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SWR1 3vor8
Als wir Kinder waren, hatte meine Freundin Diana über ihrem Bett ein Bild hängen. Darauf zwei Kinder, die Hand in Hand auf einen Abgrund zulaufen. Doch genau dort – an der Abbruchkante – steht ein Engel und hindert die beiden daran, in die Schlucht zu stürzen. Ein Schutzengel, mit liebevoll strengem Gesicht und goldenen Flügeln. Ich fand das Bild immer ein bisschen gruselig. Aber ich war auch neidisch. Meine Freundin war katholisch und lange habe ich gedacht, dass nur katholische Kinder Schutzengel haben.
Heute am Tag des Erzengel Michael und aller Engel wird nun aber auch in manchen Evangelischen Kirchen über einen Engel gepredigt. Und über die biblische Geschichte, wie Gott diesen Engel zum Propheten Bileam schickt. Bileam steuert nämlich auch auf einen Abgrund zu. Jedenfalls begibt er sich in große Gefahr. Sein Herr, König Balak von Moab, ruft nach ihm. Durch einen Fluch soll helfen, das Volk Israel zu vertreiben, das direkt vor der Hauptstadt Moabs sein Lager aufgeschlagen hat. Gott warnt Bileam, den Auftrag anzunehmen. Deshalb weigert sich Bileam zunächst. Aber irgendwann sattelt er doch seine Eselin und macht sich auf den Weg, denn Balak verspricht ihm reichen Lohn. Auf dem Weg kommt es zu einem Zwischenfall: Balaks Eselin weigert sich auf dem Weg zu bleiben. Bileam wird ärgerlich und schlägt die Eselin sogar. Da dreht die sich um und spricht zu Bileam. Als erstes erinnert sie Bileam daran, dass sie ihm immer eine treue Begleiterin gewesen ist. Sie hat nicht verdient geschlagen zu werden. Und dann weist sie ihn auf den Engel hin, der sich den beiden in den Weg gestellt hat. Und erst da sieht auch Bileam den Boten Gottes. Aber es ist kein Schutzengel mit liebevoll strengem Blick. Sondern einer mit dem Schwert in der Hand – bereit Bileam aufzuhalten und sogar zu vernichten. Gott hatte ihn ja gewarnt, dass er es nicht zulassen würde, dass sein Volk verflucht wird. Trotzdem lässt Gott Bileam nicht einfach in sein Verderben rennen. Gott setzt alles daran, Bileam vor einem großen Fehler zu bewahren. Er schickt ihm zwar keinen Schutzengel, dafür aber eine Eselin. Und die öffnet ihm die Augen. So versteht Bileam schließlich, was Gott von ihm erwartet. Bileam reitet zwar zum König, aber er verflucht das Volk Israel nicht. Im Gegenteil: er segnet das Volk. Er hält sich an Gottes Auftrag.
Vielleicht schickt Gott nicht immer einen Engel, der mich beschützt so wie auf dem Bild im Kinderzimmer meiner Freundin. Seine Boten und Botinnen kommen in ganz unterschiedlichen Gestalten. Manchmal sogar in tierischer. Aber immer so, dass sie es gut mit mir meinen. Und das ist ganz unabhängig davon zu welcher Konfession ich gehöre. Also Augen auf und Ohren auch – vielleicht kreuzt heute ja einer Ihren Weg oder begleitet sie schon lange treu und ergeben – wie die Eselin den Bileam.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40717Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Wir misten meinen Schrank aus. „Willst Du das nicht wegschmeißen?“ Meine Freundin hält mir ein ausgeblichenes Stück Stoff entgegen. Es ist verwaschen Türkis, man erahnt noch ein blaues gedrucktes Muster. Regenbogenbunte Lurexfäden sind eingewebt. Und um das ganze herum schimmernde Fransen. Ich nehme ihr das Tuch aus der Hand und drücke es instinktiv an meine Nase.
Nein – es riecht nicht mehr nach dem Parfüm meiner Mutter. So wie früher, wenn ich es aus ihrem Schrank stibitzt habe, um mich als Prinzessin zu verkleiden. Wenn ich es mir damals als Umhang um die Schultern gelegt habe, kam es mir vor wie das edelste und vornehmste Kleidungsstück auf der Welt. Als ich älter war, habe ich es mir dann manchmal als Turban um die hennagefärbten Haare gewickelt.
Viele Jahre lag es dann einfach vergessen in meinem Schrank. Bis es mein Sohn entdeckt hat. Da muss er ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Und in seiner Vorstellung war das die perfekte Schärpe für einen wilden Piraten. Oder das magische Tuch eines meisterhaften Zauberers. Oder die Gardine vor dem Fenster der Sofakissenburg.
Wenn jemand heute das Tuch anschaut, sieht er ein schäbiges, abgetragenes Stück Stoff. Wenn ich es anschaue, öffnet sich ein Fenster in eine vergangene Zeit und viele Geschichten fallen mir wieder ein. Ich wünsche mir, dass sich jemand an diese Geschichten erinnert. Dass sie erhalten bleiben und das verbinde ich mit dem Tuch. Aber ich weiß auch, dass meine Geschichten noch an anderer Stelle aufgehoben sind. Ob ich sitze oder stehe, so weißt Du es – so betet einer in der Bibel. Ich glaube Gott kennt meine Geschichten – war dabei, als ich Prinzessin war und war dabei, als ich zur Piratenmutter wurde. Bei ihm geht nichts verloren. Das tröstet mich.
Das Tuch bleibt aber trotzdem. Denn es hilft mir, dass auch ich nicht vergesse. Deshalb sage ich zu meiner Freundin: „Nein! Das will ich nicht wegschmeißen. Das bleibt. Da ist meine Geschichte eingewebt und an die will ich mich erinnern.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40711Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Ich stehe in der Straßenbahn in Mainz. Offenbar haben viele Schulen gerade Schulschluss, denn es ist ziemlich voll. Ich bin eingeklemmt zwischen lauter Schulranzen; umringt von Schülern und Schülerinnen in allen Größen. Ich halte Ausschau nach ein bisschen mehr Platz und nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Da fällt mein Blick auf ein Schild: Suche beim Stehen festen Halt! steht da in großen schwarzen Buchstaben auf weißer Emaille. Würde ich gerne, denke ich. Und fische mit der Hand nach einem Haltegurt, der von der Decke baumelt. Ob der mir sicheren Halt gibt? Zumindest falle ich nicht gleich um, wenn die Bahn bremst.
Suchen Sie festen Halt. Das gilt ja nicht nur in der Straßenbahn, überlege ich. Wie oft sucht man im Leben nach einem festen Halt. Besonders, wenn sich was verändert. Und ich habe das Gefühl es ändert sich ständig irgendwas. Zum Beispiel meine Kinder: eben waren sie noch klein und anhänglich und plötzlich sind sie junge Erwachsene. Da wünsche ich mir oft etwas, an das ich mich halten kann – das mir Halt gibt. Denn woher soll ich wissen, was sie brauchen? Es ist ja das erste Mal, dass ich ältere Kinder habe. Ich konnte das nicht üben. Und ich sehe den Kindern an, die bräuchten wirklich einen festen Halt. Denn auch für sie ist alles neu, was passiert. Lauter erste Male. Erster Urlaub alleine. Erstes Date. Erster Kuss. Ich wäre gerne der Halt, den sie brauchen. Aber wer hält mich? In der Bibel verspricht Gott an einer Stelle: Ich halte Dich an Deiner rechten Hand und ich sage Dir: hab keine Angst! Ob das ein sicherer Halt ist? Das Wort eines unsichtbaren Gottes? Eine unsichtbare Hand, die meine hält? Die Straßenbahn bremst. Ein Junge mit samt Schulranzen fliegt mir entgegen. Ich umklammere den Haltegurt fest mit der rechten Hand. Mit der freien Hand stütze ich das Kind. Es geht gut. Er fällt nicht. Und auch ich falle nicht um. Es kommt wohl auf den Versuch an, denke ich. Und darauf, voller Vertrauen den Halt zu ergreifen, der sich Dir bietet. In der Straßenbahn und im Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40710Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Gestern haben auf vielen Tischen wieder die Sonntagsbraten gedampft. Und es ist ja auch lecker. Als ich ein Kind war, hatten wir Kaninchen. Keine Zwergkaninchen, sondern eher das Gegenteil: Deutsche Riesen, so heißt die Rasse. Wir hatten immer mindestens zwei Zippen, also weibliche Kaninchen, und einen Bock. Und im Frühling gab es Nachwuchs. Das war immer sehr niedlich. Aber wir hatten die Kaninchen nicht zum Kuscheln. Einmal im Jahr wurde geschlachtet. Und dann waren die Kaninchenställe leer und die Tiefkühltruhe voll. Heute bin ich Vegetarierin. Aber das hat gar nicht so viel mit den Kaninchen von damals zu tun. Heute esse ich kein Fleisch, weil ich die Vorstellung von Massentierhaltung und industriellen Schlachthöfen nicht ertrage. Bei uns zu Hause habe ich dagegen den ganzen Kreislauf mitbekommen. Ich habe die Kaninchen aufwachsen sehen. Ställe gemistet, Grünfutter geschnitten und die Tiere vom Freigehege zurück in die Ställe getragen. Und am Tag der Schlachtung herrschte bei uns eine besondere Atmosphäre. Es war stiller. Denn es war klar: Was heute passiert, ist schrecklich. Meinem Vater ist das Schlachten nicht leichtgefallen. Aber er wollte nicht auf Fleisch verzichten und so war das für ihn die notwendige Konsequenz.
Ich vermute, wenn alle Menschen ihr Fleisch selbst erlegen müssten, dann würde sich das mit Massentierhaltung von selbst erledigen. Ich kenne nämlich viele Menschen, die lieber vegetarisch leben würden, als ein Tier zu schlachten. Jesus hat Fleisch gegessen. Und ganz sicher war er mit dem Schlachten und allem, was dazu gehört, vertraut. Viele seiner Jünger waren Fischer. Auch die wussten: Wer einen Fisch essen will, muss einen Fisch töten.
Ich bin mir also nicht sicher, ob Jesus heute Vegetarier wäre. Aber ich bin mir sicher, dass er den industriellen Umgang mit den Tieren nicht gut finden würde. Als gläubiger Jude wusste er sich eingebunden in die Schöpfung, verbunden mit allen Kreaturen. Er hätte nicht gewollt, dass eine davon unnötig leidet.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40709SWR1 Anstöße sonn- und feiertags
Sie steht vor dem Spiegel und sieht sich an. Sie trägt ihr altes Hochzeitskleid. Fast 20 Jahre ist die Hochzeit mittlerweile her. Das Kleid passt nicht mehr ganz. Kein Wunder: Ihr Körper hat sich in den Jahren verändert. Drei Schwangerschaften, Krankheiten, seit neuestem die Wechseljahre… aber auch viel gutes Essen und Lebenslust haben ihre Spuren hinterlassen. Heute – mit dem Kleid vor dem Spiegel - ist plötzlich ganz viel von dem alten Gefühl wieder da. Sie erinnert sich ganz genau: wie aufgeregt sie damals gewesen ist und wie glücklich. Wie sehr sie sich auf den Tag gefreut hat. Auf das gemeinsame Leben mit ihrem Mann, das da so offen und weit vor ihnen lag. Sie haben sich gemeinsam umgezogen in ihrer kleinen Wohnung und sind dann zu Fuß Hand in Hand den kurzen Weg zur Kirche gegangen. Und da haben alle schon auf sie gewartet: Familien, Freunde und Freundinnen. Gottes Segen wurde ihnen zugesprochen und dann haben sie gefeiert und getanzt. Ein richtiges Lebensfest. Und sie hat sich getragen gefühlt von etwas, das größer war als sie beide als Paar.
So viel ist seitdem geschehen. Manche Träume von damals haben sich erfüllt und manche sind geplatzt. Menschen sind gestorben und neue geboren worden. Freundschaften haben sich verändert, manche sind auch zerbrochen, aber andere dafür stärker und intensiver geworden. Auch die Liebe stand manchmal auf dem Spiel. Die junge Frau, die sie damals gewesen ist, hat davon nichts geahnt. Heute fühlt sie sich ihr sehr nah. Am liebsten würde sie sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass ihr Leben wunderschön wird und auch schrecklich. Wild und aufregend; streckenweise auch furchtbar langweilig und manchmal kaum zum Aushalten. Sie möchte ihr sagen, wie stolz sie auf sie ist, weil sie das alles gemeistert hat. Dass es nicht immer leicht gewesen ist, aber dass dieses Gefühl von damals bleiben wird. Das Gefühl getragen zu sein von etwas, das größer ist als sie selbst. Von der Liebe, von Freunden und Freundinnen und von Gottes Segen. Sie zieht das Kleid aus und hängt es zurück in den Schrank. Aber die Erinnerung ist wieder neu und stark.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40708SWR1 Begegnungen
Die Kunsthistorikerin Dr. Katharina Henkel kuratiert derzeit eine Ausstellung bei den internationalen Tagen in Ingelheim. Frösche, Feuer, Finsternis, so heißt der Titel. Es geht um die 10 biblischen Plagen. Anfang des 18. Jahrhunderts hat der niederländische Künstler Jan Luyken diese Plagen illustriert: 10 großformatige Radierungen sind so entstanden. Durch einen befreundeten Künstler hat Katharina Henkel die Bilder in die Hände bekommen und sie war gleich fasziniert von den detailreichen Darstellungen. Auch, weil sie einen biografischen Bezug zum biblischen Text hat:
Ich bin ein Kunsthistoriker mit Leib und Seele, habe aber in den Nebenfächern klassische Archäologie studiert und hatte im Nebenfach die biblische Archäologie, ein kleiner Fachbereich der Theologie. Das heißt, ich habe nicht Theologie studiert, sondern tatsächlich die biblische Archäologie.
Und dabei hat sie sich besonders intensiv mit der Geschichte befasst, die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten handelt. Da wird im 2. Buch der Bibel erzählt, wie Mose versucht, den Pharao davon zu überzeugen, die Israeliten, die er als Sklaven für sich arbeiten lässt, freizulassen. Als dieser sich weigert, schickt Gott eben jene 10 fürchterlichen Plagen über das Land. Darunter auch besagte Frösche und eine unheilvolle Finsternis. Jan Luyken erweckt die biblische Geschichte in seinen Bildern zum Leben. Auf jedem einzelnen der 10 Blätter gibt es unendlich viel zu entdecken.
Also ich glaube, Wimmelbilder faszinieren Menschen grundsätzlich. Nicht umsonst bekommen ja kleine Kinder auch Bücher geschenkt, um sich die Welt durch das Schauen selbst zu erarbeiten oder zu entdecken. Und so geht uns das natürlich auch. Wir schauen genau hin, haben das Gefühl, wir können es erfassen und dann tun sich aber neue Details auf und es braucht eine gewisse Zeit, glaube ich, bis man sich diese einzelnen Blätter sie sind Gott sei Dank relativ großformatig erschließen kann.
Also es spielen sich wirklich dramatische Szenen ab und ich denke, wenn man die Bibelpassage tatsächlich kennt, wenn man diese Kapitel vor Augen hat und liest und dann diese Bilder sieht, man hätte es glaube ich, selber nicht besser darstellen können. Also die Bilder, die im Kopf entstehen, die werden sehr schön durch Jan Luyken visualisiert.
Für die Ausstellung hat Katharina Henkel 10 zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen gebeten, sich mit den Bildern von Jan Luyken auseinander zu setzen und sie neu zu interpretieren. Ich habe Katharina Henkel gefragt, warum man sich heute mit den biblischen Plagen beschäftigen sollte.
Ich denke, dass wir Menschen aus der Geschichte ja selten wirklich lernen, sich bestimmte geschichtliche, historische Abläufe, Szenarien, Dramen und ein Chaos sich immer wiederholt. Die Abstände sind unterschiedlich lang, aber dass es immer wieder zu Kriegen kommt, dass im in Menschen vielleicht auch das installiert ist, andere dominieren zu wollen, im Extremfall unterdrücken zu wollen. Und ich denke, gerade die Corona Plage hat sehr deutlich gezeigt, dass wir trotz aller medizinischen Mittel, besonders großen Katastrophen hinterherhinken. Also wir können sie nicht vorhersehen….
Und das finde ich das Faszinierende, aber natürlich auch gleichzeitig das Erschreckende, dass sich bestimmte Dinge nicht ändern oder Menschen mit bestimmten Themen konfrontiert werden, die Jahrhunderte, Jahrtausende alt sind.
Es gefällt mir, dass in der Ausstellung Künstler und Künstlerinnen die Aufgabe übernehmen, diese alten Themen neu zu deuten. Anders als Jan Luyken illustrieren sie nicht nur akribisch die biblische Vorlage, sondern interpretieren sie ganz neu für das 21. Jahrhundert. Katharina Henkel meint:
In der Kunstgeschichte wird immer behauptet, dass die Künstler die Seismographen der Gesellschaft sind, also dass sie dadurch, dass sie sensibler sein sollen, empfindsamer sein sollen, Probleme über schwierige Situationen früher wahrnehmen und dann auch darstellen, als es der Rest der Gesellschaft tut.
Mit ihren künstlerischen Mitteln haben die Beteiligten dargestellt, worin heute Plagen biblischen Ausmaßes bestehen könnten. Dabei sind ganz unterschiedliche Aspekte menschlichen Leids zum Ausdruck gekommen. Sehr persönliche, aber auch Themen, die die gesamte Menschheit angehen. Es fällt auf: wo die biblischen Texte noch Gott als den Verursacher der Plagen ausmachen, rücken die zeitgenössischen Werke den Menschen in den Mittelpunkt:
Also ein Künstler hat sich ja mit dem Klimawandel beschäftigt, der uns natürlich massiv jetzt trifft. Also wir wissen davon ja seit vielen Jahrzehnten, aber jetzt bekommen wir ja die Folgen des Klimawandels zu spüren. Und ich denke, da kann auch kaum noch jemand leugnen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Und er hat sich explizit mit diesem Thema der klimatischen Veränderung und der Auswirkung auf die Natur befasst.
Wichtig ist Katharina Henkel dabei, dass die Ausstellung nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Und erst recht nicht darum, den Untergang heraufzubeschwören. Vielmehr geht es ihr darum, Verantwortung wahrzunehmen und zu ergreifen.
Ich würde mir wünschen, dass diese Ausstellung zum Nachdenken anregt, dass wir vieles in der Hand haben, dass wir vieles verändern können, von dem, was es an Plagen immer schon gab und auch derzeit gibt. Also, dass wirklich immer noch die Hoffnung besteht, dass wir unsere Welt zu einer besseren Welt machen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40642SWR1 Begegnungen
Die Kraft der Zeuginnen
Wir sprechen über Ihr Buch: Trotzkraft heißt es. Die Texte und Gebete darin sprechen mir oft aus der Seele und berühren mich. Trotzkraft, frage ich sie, was bedeutet diese Wort?
Also mein Mann, der wissenschaftlicher denkt, würde es Resilienz nennen. … Und ich habe gesagt eine Lyrikerin nennt das Trotzkraft, also alles in uns, was zum Widerstand fähig ist oder was „Ja!“ sagt, obwohl alles um uns herum vielleicht nach „Nein!“ schreit. Und ich glaube, in dieser Pandemie haben wir das alle erlebt, dass wir so eine Kraft brauchen. Aber auch in Alltagssituationen oder in den großen Krisen, die wir alle irgendwie erleben.
Christina Brudereck kennt das aus eigener Erfahrung, wie das ist, wenn das Leben ganz anders läuft, als man es sich gewünscht hätte: Ihre erste Ehe wurde geschieden, sie wäre gerne Mutter geworden… Aber trotz schmerzvoller Erfahrungen: Sie hält trotzig Kontakt zu Gott - als Suchende:
Ich gucke, was mir hilft, eine Liebende zu sein und mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Ich gucke auch nach dieser Trotzkraft, also ich suche diese Wirkmacht wirklich, die meinem Herzen diesen Schubs gibt, sagt: „Komm, versuch es noch mal! Vertrau noch mal! Du schaffst das, und du kannst das Gute im anderen sehn. Und du kannst Vertrauen!“ Und es geht weiter.
Ich spüre: sie meint was sie sagt. Mich beeindruckt die Natürlichkeit mit der sie von ihrem Glauben spricht – ungekünstelt und echt. Und mit Tiefe. Woher nimmt sie Ihr Vertrauen?
Wurzel ist ein sehr gutes Wort finde ich. Also weil ich bin damit aufgewachsen, wirklich. Und weil es so eine große Erzählgemeinschaft gibt. Also ich hab mir das ja nicht alleine ausgedacht. Ich habe nicht angefangen, irgendwann in der Pandemie mit 51 zu sagen. Jetzt gucke ich mal, wo ich Trotzkraft finde, sondern die gibt es in den Ritualen, die wir einüben, seit vielen, vielen Jahrhunderten einüben. Wenn ich selber sprachlos werde vor Wut oder vor Ohnmacht, dann rette ich mich in diese alten Worte und mache sie mir zu Eigen. Oder ich leihe sie mir. Oder es ist manchmal ein bisschen wie ein unterschlüpfen in einer viele ältere Tradition, als ich selber alt bin.
Besonders Ihre Großmütter haben Ihr vorgelebt, welche Stärke aus Gottvertrauen wachsen kann. Aber sie findet: wenn wir in die Geschichte unseres Glaubens schauen, dann können wir auch lernen von denen, die vor uns da waren.
Ich finde die besten Resilienz-Geschichten sind jüdische Geschichten. Das kann ich, glaube ich, nur sagen. Unsere Wurzeln trägt uns wirklich. Also ohne die hebräische Bibel könnte ich mir das nicht vorstellen, als Christin zu leben. Das Judentum ist wirklich unsere Mutterreligion. Und darin zu wurzeln heißt, wirklich auch etwas von dieser Kraft aufzunehmen.
Trotz allem – Zuversicht
Christina Brudereck ist Theologin und Künstlerin. Ich bewundere, wie sie als Autorin und Poetin versucht sie zur Sprache zu bringen wie das ist mit Gott. Zur Zeit würde sie Gott so beschreiben:
Gott ist das Größte was wir sagen können. Alle Bilder sind immer nur hilflose menschliche Versuche dieses geheimnis oder diese Wirkmacht irgendwie zu umschreiben, aber mir gefällt Freundin der Menschen schon sehr gut… Vielleicht eine mütterliche Freundin oder eine Welten Mutter, das mag ich auch sehr gern, dieses Bild. Eine die durchaus nicht nur lieb ist im Sinne von harmlos, sondern die durchaus sehr wütend werden kann und ordentlich Kraft hat, eben diese trotzige Kraft und sie uns auch verleiht.
Trotzkraft – Resilienz, die braucht es im privaten Leben. Eine innere Widerstandsfähigkeit, um es mit dem Leben aufzunehmen. Aber als Christin, davon ist Christina Brudereck überzeugt – geht es immer auch über das Private hinaus.
Ich finde, man kann als Mensch nicht unpolitisch sein, weil es uns hier angeht, wie die Welt ist. Und die Frage, in welcher Welt wir leben wollen oder in was für einer Gesellschaft wir leben wollen, uns alle angeht als Menschen und als Christin bin ich Mensch, daher kann ich nicht unpolitisch Christin sein.
Ich muss nicht bei jedem Problem selbst aktiv werden – das überfordert einen. Aber Anteilnehmen und Mitfühlen das schon.
Wir halten nicht alles aus. Das versteh ich verstehe, dass man nicht jedes Problem zu seinem eigenen machen kann. Aber wir können nicht in dieser Welt leben und sagen, das ist mir egal, weil es uns angeht und Empathie, finde ich, ist ein sehr, sehr guter Anfang, sich einmal zu überlegen wie wäre es denn, wenn ich das wäre?
Christina Brudereck bezeichnet sich selbst als Feministin. Wenn ich mich feministisch äußere erlebe ich oft: Für manche ist das immer noch ein rotes Tuch. Manche meinen: Feminismus braucht es nicht mehr! Christina Brudereck meint: doch!
Mich macht Sexismus sehr wütend, und wir erleben auch wie er immer wieder zurückkommt und doch immer wieder sich seinen Weg sucht. Und manchmal bin ich fassungslos und schüttel nur den Kopf, was Menschen denken und wie sie Frauen behandeln und Mädchen erziehen furchtbar. … Aber ich habe alle Freiheit und auch die Aufgabe, für Gleichwürdigkeit einzustehen. Und das Thema ist für Männer und Frauen nicht erledigt, für jede Orientierung, die wir leben, was auch immer unser Leben uns mitbringt. Das Thema Gleichwürdigkeit bleibt unsere Aufgabe.
Um Kraft für diese Aufgabe zu sammeln sucht Christina Brudereck nach Worten, die stärken. Und auch für uns hat Christina Brudereck etwas zur Stärkung. Vielleicht auch für Ihren Tag – damit sie voller Trotzkraft und Vertrauen leben können.
Das ist ein Gebet, das heißt: Hilf uns bei der heiligen Aufgabe der Zuversicht! Das ist vielleicht mein Lieblingsgebiet gerade. Hilf uns bei der heiligen Aufgabe der Zuversicht. Und ich mag daran die Zuversicht, weil sie ein Ergebnis der Trotzkraft ist, ein anderer Blick auf die Welt, der nicht immer nur das Schlimmste annimmt, aber auch nicht naiv ist. Es ist nicht einfach optimistisch oder Frohnatur, sondern es ist eine heilige Aufgabe. Aber die Zuversicht ist auch da.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37339SWR2 Lied zum Sonntag
Musik
Eine alte Melodie. Heinrich Schütz hat sie komponiert – über dreihundertfünfzig Jahre ist das her. Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit– er hat eine Nachdichtung des 119. Psalms vertont, (die Cornelius Becker 1602 geschrieben hatte). Es ist der längste Psalm der Bibel – und wird auch manchmal das goldene Alphabet genannt. Denn er buchstabiert durch, was es heißt, ein gutes und gottgefälliges Leben zu führen. Entsprechend hat das Lied auch 88 Strophen, und Schütz hatte sich sage und schreibe acht unterschiedliche Melodien dazu ausgedacht. Überdauert haben davon nur vier Strophen, (die bis heute im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs zu finden sind).
Musik
Wohl denen die da wandeln vor Gott in Heiligkeit, nach seinem Worte handeln und leben allezeit; die recht von Herzen suchen Gott und seine Zeugniss´ halten, sind stets bei ihm in Gnad.
Gepriesen werden alle Menschen, die sich auf Gottes Wort verlassen. Im Deutschen verstellt manchmal das Wort: Gebot! worum es hier eigentlich geht. Gottes Wort öffnet Handlungsspielraum. In der jüdischen Tradition ist das deutlicher. Es geht nicht um Verbote, sondern um Orientierung. Besonders dann, wenn ich mich auf meinem Lebensweg nicht mehr auskenne oder wenn mich verheddert habe im Wust der Möglichkeiten. Da kann Gottes Wort helfen. Es ist etwas, das ich mit dem Herzen erfasse – mit dem Teil meiner Auffassungsgabe, der religiös besonders musikalisch ist.
Musik
Von Herzensgrund ich spreche: dir sei Dank alle Zeit, weil du mich lehrst die Rechte deiner Gerechtigkeit. Die Gnad auch fernen mir gewähr; ich will dein Rechte halten, verlass mich nimmermehr.
Mein Herz hängt treu und feste an dem, was dein Wort lehrt. Herr, tu bei mir das Beste, sonst ich zuschanden werd. Wenn du mich leitest, treuer Gott, so kann ich richtig laufen, den Weg deiner‘ Gebot.
Am Tag meiner Ordination haben wir dieses Lied gesungen. Damals habe ich mich dazu verpflichtet, was ich predige und was ich tue, am Evangelium auszurichten. Ich kann mich erinnern: es ist mir so vorgekommen, als ob jedes einzelne Wort für mich geschrieben worden ist. Das Lied hat mich damals gehalten und gestärkt, und das tut es bis heute immer wieder. Es erinnert mich daran: ich bin auf Unterstützung angewiesen und das ist gar nicht schlimm. Das gehört dazu. Das Leben ist eben manchmal ziemlich unübersichtlich. Alles verändert sich und ist in ständiger Bewegung. Es hilft, sich in allem Wandel an etwas festmachen zu können. An etwas, das nicht starr ist, aber mich erdet, damit ich meinen Weg finde. Wie gut, wenn man sich so auf Gott verlassen kann.
Musik
Dein Wort, Herr nicht vergehet, es bleibet ewiglich, soweit der Himmel gehet, der stets beweget sich, dein Wahrheit bleibt zu aller Zeit gleichwie der Grund der Erden durch deine Hand bereit.
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Musikquellen
Wohl denen, die da wandeln, Leises Lob - Choräle auf der Gitarre, Schütz, Heinrich; Hinteregger, Wolfgang
Wohl denen, die da wandeln, Choral:gut! Schütz, Heinrich; Bauer, Clemens; Schneider, Arno; Steinmetz, Uwe; Lilienfelder Cantorei; Athesinus Consort
SWR1 Begegnungen
Janine Knoop-Bauer trifft Stephanie Brall, Publizistin, Autorin, Fotografin und Direktorin des LÜCHTENHOF
Ihre Postkarten habe ich schon häufig verschickt oder verschenkt. Auf einer meiner liebsten ist zum Beispiel ein altes Radio zu sehen. Wellen:Reiten steht darunter. So macht die 42jährige Autorin und Fotografin das oft: sie verbindet ein Wort mit einem Bild und erzählt auf diese Weise eine ganze Geschichte. Ich habe sie gefragt woher ihre Liebe zu den Worten kommt.
Mein Vater hat jedes Jahr zum Geburtstag mir und auch meinen Geschwistern einen ausführlichen, liebevollen Brief geschrieben. Meine Mutter wiederum hat immer wieder kleine Zettel im Alltag hinterlassen mit besonderen Worten. Und dieses Schreiben, dieses Notieren habe ich sehr früh auch selbst begonnen und im Laufe des Lebens, in der Auseinandersetzung mit seiner Fragilität, mit seiner Verletzlichkeit bin ich darin dann immer mehr meiner ganz eigenen Geschichte auf die Spur gekommen.
Stephanie Brall ist in einem Pfarrhaus groß geworden. Die Bibel ist für sie ein Fundus voller zeitloser Geschichten, die helfen, das Leben zu lesen. Oder wie sie selbst sagt: voller Geschichten, von denen sie sich selbst lesen lässt.
Gleichnisse zum Beispiel, die vom Himmel auf Erden, manchen besser bekannt als das Gleichnis vom Senfkorn, das klitzeklein in die Erde fällt und dann zum großen Baum wird, mit Zweigen weit in alle Himmelsrichtungen, also in die Tiefe geht und in die Weite. Und dann ein Rastplatz wird für die Vögel, die zwischenlanden auf ihrem Weg durchs Leben. Was für ein Bild fürs Leben, das finde ich in der Natur. Das finde ich in diesen Erzählungen. Das ist so ein Wechselspiel. Und das sind dann auch wieder Geschichten, die das Leben schreibt. Also wo ich mich selber gelesen empfinde.
Ohne Geschichten, wie die Gleichnisse, die Jesus erzählt hat, gäbe es die christliche Religion gar nicht. Das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft und Stephanie Brall führt dieses Erzählen fort. In Ihren Kalendern, Büchern und auf ihren Postkarten stoße ich auf Geschichten, die mich ins Nachdenken oder besser Nachspüren bringen. Wo nimmt sie die her?
Diese Geschichten, … die finden mich mitten im Alltag, also gerade da, wo trotz allem oder auch allem zum Trost, tapfer, leise, laut, zärtlich, mal in großem Überschwang, mal ganz einfach klitzeklein, sich Schönheit zeigt. Das berührt mich. Bono von U2 singt ja „Grace finds Beauty in everything“, und danach zu suchen, nach diesem liebevollen Blick … Nach Schönheit, nach diesem Funken; wo ich immer wieder erlebe, dass jede und jeder diesen Funken in sich trägt. Dieses Ewige, was ich … Gott nenne oder das ewige Gegenüber, das sich mir daran zeigt. Mal klitzeklein, in einem Baby in der Krippe und mal allumfassend, riesengroß im gesamten Kosmos. Also danach zu suchen, nach dieser Schönheit, nach diesem Funken jeden Tag neu und diese Suche zu teilen mit anderen, das heißt für mich Resonanzräume zu öffnen. (….) Das tue ich von Herzen gerne. Und da bietet das Leben, der Alltag, die allerbeste Vorlage.
Stephanie Brall ist Autorin und Fotografin und seit kurzem gemeinsam mit ihrem Mann auch Direktorin des LÜCHTENHOF, einem Bildungshaus des Bistums Hildesheim: ein über 700 Jahre alter klösterlicher Ort - zum Tagen und Nächtigen. Wo Menschen sich gemeinsam auf die Suche machen nach dem was sie bewegt und trägt im Leben. Die Sehnsucht nach solchen Orten wird immer größer, so scheint es mir. Stephanie Brall meint
Ich erlebe, dass es eine Sehnsucht nach Heiligem gibt und Heiligem im Sinne von Heilsein im Sinne von Ganzsein. Wir kennen im Englischen das Wort whole: ganz, und dann das Wort holy: heilig. In diesem Sinne, dass das Leben rund wird.
Rund wird das Leben für Stephanie Brall dort, wo Licht und Schatten geteilt werden dürfen, beides. Und wenn erfahrbar wird, wie Licht durch die Risse des Lebens scheint. Wenn man so gemeinsam unterwegs ist.
Ich bin … dankbar ….Teil dieser großen Familie zu sein, dieser großen Weggemeinschaft, dieser Erzählgemeinschaft und empfinde mich Seite an Seite unterwegs mit denen, die vor mir waren, mit denen, die jetzt da sind, durch dieses herzzerreißend schöne, manchmal schwere, manchmal leichte Leben zu gehen, das uns allen geschenkt ist und miteinander auszuprobieren, wie dieses Leben geht und wie sterben, wie lieben geht und wie sich lieben lassen geht und verzeihen, wie das geht. Gesellschaft zu gestalten, wie wandeln geht, fallen und wieder aufstehen und auch einkehren.
Leben lernen. Das geht gemeinsam besser. Stephanie Brall erlebt immer wieder: wenn man sich gemeinsam auf die Suche begibt, dann findet man nicht nur das, wonach man gesucht hat. Manchmal findet man ganz unerwartet viel mehr als das und wird selbst gefunden. Und – wie könnte es anders sein? erzählt sie dazu eine Geschichte, die sie auf einem nächtlichen Spaziergang während eines Retreats im LÜCHTENHOF erlebt hat:
Eine von uns hatte Geburtstag … und als wir ihr reihum unsere Wünsche aussprachen, gesellten sich plötzlich sieben Schwäne vom See her zu uns. Und ich weiß, vor einem Jahr waren fünf von ihnen noch nicht da. Ich erinnere mich noch an die schönen Eier in dem großen Nest im Frühjahr, und jetzt waren sie hier, mitten unter uns. Und miteinander, Menschen und Schwäne, bildeten wir buchstäblich eine Lichtung: die leuchtend weißen Schwäne und das Leuchten der Fackeln in unseren Gesichtern und dann die Worte und die Wünsche und die Lieder mitten in der Nacht. … und über uns der offene Nachthimmel, das eine Himmelszelt. Und da oben die Sterne. Und wie sich das Leben so fügt, das berührt mich immer wieder aufs Neue, wie wir uns auf den Weg machen können und dann Innehalten und erleben, wie aus Leerstellen Lichtungen werden. Aus Wunden Wunder. Und dass Schwäne zu Weggefährtinnen werden können, dass die Nacht leuchtet wie der Tag, immer wieder.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37011SWR1 Begegnungen
Janine Knoop-Bauer trifft Dr. Swantje Goebel, vom Akademieteam des Hospiz-Vereins Bergstraße e.V. und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde e.V.“
Heute, am Ewigkeitssonntag, wird in den evangelischen Kirchen an die Menschen erinnert, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Tod und Sterben – das sind Themen, über die viele lieber nicht nachdenken. Dabei liegt in der Beschäftigung mit dem Tod auch eine Chance, findet Dr. Swantje Goebel. Sie macht Bildungsarbeit in einem Hospizverein. Dort begleiten sie Sterbende auf ihrem letzten Weg; und sie qualifizieren Fachkräfte für einen sensiblen, achtsamen Umgang mit Schwersterkrankten. Ich habe sie gefragt, was dabei das Kernanliegen ist.
Die Hospizbewegung setzt sich ein für eine Akzeptanz des Sterbens und für eine Integration des Sterbens und der Sterbenden. Also einmal ich selber will mir gewahr sein, dass ich sterblich bin und mein Leben entsprechend bewusst gestalten. Und aber auch ich will einen solidarischen, fürsorglichen Blick auch auf meine Mitmenschen haben und sehen, wo Menschen in Not sind… und diesen wirklich herausfordernden letzten Weg an ihrer Seite sein.
Die Soziologin schöpft aus fast 20jähriger praktischer Erfahrung. Aber sie hat auch einen klaren wissenschaftlichen Blick auf die Situation von Sterbenden. Und da steht Deutschland im weltweiten Vergleich erfreulich gut da.
Grundsätzlich sind wir gesund und leben lange. Finanziell stehen wir grundsätzlich ganz gut da. Wir leben in Sicherheit, das ist so die Sterberealität der letzten Jahrzehnte. Und wir merken aber jetzt in den letzten Jahren mit Corona und dann natürlich noch mal jetzt, seit Frühjahr, seit dem Krieg in der Ukraine, dass wir doch auch weitaus verletzlicher sind. Und dass diese Aussicht auf dieses lange Leben gar nicht so sicher ist.
Die Krisen unserer Zeit rücken auch das Sterben mehr in den Fokus. Trotzdem erlebe ich in meinem Freundeskreis nicht, dass das ein Thema wäre, über das viel gesprochen wird.
Es ist auch ganz natürlich, dass wir uns nicht die ganze Zeit damit befassen, weil wir sind dem Leben zugewandt. Aber natürlich wissen wir aus Erfahrung, dass es hilfreich ist und gut ist, wenn wir uns vorbereiten. Und das wissen auch viele Menschen.
Als Professorin in Berlin, aber auch in der Hospizakademie an der Bergstraße erlebt Swantje Goebel, dass Menschen sich neu mit dem Tod und dem Sterben auseinandersetzen. Sie meint: neben der Erschütterung durch Krieg und Corona hat das auch noch einen ganz anderen Grund: Es entspricht nämlich dem populären Zeitgeist
Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, das sind zwei ganz große Themen für uns. Es heißt, wir befassen uns also viel mit unserem Leben. Wie will ich mein Leben gestalten? Was ist mir wichtig? Wo will ich mich ausdrücken? Was ist meine Identität? Wo, wo kann ich mich einbringen? Und wie kann ich, wie kann ich mich entfalten? Und dann ist es doch fast logisch, dass wir irgendwann auch unser Lebensende in den Blick bekommen, weil das natürlich auch noch mal eine Lebensphase ist, die wir zu gestalten haben.
Swantje Goebel ist Soziologin und begleitet seit vielen Jahren Menschen im Sterbeprozess. Als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde setzt sie sich dafür ein, dass die Würde schwerstkranker Menschen gewahrt bleibt – so wie es in unserem Grundgesetz im ersten Artikel verbürgt ist. Aber nicht nur Artikel eins unseres Grundgesetzes ist ihr wichtig im Umgang mit Sterbenden
Artikel zwei sagt, jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Und ich bin davon überzeugt und wir erleben das auch, dass Entwicklung der Persönlichkeit bis zuallerletzt möglich ist.
Was für ein tröstlicher Gedanke, dass da am Ende nicht nur Stillstand ist und Warten. Swantje Goebel betont:
Sterben ist Teil des Lebens: Sterben ist noch nicht tot. Das heißt, Sterben kann gelebt werden und sollte bestmöglich gelebt werden in bestmöglicher Lebensqualität. Was das bedeutet, bestimmt jeder und jede selbst. Und was das bedeutet, ist auch in der Regel für schwerstkranke Menschen was Anderes als für uns, die wir so mitten im Leben stehen. … Schwerstkranke Menschen haben ja diesen in der Regel langen, wirklich harten, belastungsreichen Weg hinter sich, den sie schon bewältigt haben. Die Hoffnungen und die Wünsche und die Ideen von Lebensqualität, die sind meistens viel, viel kleiner. Das ist vielleicht noch mein Lieblingsessen kosten können. … oder noch mal auf einen Balkon gefahren werden … um den Sonnenuntergang zu betrachten. Also das sind so kleine Dinge, aber natürlich auch so was wie meine Tochter kommt aus Norddeutschland angereist, und ich will das noch erleben, dass sie da ist. Und ich will noch durchhalten, bis sie kommt.
In Hospizen wird versucht, die Sterbenden so zu unterstützen, dass die äußeren Bedürfnisse bestmöglich gestillt werden. Dazu gehört auch eine gute medizinische Versorgung im Umgang mit Symptomen. Swantje Goebel weiß, diese äußere Entfaltung der Persönlichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass auch inneres Wachstum möglich bleibt.
Wenn das Lebensende nah ist, dann kommt ja alles wie unter ein Brennglas. Dann ist ganz klar, das ist jetzt meine Zeit. Und die läuft ab. Und diese Fragen was ist noch wichtig? Worauf kommt es jetzt an? Was will ich noch erlebt haben? Was will ich noch hinkriegen? Zum Beispiel auch in Bezug auf die Menschen, die mir nahestehen oder auf Unbewältigtes? Und das wird alles ganz dringlich, und diese Dringlichkeit hat eine Intensität, die einfach ganz besonders ist … deswegen ermutigen wir auch da dazu, da hin zu gehen und das auch anzunehmen.
Das Sterben anzunehmen, das ist auch eine Aufgabe für die Lebenden. Wir sind alle endlich. Swantje Goebel meint, wenn wir uns das bewußt machen, kann ein Miteinander entstehen, dass das Leben lebenswerter macht bis zum Schluss.
Wir müssen einfach nur wachen Auges durch die Welt gehen. Und dann sehen wir, wo Not ist. Und wenn wir uns davon anrühren lassen, dann können wir auch Gutes bewirken. Und dann wirkt das auf uns selber zurück. … Wir suchen ja Sinn und meiner Überzeugung nach liegt der Sinn darin, Mitmensch zu sein, unter anderen Mitmenschen.
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