind sie alle Heilige. Heute und an allen anderen Tagen des Jahres.

Ich wünsche Ihnen einen glänzenden Sonntag und eine gesegnete Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36421
weiterlesen...