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SWR1 Begegnungen

Janine Knoop-Bauer trifft: Tim Kaufmann, Pfarrer und Leiter des LabORAtoriums der evangelischen Kirche der Pfalz, wo Erprobungsräume entstehen für eine Kirche der Zukunft.
Ein Labor erwartet man wahrscheinlich nicht als Grundausstattung einer Kirche. Die Evangelische Kirche in der Pfalz beschreitet hier neue Wege und hat im Jahr 2019 ein LabORAtorium eingerichtet. Dort wird überlegt, wie die Kirche der Zukunft aussehen kann. Aber nicht als Gedankenspiel, sondern ganz konkret: Tim Kaufmann und sein Team unterstützen Gemeinden, die neue Ideen umsetzen möchten. Erprobungsräume heißen die so angestoßenen Projekte. Sie alle stehen dabei unter der gleichen Fragestellung, die Tim Kaufmann so zusammenfasst:
wie kann das gehen, dass Kirche in Zukunft Formen von Gemeinschaft entwickelt, die für die Menschen tragfähig und funktionabel sind? Dass die Menschen da wirklich das Gefühl haben, hier ist eine Gemeinschaft, da gehöre ich dazu. Da kann ich meine Fragen loswerden, meine Zweifel loswerden, meine Hoffnung austauschen und erlebe eigentlich das, was im Heidelberger Katechismus so schön in der ersten Frage heißt: was mir Trost und Halt im Leben und im Sterben gibt.
Denn Glaube braucht Gemeinschaft. Schon ganz am Anfang der Bibel heißt es: es ist nicht gut, wenn der Mensch alleine ist. Aber genau das erleben Gläubige zurzeit häufiger, wenn sie am Sonntag in die Kirche gehen. Da sitzen sie dann fast alleine. Tim Kaufmann möchte die Lebendigkeit der Kirche aber nicht allein am Gottesdienstbesuch messen:
Über schlechten Gottesdienstbesuch hat man sich auch schon vor 200 Jahren beklagt. Natürlich bei ganz anderen Zahlen. Aber es gibt zum Beispiel vom Theologen Friedrich Schleiermacher ein Zitat, der sagt: „Es kommt eigentlich niemand, um meine Predigt zu hören. Die kommen alle entweder, weil ich sie im Examen prüfe oder weil sie von zuhause aus müssen oder weil sie die jungen Männer oder jungen Frauen sehen wollen, aber nicht, um an meinem Gottesdienst teilzunehmen.“ Also, das ist so alt wie die Kirche selber, glaube ich, dass man sich beklagt, dass zu wenig kommen.
Wenn nicht im Gottesdienst – wo trifft man sie dann, die Gemeinschaft der Gläubigen, aus der die Kirche doch besteht. Für Tim Kaufmann ist klar: da, wo Menschen ins Gespräch kommen über die wirklich wichtigen Dinge. Aber das ist gar nicht so einfach:
Also ich denke, vielleicht ist das ein Abbruch, der schon viel früher passiert ist, dass wir das so ein bisschen verlernt haben, uns darüber auszutauschen, weil Glauben halt auch Privatsache ist und man da nicht öffentlich darüber redet. Manchmal hat man das Gefühl, man redet mehr über Themen von Sexualität als … über Glauben und Hoffnung.
Es geht in den Erprobungsräumen also auch darum, sich im Austausch zu üben. Und dabei muss Kirche wortwörtlich auch mal über die Kirchenbänke hinausdenken, findet Tim Kaufmann:
Oft geht es vielleicht gar nicht darum, unsere Räume zu öffnen, sondern zu entdecken, wo das Gespräch stattfindet. Also vielleicht so ein bisschen wie auch früher, bei den ersten Christen. Da war es ja auch nicht so, dass es schon eine Infrastruktur gab, sondern die Dinge erst mal da stattfanden, wo sich die Leute versammelt haben, also entweder in den jüdischen Gemeinschaften oder eben auf den Marktplätzen der antiken Städte … oder bei Leuten zu Hause, die irgendwie einflussreich waren und Leute versammelt haben, also dass man wieder in den öffentlichen Raum kommt, sozusagen und sich da anschließt, wo Gespräche entstehen.
Tim Kaufmann ist Pfarrer und leitet das Laboratorium der evangelischen Kirche in der Pfalz. Dort werden Projekte von Kirchengemeinden unterstützt, die Neues ausprobieren.
Eine dieser spannenden Ideen ist in der Tat das Küchengespräch aus Finkenbach, die eben wirklich ganz einfach angefangen haben. Mit Gesprächen in der Küche: kennt man von jeder Party, dass die besten Gespräche in der Küche stattfinden. Die haben eine Einbauküche in einem leeren Pfarrhaus. Und da haben Sie angefangen, sich zu treffen mit Leuten aus dem Ort, mit Landwirten, mit Politikern, haben auch Leute eingeladen, gezielt. Und da ist einfach wirklich ein Gespräch darüber entstanden, was vor Ort passiert, was vor Ort die Themen sind und was vor Ort gebraucht wird.
Kirche in der Küche – Gemeinschaft am Küchentisch. Mich erinnert das daran: ganz am Anfang haben Christen sich auch am Tisch getroffen. Sie haben sich zum gemeinsamen Essen versammelt um sich auszutauschen über ihren Glauben. Für Tim Kaufmann zeigt sich an dem Beispiel aber noch etwas:
Das Spannende ist, dass wir also beobachten, dass manchmal die innovativen Aufbrüche jetzt auch nicht aus den Großstädten kommen. … Finkenbach ist jetzt alles andere als urban gelegen, und es ist halt ein echtes Dorf in der Nordpfalz. Insofern, da kommen manchmal auch die Ideen her, wo Leute wirklich was anpacken, weil die eine ganz andere Wahrnehmung dafür haben, was vor Ort gebraucht wird und auch vielleicht schneller merken, dass so herkömmliche Lösungen, wie sie jetzt oft probiert werden, dass man einfach größere Einheiten bildet und so in den Regionen eben nicht funktionieren, weil es eben wirklich weit ist in den nächsten Ort.
Für Tim Kaufmann ist die Erneuerung der Kirche eine Erneuerung von innen. Das leuchtet mir ein: denn ob eine Gemeinschaft wirklich trägt, hängt ja davon ob, wie sehr sich die einzelnen dazugehörig fühlen. Das kann von außen gar nicht verordnet werden. Für Kirche heißt das:
Es muss klar sein: Leben vor Ort und Kirchengemeinde vor Ort hängt nicht am Pfarrer, sondern hängt eigentlich an den Menschen vor Ort, die vor Ort ihren Glauben leben. … Der Apostel Paulus hat in den Gemeinden, denen er Briefe geschrieben hat, nicht als erstes ein Gemeindehaus, eine Kirche gebaut, sondern hat Leute da versammelt, die das gemeinsam gemacht haben, auch wenn er weg war, bis hin zur Gemeinde in Rom, wo die Leute sogar schon vorher da waren, bevor er überhaupt da angekommen wäre. Also das funktioniert scheinbar auch ohne hauptamtliches Personal ganz gut. Und da sollten wir wieder hinkommen, dass wir das lernen, dass jeder einzelne Gemeinde ist und diese Gemeinschaft das ist, was uns ausmacht und nicht nur Organisationsformen oder eine Struktur.
Nur zusammen bleibt der Glaube lebendig – wenn aus vielen Ichs ein Wir wird. Tim Kaufmann sieht darin das bleibende Fundament der Kirche:
… das ist eines der Kernanliegen unseres Lebens als Christ, dass wir irgendwie eine Gemeinschaft und eine Geborgenheit erleben wollen mit Gott. Und dann natürlich auch bei anderen Menschen…. Das ist im Endeffekt das, was wir, wenn wir als Kirche fortbestehen wollen, brauchen, dass die Leute eben nicht nur eine Heimat in ihrem Dorf haben, sondern eben dann auch in ihrer Kirchengemeinde.
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Stille als Widerstandskraft?
Die Tage werden kürzer und so wie sich die Natur immer weiter in sich zurückzieht, spüre auch ich: Ich sehne mich nach Einkehr und Ruhe. So bin ich auf die Fotografin und Autorin aufmerksam geworden. Sie hat ein Buch über die Stille geschrieben. Darin porträtiert sie ganz unterschiedliche Menschen, die etwas über Ihre Erfahrungen mit Stille erzählen:
beginnend mit dem Astronauten, der einen Blick von oben auf die Welt wirft und kurz daran erinnert, was für ein wahnsinniges Wunder es ist, dass Leben auf diesem Planeten entstanden ist. Gefolgt von der Höhlenforscherin und Mikrobiologin, die dasselbe veranschaulicht, was für ein wahnsinniges Wunder ist, wie vom Einzeller der Mehrzeller bis zu unserer Menschheit eben entstand. Dann kommt die Hebamme, die uns … mit der Geburt in die Welt bringt, was alle Wesen auf dieser Welt eint. Und am Schluss endet das mit dem Sterbehelfer und Hospiz Begründer, der eben über Stille und den Tod spricht. Und alle anderen dazwischen wollen uns daran erinnern, dass wir eine Hommage an das Leben geben und dass Stille eine große Einladung ist, die uns hilft, dieses Leben zu feiern.
Für Manu Theobald ist klar: Stille verbindet die Menschen: miteinander, aber auch mit etwas, das über jeden und jede einzelne hinausgeht:
Also die Stille ist auf jeden Fall eine Brücke, ein großer Verbinder in einen wesentlich größeren Raum.
Ich erlebe diese stille Verbindung zu einem größeren Raum im Gebet. Aus christlicher Sicht ist das eine Möglichkeit, sich Gott zu nähern. Manu Theobald möchte den Begriff jedoch weiter fassen. Für sie sind es allgemeine menschliche Fragen, die sich in der Stille klären können. Ganz unabhängig davon, zu welchem Glauben man sich bekennt oder ob man überhaupt glaubt:
Also wie kann ich der Unvorhersehbarkeit des Lebens aus einer inneren Stabilität heraus begegnen? Wie kann ich mit so viel Prägung und gesellschaftlichen Vorgaben zu einem selbstbestimmten Leben finden? Wie kann ich meine Sinne weiter befeuern und nicht verkümmern lassen?
Die unterschiedlichen Menschen in Theobalds Buch haben diese Fragen auf verschiedene Weise für sich beantwortet. Was sie alle miteinander verbindet ist, dass die Stille ihnen dabei geholfen hat. Und noch etwas haben die Porträtierten gemein:
Menschen … die vor allen Dingen eint, dass sie große Widrigkeiten in ihrem Leben überwunden haben und damit uns wahnsinnig beispielgebende Vorbilder sind, auch in ihren Geschichten, an denen sie uns teilhaben lassen. Wie sie rangegangen sind, wie sie Ängste überwunden haben, wie sie Berufsziele verwirklicht haben, obwohl Fakten erstmal dagegen sprechen, wenn eine Frau, die … ihr Gehör verloren hat, Musikerin werden möchte oder ein Mann, der ohne Augenlicht zur Welt kommt, eben Extremkletterer werden möchte und sie es aber trotzdem hinbekommen haben.
Stille als Lebenskraft
Manu Theobald ist Fotografin und Autorin. In ihrem Buch hat sie verschiedene Menschen porträtiert, die erzählen, was Stille für sie bedeutet. Was mich beim Lesen besonders erstaunt hat: Alle verbinden Stille mit Lebendigkeit und Vitalität. Manu Theobald unterstreicht diesen Eindruck:
In der letztendlichen Konsequenz ist das Gegenteil von Stille tatsächlich der Tod, weil mit der Stille fängt ein bewussteres Leben an und damit auch ein sicherlich reichhaltigeres Leben. … Im Alltag, könnte man sagen, gibt es viele Gegenstücke zu Stille, die natürlich mit Lärm zu definieren sind. Oder auch Bewegungsstarre. … vielleicht auch Grobheit, Unbewusstheit, all das, was eigentlich verhindert, das Lebenzu huldigen.
Darum geht es Manu Theobald – dem Leben zu huldigen und es zu feiern.
eine Hommage an das Innehalten und Lauschen. Eine Einladung, sich mit allen Sinnen für das Wunder Leben zu öffnen.
Und dabei zu neu zu spüren, wie alles Lebendige miteinander verbunden ist. Als Theologin würde ich sagen: einzuüben, sich als Geschöpf zu verstehen. Manu Theobald kann das am Besten in der Natur:
weil die Natur uns natürlich sofort vergegenwärtigt, dass wir Teil eines größeren Konzeptes sind. Und das ist jedem Menschen klar, wenn er in den Sternenhimmel guckt, dass die Dimensionen sehr groß sind und die Relationen auch. Und oftmals relativiert das auch tatsächlich die Probleme oder das Um-sich-selbst-Kreisen… Und tatsächlich ist es in der Natur so, dass man sehr schnell Beobachter wird, anderer und selbstvergessener wird. Und das schätze ich sehr daran, dass es sofort so ein Shiftwechsel gibt.
Neben der Natur sind für mich auch Kirchen solche Orte der Unterbrechung. Wo ich zur Ruhe kommen kann – und es durch die äußere Stille auch still wird in mir. In der Stille spüre ich, wie ich wieder in Kontakt komme mit mir selbst. Meistens hilft mir das im Alltagstrubel besser zu bestehen. Manu Theobald wünscht sich, dass immer mehr Menschen, die Stille für sich entdecken.
Ich würde mich freuen, wenn viele Menschen versuchen, Stille in ihren Tag einzubauen, indem sie immer wieder innehalten und anfangen, eine Art geistige Hygiene zu kultivieren. Indem man mitbekommt, was denke ich überhaupt, was passiert gerade eben überhaupt, was gibt es zu tun und damit vielleicht etwas in ihrem Leben kultivieren, was sie mit einer körperlichen Hygiene selbst längst als selbstverständlich empfinden.
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Janine Knoop-Bauer trifft Olaf Jacobsen-Vollmer, Leiter der Beratungsstellen
Diplom-Psychologe, Systemischer Paar- und Familientherapeut (DGSF)
Halt geben, ohne den Halt zu verlieren
Mentale Gesundheit ist ein großes Thema. Die Frage: wie gehe ich mit Krisen um? Und wer oder was hilft mir, wenn ich nicht weiterweiß? Einer der in solchen Situationen helfen kann ist Olaf Jacobsen-Vollmer. Er ist Psychologe und leitet eine kirchliche Beratungsstelle. Überforderte Eltern, Menschen in schwierigen Trennungssituationen, aber auch Jugendliche mit psychischen Problemen finden dort eine offene Tür.
Wir bieten den Menschen, die zu uns kommen, einen geschützten Ort, an dem sie ihre persönlichen Probleme und Krisen besprechen können und in denen wir gemeinsame Lösungen erarbeiten können. Und dazu nutzen wir eine ganz breite Palette beraterischer und therapeutischer Methoden, um den Ratsuchenden in Bezug auf die eigene Selbstwirksamkeit zu helfen, so dass sie ihre Themen, ihre Krisen selbst bewältigen können.
Wer sich machtlos den eigenen Problemen ausgeliefert fühlt, verliert schnell das Wissen um die eigenen Stärken. Gemeinsam mit den Menschen, die zu ihm kommen, begibt sich Olaf Jacobsen-Vollmer deshalb auf die Suche. Manchmal mit einer einzelnen Person, manchmal sogar zusammen mit einer ganzen Familie, wenn der Zusammenhalt bröckelt. Er sagt: manchmal stehen die Menschen wie hypnotisiert vor ihren Problemen. Dann braucht es einen der den Bann löst und hilft das Denken in neue Bahnen zu lenken:
... dazu kann man manchmal eine Sichtweise verändern. Manchmal braucht es noch mal Netzwerke, die man aktiviert, oder neue Methoden. Kompetenzen, die man erlangt, um die Krisen, die Herausforderungen, die da vor einem stehen, zu bewältigen. Und vor allem, dass man das Gefühl hat ich bin fähig, das zu tun.
Doch bis sich dieses Gefühl einstellt, dauert es manchmal eine Weile. Besonders wenn ganze Familien zur Beratung kommen. Da kann es vorkommen, dass eine lange Geschichte von Verletzungen hinter einem Problem liegt. Da ist es wichtig zunächst eine Vertrauensgrundlage zu schaffen.
Wir versuchen allparteilich zu sein und die Menschen so wie sie sind, anzunehmen, dass wir sie nicht moralisch verurteilen oder sie in irgendeiner Art und Weise bewerten, sondern sie erst mal so annehmen, wie sie da sind und sie in ihrer Notlage zu sehen und zu erkennen und das auch zu würdigen. Das ist ein ganz wichtiger Teil unserer Haltung, weil sich damit Menschen in der Regel angenommen fühlen und in der Regel das Gefühl haben, sich hier auch ausreichend öffnen zu können, um in Prozesse einzusteigen.
Olaf Jacobsen-Vollmer leitet eine psychologische Beratungsstelle der evangelischen Kirche. Ich habe ihn gefragt, was das Besondere an der Arbeit dort ist:
Wir versuchen, dass hilfesuchende Menschen in der Begegnung, im konkreten Miteinander spüren, dass wir sie aus einer christlichen Grundhaltung heraus als Menschen mit all ihren Möglichkeiten Grenzen, Besonderheiten und Herausforderungen annehmen. Dass wir da nicht werten oder moralisch werden. (…) Wir nehmen uns vor, dass es gelingt, dass wir in dieser Begegnung zwischen den Menschen ein Stück weit die Liebe und die Zuwendung Gottes zwischen den Menschen spürbar machen. Dass wir in der Hinwendung zu den Ratsuchenden ein Stück weit auch Kirche erfahrbar und lebbar machen.
Wenn ich das höre dann denke ich: die Kirche ist bei dieser Arbeit sehr nah an ihren Wurzeln. Auch Jesus hat sich denen zugewandt, die um Hilfe gebeten haben. Er hatte ein offenes Ohr und hat dem Leben vieler Hilfesuchender eine heilsame Wendung gegeben. Olaf Jacobsen-Vollmer bringt es auf den Punkt:
In den seelsorgerischen Bereichen, in denen Kirche Menschen in Not und Krisensituationen beisteht. Das sind Bereiche, in denen Kirche Menschen Halt gibt.
Olaf Jacobsen-Vollmer ist selbst Familienvater. Er weiß: es gibt Situationen bei seiner Arbeit, die kommen ihm sehr nah. Damit er da als Seelsorger Halt geben kann besinnt er sich immer wieder auf Gesprächs-Regeln:
Ich bin ich und du bist du. Und du hast in deinen Bezügen vielleicht auch gerade ganz andere Herausforderungen. Und es ist gut und wichtig, das zu verstehen und darüber zu schauen und sich da rein zu fühlen. Aber sich eben nicht reinziehen zu lassen und dann quasi auf dem Stuhl des anderen zu sitzen, das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Das würde mich auch selbst hilflos machen. Wenn ich nämlich dann in diesem Problem sitze und es vielleicht auch noch für die andere Person lösen möchte. Das wird nicht funktionieren. Ich brauche selbst eine stabile und feste Basis, um der anderen Person ein Halt sein zu können.
Eine wertschätzende Distanz ist wichtig, so verstehe ich das. Und ich glaube, wenn Menschen so miteinander umgehen, dann gibt es seltener Grenzüberschreitungen. Dann können sich Hilfesuchende sicher fühlen. Und die Helfenden sind auch geschützt. Zusätzlich gibt es für Olaf Jacobsen-Vollmer aber auch noch einen ganz persönlichen Anker, der ihm hilft, denen zu helfen, die sich an die Evangelisch-Psychologische Beratungsstelle wenden.
Also, ich bin ein sehr kritischer Gläubiger und Angenommensein ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt meines persönlichen Glaubens, dass ich als Mensch angenommen bin, wie ich bin. Und das gibt mir einen ganz tiefen Trost. Und das gibt mir auch Halt und Kraft für meine Arbeit, dass ich das, was ich selbst für mich glaube, dass ich das in meiner Arbeit einbringen kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40851SWR1 3vor8
Als wir Kinder waren, hatte meine Freundin Diana über ihrem Bett ein Bild hängen. Darauf zwei Kinder, die Hand in Hand auf einen Abgrund zulaufen. Doch genau dort – an der Abbruchkante – steht ein Engel und hindert die beiden daran, in die Schlucht zu stürzen. Ein Schutzengel, mit liebevoll strengem Gesicht und goldenen Flügeln. Ich fand das Bild immer ein bisschen gruselig. Aber ich war auch neidisch. Meine Freundin war katholisch und lange habe ich gedacht, dass nur katholische Kinder Schutzengel haben.
Heute am Tag des Erzengel Michael und aller Engel wird nun aber auch in manchen Evangelischen Kirchen über einen Engel gepredigt. Und über die biblische Geschichte, wie Gott diesen Engel zum Propheten Bileam schickt. Bileam steuert nämlich auch auf einen Abgrund zu. Jedenfalls begibt er sich in große Gefahr. Sein Herr, König Balak von Moab, ruft nach ihm. Durch einen Fluch soll helfen, das Volk Israel zu vertreiben, das direkt vor der Hauptstadt Moabs sein Lager aufgeschlagen hat. Gott warnt Bileam, den Auftrag anzunehmen. Deshalb weigert sich Bileam zunächst. Aber irgendwann sattelt er doch seine Eselin und macht sich auf den Weg, denn Balak verspricht ihm reichen Lohn. Auf dem Weg kommt es zu einem Zwischenfall: Balaks Eselin weigert sich auf dem Weg zu bleiben. Bileam wird ärgerlich und schlägt die Eselin sogar. Da dreht die sich um und spricht zu Bileam. Als erstes erinnert sie Bileam daran, dass sie ihm immer eine treue Begleiterin gewesen ist. Sie hat nicht verdient geschlagen zu werden. Und dann weist sie ihn auf den Engel hin, der sich den beiden in den Weg gestellt hat. Und erst da sieht auch Bileam den Boten Gottes. Aber es ist kein Schutzengel mit liebevoll strengem Blick. Sondern einer mit dem Schwert in der Hand – bereit Bileam aufzuhalten und sogar zu vernichten. Gott hatte ihn ja gewarnt, dass er es nicht zulassen würde, dass sein Volk verflucht wird. Trotzdem lässt Gott Bileam nicht einfach in sein Verderben rennen. Gott setzt alles daran, Bileam vor einem großen Fehler zu bewahren. Er schickt ihm zwar keinen Schutzengel, dafür aber eine Eselin. Und die öffnet ihm die Augen. So versteht Bileam schließlich, was Gott von ihm erwartet. Bileam reitet zwar zum König, aber er verflucht das Volk Israel nicht. Im Gegenteil: er segnet das Volk. Er hält sich an Gottes Auftrag.
Vielleicht schickt Gott nicht immer einen Engel, der mich beschützt so wie auf dem Bild im Kinderzimmer meiner Freundin. Seine Boten und Botinnen kommen in ganz unterschiedlichen Gestalten. Manchmal sogar in tierischer. Aber immer so, dass sie es gut mit mir meinen. Und das ist ganz unabhängig davon zu welcher Konfession ich gehöre. Also Augen auf und Ohren auch – vielleicht kreuzt heute ja einer Ihren Weg oder begleitet sie schon lange treu und ergeben – wie die Eselin den Bileam.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40717Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Wir misten meinen Schrank aus. „Willst Du das nicht wegschmeißen?“ Meine Freundin hält mir ein ausgeblichenes Stück Stoff entgegen. Es ist verwaschen Türkis, man erahnt noch ein blaues gedrucktes Muster. Regenbogenbunte Lurexfäden sind eingewebt. Und um das ganze herum schimmernde Fransen. Ich nehme ihr das Tuch aus der Hand und drücke es instinktiv an meine Nase.
Nein – es riecht nicht mehr nach dem Parfüm meiner Mutter. So wie früher, wenn ich es aus ihrem Schrank stibitzt habe, um mich als Prinzessin zu verkleiden. Wenn ich es mir damals als Umhang um die Schultern gelegt habe, kam es mir vor wie das edelste und vornehmste Kleidungsstück auf der Welt. Als ich älter war, habe ich es mir dann manchmal als Turban um die hennagefärbten Haare gewickelt.
Viele Jahre lag es dann einfach vergessen in meinem Schrank. Bis es mein Sohn entdeckt hat. Da muss er ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Und in seiner Vorstellung war das die perfekte Schärpe für einen wilden Piraten. Oder das magische Tuch eines meisterhaften Zauberers. Oder die Gardine vor dem Fenster der Sofakissenburg.
Wenn jemand heute das Tuch anschaut, sieht er ein schäbiges, abgetragenes Stück Stoff. Wenn ich es anschaue, öffnet sich ein Fenster in eine vergangene Zeit und viele Geschichten fallen mir wieder ein. Ich wünsche mir, dass sich jemand an diese Geschichten erinnert. Dass sie erhalten bleiben und das verbinde ich mit dem Tuch. Aber ich weiß auch, dass meine Geschichten noch an anderer Stelle aufgehoben sind. Ob ich sitze oder stehe, so weißt Du es – so betet einer in der Bibel. Ich glaube Gott kennt meine Geschichten – war dabei, als ich Prinzessin war und war dabei, als ich zur Piratenmutter wurde. Bei ihm geht nichts verloren. Das tröstet mich.
Das Tuch bleibt aber trotzdem. Denn es hilft mir, dass auch ich nicht vergesse. Deshalb sage ich zu meiner Freundin: „Nein! Das will ich nicht wegschmeißen. Das bleibt. Da ist meine Geschichte eingewebt und an die will ich mich erinnern.“
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Ich stehe in der Straßenbahn in Mainz. Offenbar haben viele Schulen gerade Schulschluss, denn es ist ziemlich voll. Ich bin eingeklemmt zwischen lauter Schulranzen; umringt von Schülern und Schülerinnen in allen Größen. Ich halte Ausschau nach ein bisschen mehr Platz und nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Da fällt mein Blick auf ein Schild: Suche beim Stehen festen Halt! steht da in großen schwarzen Buchstaben auf weißer Emaille. Würde ich gerne, denke ich. Und fische mit der Hand nach einem Haltegurt, der von der Decke baumelt. Ob der mir sicheren Halt gibt? Zumindest falle ich nicht gleich um, wenn die Bahn bremst.
Suchen Sie festen Halt. Das gilt ja nicht nur in der Straßenbahn, überlege ich. Wie oft sucht man im Leben nach einem festen Halt. Besonders, wenn sich was verändert. Und ich habe das Gefühl es ändert sich ständig irgendwas. Zum Beispiel meine Kinder: eben waren sie noch klein und anhänglich und plötzlich sind sie junge Erwachsene. Da wünsche ich mir oft etwas, an das ich mich halten kann – das mir Halt gibt. Denn woher soll ich wissen, was sie brauchen? Es ist ja das erste Mal, dass ich ältere Kinder habe. Ich konnte das nicht üben. Und ich sehe den Kindern an, die bräuchten wirklich einen festen Halt. Denn auch für sie ist alles neu, was passiert. Lauter erste Male. Erster Urlaub alleine. Erstes Date. Erster Kuss. Ich wäre gerne der Halt, den sie brauchen. Aber wer hält mich? In der Bibel verspricht Gott an einer Stelle: Ich halte Dich an Deiner rechten Hand und ich sage Dir: hab keine Angst! Ob das ein sicherer Halt ist? Das Wort eines unsichtbaren Gottes? Eine unsichtbare Hand, die meine hält? Die Straßenbahn bremst. Ein Junge mit samt Schulranzen fliegt mir entgegen. Ich umklammere den Haltegurt fest mit der rechten Hand. Mit der freien Hand stütze ich das Kind. Es geht gut. Er fällt nicht. Und auch ich falle nicht um. Es kommt wohl auf den Versuch an, denke ich. Und darauf, voller Vertrauen den Halt zu ergreifen, der sich Dir bietet. In der Straßenbahn und im Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40710Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Gestern haben auf vielen Tischen wieder die Sonntagsbraten gedampft. Und es ist ja auch lecker. Als ich ein Kind war, hatten wir Kaninchen. Keine Zwergkaninchen, sondern eher das Gegenteil: Deutsche Riesen, so heißt die Rasse. Wir hatten immer mindestens zwei Zippen, also weibliche Kaninchen, und einen Bock. Und im Frühling gab es Nachwuchs. Das war immer sehr niedlich. Aber wir hatten die Kaninchen nicht zum Kuscheln. Einmal im Jahr wurde geschlachtet. Und dann waren die Kaninchenställe leer und die Tiefkühltruhe voll. Heute bin ich Vegetarierin. Aber das hat gar nicht so viel mit den Kaninchen von damals zu tun. Heute esse ich kein Fleisch, weil ich die Vorstellung von Massentierhaltung und industriellen Schlachthöfen nicht ertrage. Bei uns zu Hause habe ich dagegen den ganzen Kreislauf mitbekommen. Ich habe die Kaninchen aufwachsen sehen. Ställe gemistet, Grünfutter geschnitten und die Tiere vom Freigehege zurück in die Ställe getragen. Und am Tag der Schlachtung herrschte bei uns eine besondere Atmosphäre. Es war stiller. Denn es war klar: Was heute passiert, ist schrecklich. Meinem Vater ist das Schlachten nicht leichtgefallen. Aber er wollte nicht auf Fleisch verzichten und so war das für ihn die notwendige Konsequenz.
Ich vermute, wenn alle Menschen ihr Fleisch selbst erlegen müssten, dann würde sich das mit Massentierhaltung von selbst erledigen. Ich kenne nämlich viele Menschen, die lieber vegetarisch leben würden, als ein Tier zu schlachten. Jesus hat Fleisch gegessen. Und ganz sicher war er mit dem Schlachten und allem, was dazu gehört, vertraut. Viele seiner Jünger waren Fischer. Auch die wussten: Wer einen Fisch essen will, muss einen Fisch töten.
Ich bin mir also nicht sicher, ob Jesus heute Vegetarier wäre. Aber ich bin mir sicher, dass er den industriellen Umgang mit den Tieren nicht gut finden würde. Als gläubiger Jude wusste er sich eingebunden in die Schöpfung, verbunden mit allen Kreaturen. Er hätte nicht gewollt, dass eine davon unnötig leidet.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40709SWR1 Anstöße sonn- und feiertags
Sie steht vor dem Spiegel und sieht sich an. Sie trägt ihr altes Hochzeitskleid. Fast 20 Jahre ist die Hochzeit mittlerweile her. Das Kleid passt nicht mehr ganz. Kein Wunder: Ihr Körper hat sich in den Jahren verändert. Drei Schwangerschaften, Krankheiten, seit neuestem die Wechseljahre… aber auch viel gutes Essen und Lebenslust haben ihre Spuren hinterlassen. Heute – mit dem Kleid vor dem Spiegel - ist plötzlich ganz viel von dem alten Gefühl wieder da. Sie erinnert sich ganz genau: wie aufgeregt sie damals gewesen ist und wie glücklich. Wie sehr sie sich auf den Tag gefreut hat. Auf das gemeinsame Leben mit ihrem Mann, das da so offen und weit vor ihnen lag. Sie haben sich gemeinsam umgezogen in ihrer kleinen Wohnung und sind dann zu Fuß Hand in Hand den kurzen Weg zur Kirche gegangen. Und da haben alle schon auf sie gewartet: Familien, Freunde und Freundinnen. Gottes Segen wurde ihnen zugesprochen und dann haben sie gefeiert und getanzt. Ein richtiges Lebensfest. Und sie hat sich getragen gefühlt von etwas, das größer war als sie beide als Paar.
So viel ist seitdem geschehen. Manche Träume von damals haben sich erfüllt und manche sind geplatzt. Menschen sind gestorben und neue geboren worden. Freundschaften haben sich verändert, manche sind auch zerbrochen, aber andere dafür stärker und intensiver geworden. Auch die Liebe stand manchmal auf dem Spiel. Die junge Frau, die sie damals gewesen ist, hat davon nichts geahnt. Heute fühlt sie sich ihr sehr nah. Am liebsten würde sie sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass ihr Leben wunderschön wird und auch schrecklich. Wild und aufregend; streckenweise auch furchtbar langweilig und manchmal kaum zum Aushalten. Sie möchte ihr sagen, wie stolz sie auf sie ist, weil sie das alles gemeistert hat. Dass es nicht immer leicht gewesen ist, aber dass dieses Gefühl von damals bleiben wird. Das Gefühl getragen zu sein von etwas, das größer ist als sie selbst. Von der Liebe, von Freunden und Freundinnen und von Gottes Segen. Sie zieht das Kleid aus und hängt es zurück in den Schrank. Aber die Erinnerung ist wieder neu und stark.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40708SWR1 Begegnungen


Die Kunsthistorikerin Dr. Katharina Henkel kuratiert derzeit eine Ausstellung bei den internationalen Tagen in Ingelheim. Frösche, Feuer, Finsternis, so heißt der Titel. Es geht um die 10 biblischen Plagen. Anfang des 18. Jahrhunderts hat der niederländische Künstler Jan Luyken diese Plagen illustriert: 10 großformatige Radierungen sind so entstanden. Durch einen befreundeten Künstler hat Katharina Henkel die Bilder in die Hände bekommen und sie war gleich fasziniert von den detailreichen Darstellungen. Auch, weil sie einen biografischen Bezug zum biblischen Text hat:
Ich bin ein Kunsthistoriker mit Leib und Seele, habe aber in den Nebenfächern klassische Archäologie studiert und hatte im Nebenfach die biblische Archäologie, ein kleiner Fachbereich der Theologie. Das heißt, ich habe nicht Theologie studiert, sondern tatsächlich die biblische Archäologie.
Und dabei hat sie sich besonders intensiv mit der Geschichte befasst, die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten handelt. Da wird im 2. Buch der Bibel erzählt, wie Mose versucht, den Pharao davon zu überzeugen, die Israeliten, die er als Sklaven für sich arbeiten lässt, freizulassen. Als dieser sich weigert, schickt Gott eben jene 10 fürchterlichen Plagen über das Land. Darunter auch besagte Frösche und eine unheilvolle Finsternis. Jan Luyken erweckt die biblische Geschichte in seinen Bildern zum Leben. Auf jedem einzelnen der 10 Blätter gibt es unendlich viel zu entdecken.
Also ich glaube, Wimmelbilder faszinieren Menschen grundsätzlich. Nicht umsonst bekommen ja kleine Kinder auch Bücher geschenkt, um sich die Welt durch das Schauen selbst zu erarbeiten oder zu entdecken. Und so geht uns das natürlich auch. Wir schauen genau hin, haben das Gefühl, wir können es erfassen und dann tun sich aber neue Details auf und es braucht eine gewisse Zeit, glaube ich, bis man sich diese einzelnen Blätter sie sind Gott sei Dank relativ großformatig erschließen kann.
Also es spielen sich wirklich dramatische Szenen ab und ich denke, wenn man die Bibelpassage tatsächlich kennt, wenn man diese Kapitel vor Augen hat und liest und dann diese Bilder sieht, man hätte es glaube ich, selber nicht besser darstellen können. Also die Bilder, die im Kopf entstehen, die werden sehr schön durch Jan Luyken visualisiert.
Für die Ausstellung hat Katharina Henkel 10 zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen gebeten, sich mit den Bildern von Jan Luyken auseinander zu setzen und sie neu zu interpretieren. Ich habe Katharina Henkel gefragt, warum man sich heute mit den biblischen Plagen beschäftigen sollte.
Ich denke, dass wir Menschen aus der Geschichte ja selten wirklich lernen, sich bestimmte geschichtliche, historische Abläufe, Szenarien, Dramen und ein Chaos sich immer wiederholt. Die Abstände sind unterschiedlich lang, aber dass es immer wieder zu Kriegen kommt, dass im in Menschen vielleicht auch das installiert ist, andere dominieren zu wollen, im Extremfall unterdrücken zu wollen. Und ich denke, gerade die Corona Plage hat sehr deutlich gezeigt, dass wir trotz aller medizinischen Mittel, besonders großen Katastrophen hinterherhinken. Also wir können sie nicht vorhersehen….
Und das finde ich das Faszinierende, aber natürlich auch gleichzeitig das Erschreckende, dass sich bestimmte Dinge nicht ändern oder Menschen mit bestimmten Themen konfrontiert werden, die Jahrhunderte, Jahrtausende alt sind.
Es gefällt mir, dass in der Ausstellung Künstler und Künstlerinnen die Aufgabe übernehmen, diese alten Themen neu zu deuten. Anders als Jan Luyken illustrieren sie nicht nur akribisch die biblische Vorlage, sondern interpretieren sie ganz neu für das 21. Jahrhundert. Katharina Henkel meint:
In der Kunstgeschichte wird immer behauptet, dass die Künstler die Seismographen der Gesellschaft sind, also dass sie dadurch, dass sie sensibler sein sollen, empfindsamer sein sollen, Probleme über schwierige Situationen früher wahrnehmen und dann auch darstellen, als es der Rest der Gesellschaft tut.
Mit ihren künstlerischen Mitteln haben die Beteiligten dargestellt, worin heute Plagen biblischen Ausmaßes bestehen könnten. Dabei sind ganz unterschiedliche Aspekte menschlichen Leids zum Ausdruck gekommen. Sehr persönliche, aber auch Themen, die die gesamte Menschheit angehen. Es fällt auf: wo die biblischen Texte noch Gott als den Verursacher der Plagen ausmachen, rücken die zeitgenössischen Werke den Menschen in den Mittelpunkt:
Also ein Künstler hat sich ja mit dem Klimawandel beschäftigt, der uns natürlich massiv jetzt trifft. Also wir wissen davon ja seit vielen Jahrzehnten, aber jetzt bekommen wir ja die Folgen des Klimawandels zu spüren. Und ich denke, da kann auch kaum noch jemand leugnen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Und er hat sich explizit mit diesem Thema der klimatischen Veränderung und der Auswirkung auf die Natur befasst.
Wichtig ist Katharina Henkel dabei, dass die Ausstellung nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Und erst recht nicht darum, den Untergang heraufzubeschwören. Vielmehr geht es ihr darum, Verantwortung wahrzunehmen und zu ergreifen.
Ich würde mir wünschen, dass diese Ausstellung zum Nachdenken anregt, dass wir vieles in der Hand haben, dass wir vieles verändern können, von dem, was es an Plagen immer schon gab und auch derzeit gibt. Also, dass wirklich immer noch die Hoffnung besteht, dass wir unsere Welt zu einer besseren Welt machen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40642SWR1 Begegnungen
Die Kraft der Zeuginnen
Wir sprechen über Ihr Buch: Trotzkraft heißt es. Die Texte und Gebete darin sprechen mir oft aus der Seele und berühren mich. Trotzkraft, frage ich sie, was bedeutet diese Wort?
Also mein Mann, der wissenschaftlicher denkt, würde es Resilienz nennen. … Und ich habe gesagt eine Lyrikerin nennt das Trotzkraft, also alles in uns, was zum Widerstand fähig ist oder was „Ja!“ sagt, obwohl alles um uns herum vielleicht nach „Nein!“ schreit. Und ich glaube, in dieser Pandemie haben wir das alle erlebt, dass wir so eine Kraft brauchen. Aber auch in Alltagssituationen oder in den großen Krisen, die wir alle irgendwie erleben.
Christina Brudereck kennt das aus eigener Erfahrung, wie das ist, wenn das Leben ganz anders läuft, als man es sich gewünscht hätte: Ihre erste Ehe wurde geschieden, sie wäre gerne Mutter geworden… Aber trotz schmerzvoller Erfahrungen: Sie hält trotzig Kontakt zu Gott - als Suchende:
Ich gucke, was mir hilft, eine Liebende zu sein und mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Ich gucke auch nach dieser Trotzkraft, also ich suche diese Wirkmacht wirklich, die meinem Herzen diesen Schubs gibt, sagt: „Komm, versuch es noch mal! Vertrau noch mal! Du schaffst das, und du kannst das Gute im anderen sehn. Und du kannst Vertrauen!“ Und es geht weiter.
Ich spüre: sie meint was sie sagt. Mich beeindruckt die Natürlichkeit mit der sie von ihrem Glauben spricht – ungekünstelt und echt. Und mit Tiefe. Woher nimmt sie Ihr Vertrauen?
Wurzel ist ein sehr gutes Wort finde ich. Also weil ich bin damit aufgewachsen, wirklich. Und weil es so eine große Erzählgemeinschaft gibt. Also ich hab mir das ja nicht alleine ausgedacht. Ich habe nicht angefangen, irgendwann in der Pandemie mit 51 zu sagen. Jetzt gucke ich mal, wo ich Trotzkraft finde, sondern die gibt es in den Ritualen, die wir einüben, seit vielen, vielen Jahrhunderten einüben. Wenn ich selber sprachlos werde vor Wut oder vor Ohnmacht, dann rette ich mich in diese alten Worte und mache sie mir zu Eigen. Oder ich leihe sie mir. Oder es ist manchmal ein bisschen wie ein unterschlüpfen in einer viele ältere Tradition, als ich selber alt bin.
Besonders Ihre Großmütter haben Ihr vorgelebt, welche Stärke aus Gottvertrauen wachsen kann. Aber sie findet: wenn wir in die Geschichte unseres Glaubens schauen, dann können wir auch lernen von denen, die vor uns da waren.
Ich finde die besten Resilienz-Geschichten sind jüdische Geschichten. Das kann ich, glaube ich, nur sagen. Unsere Wurzeln trägt uns wirklich. Also ohne die hebräische Bibel könnte ich mir das nicht vorstellen, als Christin zu leben. Das Judentum ist wirklich unsere Mutterreligion. Und darin zu wurzeln heißt, wirklich auch etwas von dieser Kraft aufzunehmen.
Trotz allem – Zuversicht
Christina Brudereck ist Theologin und Künstlerin. Ich bewundere, wie sie als Autorin und Poetin versucht sie zur Sprache zu bringen wie das ist mit Gott. Zur Zeit würde sie Gott so beschreiben:
Gott ist das Größte was wir sagen können. Alle Bilder sind immer nur hilflose menschliche Versuche dieses geheimnis oder diese Wirkmacht irgendwie zu umschreiben, aber mir gefällt Freundin der Menschen schon sehr gut… Vielleicht eine mütterliche Freundin oder eine Welten Mutter, das mag ich auch sehr gern, dieses Bild. Eine die durchaus nicht nur lieb ist im Sinne von harmlos, sondern die durchaus sehr wütend werden kann und ordentlich Kraft hat, eben diese trotzige Kraft und sie uns auch verleiht.
Trotzkraft – Resilienz, die braucht es im privaten Leben. Eine innere Widerstandsfähigkeit, um es mit dem Leben aufzunehmen. Aber als Christin, davon ist Christina Brudereck überzeugt – geht es immer auch über das Private hinaus.
Ich finde, man kann als Mensch nicht unpolitisch sein, weil es uns hier angeht, wie die Welt ist. Und die Frage, in welcher Welt wir leben wollen oder in was für einer Gesellschaft wir leben wollen, uns alle angeht als Menschen und als Christin bin ich Mensch, daher kann ich nicht unpolitisch Christin sein.
Ich muss nicht bei jedem Problem selbst aktiv werden – das überfordert einen. Aber Anteilnehmen und Mitfühlen das schon.
Wir halten nicht alles aus. Das versteh ich verstehe, dass man nicht jedes Problem zu seinem eigenen machen kann. Aber wir können nicht in dieser Welt leben und sagen, das ist mir egal, weil es uns angeht und Empathie, finde ich, ist ein sehr, sehr guter Anfang, sich einmal zu überlegen wie wäre es denn, wenn ich das wäre?
Christina Brudereck bezeichnet sich selbst als Feministin. Wenn ich mich feministisch äußere erlebe ich oft: Für manche ist das immer noch ein rotes Tuch. Manche meinen: Feminismus braucht es nicht mehr! Christina Brudereck meint: doch!
Mich macht Sexismus sehr wütend, und wir erleben auch wie er immer wieder zurückkommt und doch immer wieder sich seinen Weg sucht. Und manchmal bin ich fassungslos und schüttel nur den Kopf, was Menschen denken und wie sie Frauen behandeln und Mädchen erziehen furchtbar. … Aber ich habe alle Freiheit und auch die Aufgabe, für Gleichwürdigkeit einzustehen. Und das Thema ist für Männer und Frauen nicht erledigt, für jede Orientierung, die wir leben, was auch immer unser Leben uns mitbringt. Das Thema Gleichwürdigkeit bleibt unsere Aufgabe.
Um Kraft für diese Aufgabe zu sammeln sucht Christina Brudereck nach Worten, die stärken. Und auch für uns hat Christina Brudereck etwas zur Stärkung. Vielleicht auch für Ihren Tag – damit sie voller Trotzkraft und Vertrauen leben können.
Das ist ein Gebet, das heißt: Hilf uns bei der heiligen Aufgabe der Zuversicht! Das ist vielleicht mein Lieblingsgebiet gerade. Hilf uns bei der heiligen Aufgabe der Zuversicht. Und ich mag daran die Zuversicht, weil sie ein Ergebnis der Trotzkraft ist, ein anderer Blick auf die Welt, der nicht immer nur das Schlimmste annimmt, aber auch nicht naiv ist. Es ist nicht einfach optimistisch oder Frohnatur, sondern es ist eine heilige Aufgabe. Aber die Zuversicht ist auch da.
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