SWR2 Wort zum Tag

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29OKT2022
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Manchmal bin ich so richtig „grätig“. Für alle, die mit diesem Wort nichts anfangen können: „grätig“ bedeutet in diesem Zusammenhang: „schlecht gelaunt“. Ich habe das Wort bis vor einiger Zeit nicht gekannt. Gelernt habe ich es von Michi, einer guten Freundin. Seitdem mag ich „grätig“ - also den Ausdruck, nicht den Zustand. Der ist nämlich echt doof.

Wenn ich „grätig“ bin, dann bin ich irgendwie mit allem unzufrieden - mit der Welt und mit mir selbst. Auf das was ich machen soll, habe ich keine Lust. Entweder erledige ich es missmutig oder aber ich beschäftige mich stattdessen mit irgendwelchen anderen Sachen, und am Ende bin ich noch unzufriedener als davor. Menschen in meiner Umgebung fällt es dann besonders leicht, mich zu nerven. Und meistens tun sie es auch.

Manchmal ahne ich, was mich so unzufrieden macht, manchmal aber weiß ich gar nicht auf Anhieb, warum ich so schlecht drauf bin.

Und dann hilft mir das Wort „grätig“. Weil ich damit einen Ausdruck habe, um mir selbst zu sagen: So ist es gerade – Du bist „grätig“. Das macht es tatsächlich schon ein kleines bisschen besser. Ich bin diesem Zustand nicht mehr ganz so ausgeliefert, weil ich ihn benennen kann. Ich kann ihn wahrnehmen als eine Stimmung, die mich gerade beherrscht, und die ich nicht so einfach abstellen kann. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass sie auch wieder enden wird.

Das kann mich davor bewahren, spontanen Impulsen zu folgen, wenn ich „grätig“ bin. Sei es, jemandem mal so richtig die Meinung zu sagen und dadurch zu verletzen. Oder eine Sache einfach hinzuschmeißen, weil mich gerade alles ankekst.

Es ist nicht gut, diesen destruktiven Impulsen unmittelbar nachzugeben – aber trotzdem sind die Impulse wertvoll. Wenn ich sie aufmerksam wahrnehme, können sie mir zeigen, wo gerade etwas schiefläuft. Oft sind sie gefühlt ganz schön heftig, aber vielleicht sind sie das, weil ich sie sonst ignorieren würde.

Meine Schlechte-Laune-Impulse signalisieren mir, wo ich handeln sollte: mit wem ich mal in Ruhe ein Gespräch führen müsste, um ihm oder ihr zu sagen, wie es mir gerade mit unserer Beziehung geht. Oder in welchen Bereichen ich Dinge verändern möchte, um zufriedener mit mir selbst zu sein.

Aber dazu muss ich erstmal aufhören „grätig“ zu sein. Inzwischen weiß ich ganz gut, was mir dabei hilft. Sport zum Beispiel, oder aber mit einer guten Freundin wie Michi zu telefonieren, der ich ganz offen sagen kann, wie „grätig“ ich gerade bin.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36402
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