SWR1 Begegnungen

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03JUL2022
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Margot Friedländer Foto: Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann trifft die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer

Ich treffe die Zeitzeugin in Berlin, wo sie vor über 100 Jahren auch geboren wurde. Eine warmherzige und hellwache Person, die das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte überlebt hat. Sie nimmt mich mit in den Januar 1943, als ihr Bruder Ralph von der Gestapo abgeholt wird.  Margot Friedländer wendet sich verzweifelt an Freunde der Familie:

Die Dame öffnete die Tür. Und ich fragte: „Wo ist Mutti?“ Sie hat gewartet bis ich in der Wohnung bin und sagte zu mir: „Die Mutti ist gegangen, sie hat eine Nachricht für dich hinterlassen.“  Die Nachricht ist: „Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche dein Leben zu machen.“ Diese Worte sind das gewesen, was mich die ganze Zeit im Überleben begleitet hat.

Diese Worte, eine Bernsteinkette und ein kleines Adressbuch als Hilfe für die Flucht ist das Einzige, was Margot Friedländer von ihrer Mutter bleibt. Sie hat es bis heute aufbewahrt und zeigt mir die kostbaren Erinnerungen. Genauso wie den Judenstern, den sie auch an jenem Tag tragen musste, als sie sich entschieden hat in den Untergrund zu gehen. Doch wo soll sie hin? Sie kennt nur andere Juden, also macht sie sich auf zu Siggi Hirsch, einem Freund:

Beim Abendessen hat mir Siggi ein Papier in die Hand gedrückt und gesagt: Das ist die Adresse von jemand, der dich verstecken will-merk dir die Adresse und schmeiß den Zettel weg. Das war mein erstes Versteck und viele, viele haben sich angereiht- mit mehreren Tagen, auch Wochen oder eine Nacht.  

16 Mal wurde Margot Friedländer von wildfremden Menschen versteckt –eine Urerfahrung, die sie nie vergessen wird: 

Dass ich zu dieser schweren Zeit Menschen hatte, die etwas getan haben, was schwer verboten war! Sie haben mir geholfen, weil sie gesagt haben: ich bin ein Mensch, und Menschen hilft man.  Es hätte sie den Kopf kosten können. Aber sie sind Menschen geblieben, deshalb sage ich: Mensch sein ist das Wichtigste.

Wie gefährlich das für die Helferinnen und Helfer im Untergrund war, wird mir bewusst, als mir Margot Friedländer von einer ihrer Stationen bei einer Helferin erzählt:

Und es klingelte eines Tages. Da alle anderen busy waren bin ich zur Tür gegangen und hab aufgemacht und die Gestapo war da – es war kein Licht im Korridor, ich hab die Tür sofort angelehnt, bin zurückgelaufen und hab ihr gesagt: „Gestapo!“ Ich bin auf den Balkon gestiegen-die haben Hochparterre gewohnt- und bin runtergesprungen. Eine gewisse Zeit später höre ich ihre Stimme auf dem Balkon nach mir suchen und sie erzählte mir, dass man sie gefragt hat: „Das Mädchen, das die Tür aufgemacht hat?“, und sie hätte gesagt sie wars.  

Vor 79 Jahren konnte sie sich zunächst vor den Nazis verstecken, wurde schließlich aber doch aufgegriffen und in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Besonders perfide: Margot Friedländer wird dort gezwungen in einem Propagandafilm der Nazis mitzuspielen, der dem Roten Kreuz damals suggerieren sollte, dass es im KZ menschlich zugehe:

Wir sind in ein Kaffeehaus gebracht worden, das sonst nur für die SS war, man hat uns da Tassen hingestellt, als ob wir Kaffee kriegen. Man hat ein Pavillon gebaut, aus Glas, wo die Kinder spielen sollten - man hat die Kinder reingesetzt, dann ist die Kommission mit ihrem Lagerleiter gekommen und die Kinder mussten „Onkel“ zu ihm sagen: „Heute gibt es schon wieder Sardinen?“ Niemals gab es Sardinen!

Obwohl ihre Familie von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde und sie während des Holocaust unfassbare menschliche Abgründe erleben musste, hat sie den Glauben an das Gute im Menschen bis heute nicht verloren:

Ich habe Menschen sehr gerne. Ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist.

Ich frage Margot Friedländer, ob sie noch an einen Gott glauben kann und ihre Antwort berührt mich sehr:

Ich glaube an Gott, ich glaube an eine höhere Macht. Das gibt mir sehr viel Kraft -ich bete auch jeden Abend ein kleines Gebet, vielleicht freut er sich darüber.

Ich glaube, dass sich dieser Gott vor allem darüber freut, dass Margot Friedländer auch mit 100 Jahren noch Menschen für Menschlichkeit sensibilisiert, etwa indem sie Schülerinnen und Schülern aus ihren Erinnerungen vorliest:

Wenn ich das Buch zumache sage ich zu den Menschen: Nachdem was ihr gehört habt, werdet ihr euch vielleicht wundern, warum ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen, bei euch zu bitten, dass ihr diejenigen sein sollt, die für uns sprechen, wir können es nicht mehr lange.

Und angesichts von Antisemitismus und Rassismus gibt sie den jungen Leuten noch etwas mit auf den Weg:

Und was ich zu Schülern sage: Seid Menschen. Ganz egal, ob du jüdisch, christlich oder Muslim bist – du bist Mensch! Ihr könnt nicht alle lieben, müsst ihr auch nicht, aber Respekt-gebt Menschen einen Respekt, denn wir kommen ja alle auf dieselbe Art und Weise auf diese Welt, alle, alle!

Auch nach einem Jahrhundert denkt sie deshalb noch nicht ans Aufhören: 

Ich bin immer noch neugierig! Solang es geht, geht’s. Ich bin noch hier und kann ein bisschen was tun. Ich habe den Wunsch meiner Mutter erfüllt: „Versuche dein Leben zu machen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35723
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