Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ich sitze im Zug und habe eine gute Stunde Zeit. Mein Buch habe ich schon ausgepackt. Kurz bevor der Zug losfährt, kommt eine kleine Gruppe junger Leute in den Wagon. Mit einer Kiste Bier, zwei Schnapsflaschen und einem tragbaren Cd-Player. Nach kurzer Zeit ist es so laut, dass an lesen nicht zu denken ist. Stattdessen bin ich damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was ich erlebe. Da sitzen vier junge Männer in Lederhosen und weißrotkarierten Hemden und zwei junge Frauen im Dirndl. Vormittags um 11 Uhr trinken sie Bier und Schnaps als wäre es Wasser, hören Musik und unterhalten sich dabei so laut, dass jeder andere Fahrgast zuhören muss.

Sie verhalten sich so, als wären sie alleine. Als gäbe es all die anderen um sie herum nicht. Als hätten sie das Recht eine Gruppe von schätzungsweise 100 Reisenden schlicht zu ignorieren.

Keiner der Mitreisenden sagt was. Ich gehe innerlich die  Möglichkeiten durch, die ich habe. Aufstehen und in einen anderen Wagon wechseln hab ich versucht. Dort war es nicht anders. Offenbar waren noch mehr junge Leute unterwegs nach Stuttgart auf den Wasen. Ich war stinksauer. Am liebsten hätte ich wutentbrannt meine Meinung gesagt. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich damit nichts erreichen konnte außer ausgelacht zu werden. Dann hab ich mich gefragt, wie es dazu gekommen ist, dass sich Menschen heute manchmal so verhalten. Vor 20 Jahren wäre so eine Situation unvorstellbar gewesen. Während ich mir klar gemacht habe, dass es sich bei den jungen Leuten nicht um bösartige Wesen handelt, bin ich wieder ruhiger geworden und habe mich entschlossen, sie doch anzusprechen. Ich habe freundlich aber bestimmt gesagt, dass ich mich gestört fühle und sie darum gebeten, sich bewusst zu machen, dass im Zug noch andere Menschen sitzen. Eine der jungen Frauen hat mich immerhin noch wahrgenommen und verschämt geschaut. Die anderen hatten eindeutig schon zu viel Alkohol um sich angesprochen zu fühlen.

Ich will den sechs jungen Leuten nicht die Schuld für ihr unsoziales Verhalten in die Schuhe schieben, einfach auf sie schimpfen und den moralischen Zeigefinger schwingen. Aber ich kann die Situation auch nicht vergessen. Es muss sich etwas ändern.

Aber was? Eine einfache Antwort darauf finde ich nicht.

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