SWR Kultur Wort zum Tag

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26AUG2022
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„Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß“ – jetzt ist eine gute Zeit, das wunderschöne Gedicht von Rilke zu meditieren. In seinen Zeilen schwingt durchaus Wehmut mit, die Erinnerung an heiße Sommertage, an laue Abende, an alles, was einen Sommer groß gemacht hat. Zugleich erscheint es dem Dichter jedoch auch stimmig, dass der Sommer zu Ende geht, die Zeit erfüllt ist. Der Blick kann sich nach vorne richten, auf den Herbst. Selbst Gott hat nach Ansicht Rilkes nur noch Weniges zu tun: „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein, gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein“. Dann wird der Sommer endgültig vorbei sein. An Rilkes Gedicht gefällt mir, dass der Übergang der Jahreszeiten so bewusst wahrgenommen und beschrieben wird. In der Tat scheint es mir, als ob in den letzten Sommertagen die Luft am Morgen schon ein wenig nach Herbst schmeckt, nach reifen Pfirsichen und Trauben. An diesen letzten Tagen im August möchte ich daran denken, was gerade in meinem Leben seine Sommerzeit vollendet und sich auf den Herbst vorbereitet. Vielleicht bin ich ein wenig traurig darüber, dass diese Tage nun vorbei gehen oder sogar schon vergangen sind. Zugleich kann ich spüren, dass etwas seine Zeit hatte und es nun gut ist. Ich kann eine Lebensphase ausklingen lassen und die Früchte meiner Arbeit genießen. Mag sein, dieser Herbst wird mir nachdenkliche Stunden bereiten, in denen ich wache, lese und lange Briefe schreibe, spazieren gehe und die Blätter um mich treiben lasse.

Rilkes Gedicht ist ein Gebet: „Herr, es ist Zeit! Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren lass die Winde los.“ Der Dichter legt die Jahreszeiten seines Lebens in die Hand Gottes. Und ich spüre, dass mir diese Haltung auch gut tut: Sommer, Herbst, Winter und Frühling meines Lebens aus Gottes Hand zu nehmen und ihm auch wieder zurück zu geben. Doch auch, wer keinen Gottesbezug in den Jahreszeiten seines Lebens wahrnehmen kann oder will, kann spüren: Es kann im Leben nicht immer Sommer sein, es ist sinnvoll, dass das Leben so abwechslungsreich ist wie die Jahreszeiten. Ein ständiger Sommer wäre unsäglich langweilig. Ich bin jedenfalls neugierig darauf, was nun kommen mag, bin gespannt auf das, was Gott mit mir vorhat. Und bete, mit Rilkes Worten: „HERR, es ist Zeit.“

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