SWR4 Abendgedanken RP

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"Kleine Blumen, kleine Blätter / Streuen mir mit leichter Hand / Gute junge Frühlings-Götter / Tändelnd auf ein luftig Band."[1]

Diese Verse des jungen Goethe liebte meine Großmutter besonders. Sie liebte Blumen - gerade die kleinen, die sie mit ihrer Gehbehinderung leichter pflegen konnte. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, Goethe habe diese Verse extra für sie geschrieben.
Nun war meine Großmutter, die ich nur als alte Frau kannte, ja auch einmal jung - da passte die Fortsetzung dieses Gedichts:

"Zephir, nimms auf deine Flügel, / Schlings um meiner Liebsten Kleid! / Und so tritt sie vor den Spiegel / All in ihrer Munterkeit. / Sieht mit Rosen sich umgeben, / Selbst wie eine Rose jung."

Diese Stelle liebte ich besonders und brauchte dafür gar nicht zu wissen, dass Zephir im alten Griechenland ein Windgott war.
Warum brauchen wir Poesie? Weil Poesie die Welt so beschreibt, dass sie auf einmal ganz anders, ja: wunderbar aussieht. Sie tut das in überraschenden, schön klingenden Worten. Worten, die zu Herzen gehen und das Herz erfreuen - und die man dafür nicht in allen Einzelheiten verstehen muss. Gedichte benutzen diese Sprache, aber auch Psalmen und viele andere Worte aus der Bibel. Die Lieder unseres Gesangbuchs leben von der Sprache der Poesie.
Der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus schrieb einmal über die Kraft schöner Frühlingsgedichte: "Wenn der Mensch Brot und Gerechtigkeit braucht, dann braucht er auch reine Schönheit, die das Brot seines Herzens ist."[2]
Wie Goethe, dessen Todestag sich übrigens heute wieder jährt, haben sich viele Dichter darum bemüht, den Menschen dieses Brot des Herzens zu geben: Worte, die das Herz und die Seele satt machen. Wer solche Gedichte, Gesangbuchlieder oder Bibelworte auswendig kann, hat einen großen Schatz, von dem sich gerade in schweren Zeiten zehren lässt. Meine Großmutter wusste viele solche Worte und gab sie uns gerne weiter. Aber es müssen gar nicht viele Worte sein - ein Tauf- oder Konfirmationsspruch kann schon reichen! Ein Wort, welches das Herz satt macht! Damit lässt es sich leichter leben.


[1] Johann Wolfgang Goethe, Mit einem gemalten Band, in: Goethe, Gedichte, Insel Verlag, Frankfurt, 1998, S. 93
[2] Albert Camus, Carnets II, janvier 1942 - mars 1951, Les Éditions Gallimard, Paris, 1964, S. 180 (Übersetzung: C. H.)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10309
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