SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Hat der Mensch eine Seele? Von dem berühmten Berliner Chirurgen Rudolf Virchow wird der Satz überliefert „Ich habe Hunderte von Menschen operiert und nie eine Seele gefunden." Wer gewohnt ist, mit fassbaren Organen umzugehen, dem fällt es schwer, an die Realität von etwas zu glauben, das sich nicht auf dem Röntgenschirm oder unter dem Mikroskop beobachten lässt.
Denn die Seele ist nicht fassbar. Schon Nietzsche meinte: "Man hat ein Nervensystem, aber keine Seele". Und einige moderne Hirnforscher sind der Ansicht, mit der Erklärung des Gehirns auch die Seele erklärt und als eine Funktion des Gehirns begreiflich machen zu können.
Aber bleibt da nicht etwas Unverzichtbares, wenngleich schwer zu Fassendes? Denn was ist gemeint, wenn wir sagen, dieser oder jener Mensch sei eine gute „Seele"? Wieso suchen Menschen mit seelischen Problemen einen Seelenarzt oder Seelsorger auf? Warum funken sie in höchster Lebensgefahr SOS - save our souls - rettet unsere Seelen? Und wie kommt es, dass unser Grundgesetz dem Sonntag als dem „Tag der seelischen Erhebung" einen besonderen Schutz gewährt?
Ein Blick in die Bibel hilft mir weiter. Da steht Seele für das, was den Menschen ausmacht. Für seine ganz und gar persönliche Art, er oder sie selbst zu sein. Und mehr noch, Seele steht für das, was in ihn hineingelegt ist und durch ihn hindurchströmt wie sein Atem. „Adam ward zu einer lebendigen Seele", heißt es einmal in der Bibel.
Wir erleben es ja auch: Der ganze Mensch erkrankt, wenn die Seele krank wird. Wenn sie aus der Balance gerät, trifft das unser Fundament. Und umgekehrt gilt: Was die Seele erfrischt und belebt, macht uns munter, lässt uns tanzen und springen und manchmal vor Freude die ganze Welt umarmen.
Was mir an dem biblischen Konzept gefällt, ist, dass dort „Seele" den ganzen Menschen meint. Die Seele als Mitte des Menschen. Als ihn beseelender Lebenshauch.
Das wirkt auf mich heute sehr aktuell und gut verträglich mit dem modernen Bild vom Menschen. Denn unser Leben lässt sich nicht aufteilen in Schubladen. Wir haben im Grunde auch keine Seele, neben allem Möglichem anderen. Sondern: ich bin meine Seele. Genau das kommt zum Ausdruck, wenn SOS gefunkt wird und Menschen nach Rettung rufen. Oder wenn die Einwohnerzahlen von Dörfern und Städten nach Seelen berechnet werden.
Die Seele ist nicht abziehbar von uns, sondern ein Hinweis darauf, dass das Entscheidende meines Lebens nicht fassbar ist in Begriffe oder Schaubildern. Dass ich mein Leben nicht allein aus mir heraus verstehen kann. Die Seele ist mir eingehaucht als Lebensgeist. Sie ist darum auch das, was unzerstörbar ist an mir und bleibt.
In der Vielfalt dessen, was über die Seele gesagt wurde und gedacht werden kann, finde ich das biblische Verständnis von Seele hilfreich. Demnach ist die Seele mir so nah und so fern wie Gott mir nah und zugleich fern ist. Ich spüre sie, wenn ich trauere, und ich spüre sie dann, wenn ich ganz lebendig und wach bin.
„Warum betrübst du dich meine Seele, und bist so unruhig in mir?" heißt es einmal in einem Psalmgebet. Und an einer anderen Stelle: „Wach auf meine Seele, ich will das Morgenrot wecken".
Danke, liebe Seele, sage ich darum, dass du mich lebendig erhältst in den Krisenzeiten wie den Hoch-Zeiten meines Lebens. Dass du mich belebst, wie ein frischer Wind. Und nun komm, lass uns das Morgenrot wecken!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13662
weiterlesen...