Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit" - diese etwas seltsame Diagnose wird dem griechischen Philosophen Plato zugeschrieben. Demzufolge laufen gerade jetzt im Wonnemonat Mai viele Irre in der Gegend herum. Am meisten gestört wäre wohl der liebe Gott, denn „Gott ist Liebe, und alle Liebe stammt aus Gott", meint die Bibel (1. Johannesbrief 4,7). 
Nun - so ganz daneben liegt Plato mit seinem psychiatrischen Gutachten auch wieder nicht: Wer liebt, verliert schon mal den Verstand, dem hat es den Kopf verdreht, er ist liebestoll, weiß der Volksmund. Ja - Liebende sind in des Wortes wahrsten Sinn „Ver-rückte", herausgerückt aus der Logik der Vernunft und dem nüchternen Kalkül. Denn Liebe ist kein Geschäft auf Gegenseitigkeit, sie ist nicht berechenbar. „Gell. Mama, du liebst mich einfach wegen nix", sagt die vierjährige Anja zu ihrer Mutter und bringt auf den Punkt, was Liebe ist: ein Geschenk, unverdient, „einfach wegen nix". Herrlich: Auch in der Bibel stößt man auf ein völlig verrücktes Liebespaar. Im „Hohen Lied" des Alten Testaments besingen zwei Verliebte in tausend Worten und Bildern - knisternd vor Erotik - den Liebreiz und die Anmut des andern: Liebes-Lyrik in vollendeter Form. Sie hat vermutlich deswegen in der Bibel ihren Platz gefunden und behalten, weil die Liebe, auch in ihrer erotischen Gestalt, nicht von Gott zu trennen ist. Sie ist eine geradezu überirdische Macht, „stark wie der Tod", heißt es in diesem biblischen Liebeslied (Hohes Lied 6,7). Liebe, empfangen oder verschenkt, lässt Menschen aufleben, weil sie den Tod der Einsamkeit, der Beziehungslosigkeit, der sozialen Kälte überwindet. Das macht das Glück der Liebe aus: Man findet hin oder zurück ins Leben. Wir dürfen die Liebe annehmen. Sie macht das Leben lebenswert und taucht es in ein neues Licht. Es fällt wie durch einen Spalt in unsere dunklen und kalten Kammern. Die biblischen Zeugnisse sind sich sicher: Dieses Licht ist ein Schimmer aus der anderen, der göttlichen Welt. Liebe ist die Leuchtspur, die uns zu Gott hinführt, denn Gottes- und Menschenliebe sind gar nicht voneinander zu trennen.

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