SWR2 Wort zum Tag

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28OKT2022
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Seit Anfang Oktober ziert ein Schriftzug das Fenster der Propsteikirche in Leipzig. In großen weißen Buchstaben steht dort: „22 ist nicht 89“ – Eine Anspielung auf die Jahre 2022 und 1989. Und etwas kleiner steht in rot darunter: „Wir leben in keiner Diktatur.“ Das Fenster zeigt zum Innenstadtring. Dorthin, wo im Herbst 1989 die Montagsdemonstrationen vorbeigezogen sind, bei denen die Teilnehmenden friedlich für Reformen und mehr Freiheit in der DDR demonstriert haben.

Auch 2022 gibt es wieder Montagsdemonstrationen in Leipzig. Ein großer Unterschied zu damals: wenn die Demonstrierenden friedlich bleiben, dann brauchen sie nicht zu fürchten, dass sie verhaftet werden. Das war 89 anders: Niemand wusste, was passieren würde. Die Menschen mussten damit rechnen, dass sie verhaftet, verhört, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt werden. Oder dass die Volkspolizei den Befehl bekommt, alle niederzuknüppeln oder scharf zu schießen.

Auf diesen entscheidenden Unterschied soll der Schriftzug aufmerksam machen: „22 ist nicht 89“. Das soll verhindern, dass heutige Gruppierungen die friedlichen Demonstrationen von damals unrechtmäßig für ihre eigenen Ziele vereinnahmen.

Als ich im Internet von der Aktion lese, bin ich erst wenige Tage zurück aus Leipzig. Dort habe ich die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Zentrale besucht und mit einem Dominikanerpater gesprochen, der damals bei den Friedensgebeten und den Montagsdemonstrationen dabei war.

Beeindruckt hat mich darüber hinaus die Ausstellung „Demokratie ist kein Denkmal“, die auch virtuell im Internet zu sehen ist.[1] Sie zeigt Videos, in denen Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR und syrische Aktivisten des sogenannten Arabischen Frühlings den Besuchern von ihren Erfahrungen berichten. Die sind teilweise ähnlich, aber es gibt einen großen Unterschied: Im Gegensatz zur friedlichen Revolution in der DDR ist der arabische Frühling in Syrien brutal niedergeschlagen worden.

Und nicht nur in Syrien, sondern in vielen anderen Ländern der Welt ist es im Jahr 2022 lebensgefährlich, Kritik an der Regierung zu äußern und Veränderungen einzufordern: Iran, Myanmar, Hongkong, Belarus, Russland sind nur einige Namen einer viel zu langen Liste.

Diese Beispiele zeigen, Demokratie ist nicht selbstverständlich. Wir müssen sie täglich neu aushandeln, gestalten und verteidigen. Für Deutschland gilt: „Wir leben in keiner Diktatur.“ Gott sei Dank. Aber es ist unsere Verantwortung, dass es so bleibt. Und wir sollten solidarisch mit all jenen sein, die hoffen und sich dafür einsetzen, dass dieser Satz in der Zukunft auch auf ihr Heimatland zutrifft.

 

[1]https://www.demokratie-kein-denkmal.org/virtuelle-ausstellung#289220

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36401
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