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SWR2 Zum Feiertag
Die Auferstehung von den Toten ist für Christen die Hoffnung schlechthin. Das absolute Gegengewicht gegen den Tod. Eine erste Ahnung davon habe ich mit sechs oder sieben Jahren bekommen. Am Ostermorgen begann nämlich der Gottesdienst traditionsgemäß auf dem Friedhof, direkt am großen Kreuz zwischen den Gräbern. Und sicher hat der Pfarrer in seiner Predigt auch Paulus aus der Bibel zitiert und gesagt: «Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos» (1. Kor. 15, 14). Das erinnere ich aber nicht mehr genau. Ich weiß nur noch: Es hatte für mich als Kind etwas ungemein Beeindruckendes, Überzeugendes in der Morgensonne zu stehen, die Gräber ringsherum zu betrachten, und zu hören: Die, die hier liegen, sind nicht für immer tot.
Als Kind bin ich oft auf diesem Friedhof gewesen. Wir wohnten damals am Rand einer Großstadt mitten im Ruhrgebiet. Am Nachmittag, wenn die Sonne schien und es Zeit für den Spaziergang war, nahm mich meine Mutter an die Hand und ging mit mir auf den Friedhof.
Für Reisen hatten wir kein Geld, und der Friedhof bot immerhin einiges Grün, ohne weit fahren zu müssen. Friedhofsbesuche mit meiner Mutter waren überhaupt nicht traurig. Das erste, was sie sagte, wenn wir durch das schmiedeeiserne Tor traten, war:
„Ist das nicht eine himmlische Ruhe hier? Hier kann man doch endlich mal durchatmen. Und hörst du die Amsel?“ Draußen ratterte noch die Straßenbahn vorbei. Aber die Friedhofsmauer dämpfte den Krach. Zuallererst schaute meine Mutter immer auf das, was zwischen den Gräber wuchs und blühte. „Sieh doch mal, wie schön der Rhododendron hier.“ Und: „Hier müsste man auch mal ein bisschen Unkraut jäten. Alles zugewuchert. Um dies Grab kümmert sich wohl kein Mensch mehr.“ Dann ging sie mit mir an den Grabsteinen vorbei, blieb von Zeit zu Zeit stehen, und las mir die Aufschriften vor: “‘Dem Auge fern – dem Herzen nah‘; das ist doch schön“, und “Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Und „Hier schläft Karl Schmidt der Auferstehung entgegen.“
Sie kommentierte die Lebensdaten auf dem Grabstein: “Na, der hier ist ja nicht alt geworden, gerade mal 35 Jahre. Gott, so ein junger Mensch. Das muss ja für die Eltern fürchterlich gewesen sein. “ Vor der Stele, auf der die Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen Soldaten standen, machte sie ihrem ganzen Groll über ihre durch den 2. Weltkrieg verlorene Jugend Luft. “Die Menschen lernen es einfach nie. Wie können sie so dumm sein, immer wieder denselben Fehler zu machen und sich gegenseitig umbringen, nur weil das ein paar Politikern in den Kram passt?“ Wenn wir zu den ganz kleinen Gräbern kamen, den Kindergräber, erzählte sie mir immer, wie es war, als ihre kleine Schwester mit einem Jahr gestorben war. “Ich habe ihr noch das Totenhemdchen angezogen. Wie eine Puppe lag sie da.“
Das alles ist lange her. Ich habe seitdem viele Friedhöfe besucht. Von Berufswegen als Pfarrerin, im Urlaub und einfach, weil Friedhöfe gleichzeitig Parks sind, Großstadtoasen, Kult- und Kulturstätten. Die besten Orte, um sich klar zu werden, wie unwichtig vieles ist, was sich vor uns als große Sorgen aufbauscht. Man besucht eigentlich ja nur sich selbst, wenn man zu den Toten geht. Aus sicherer Distanz können Friedhofsbesucher als „Grenzgänger zwischen Diesseits und Jenseits“ (Gadamer) sehen, wie das Drama ihres Lebens ausgehen wird und gleichzeitig darauf schauen, wie die ersten Tulpen blühen. Und für Christen ist, wenn sie der Osterbotschaft Glauben schenken, der Tod eigentlich nichts, was sie fürchten müssten. Es gibt ein Danach, es gibt ein Wiedersehen, eine Auferstehung der Toten.
Auch Julian Barnes, dem Autor des wunderbaren Buches „Nichts, was man fürchten müsste“ gefällt der Gedanke der Auferstehung gut. „Die Geschichte von Jesus – hehre Mission, Auflehnung gegen die Unterdrücker, Verfolgung, Verrat, Hinrichtung, Wiederauferstehung“ ist für ihn „ein ideales Beispiel für die Formel, nach der Hollywood bekanntlich fieberhaft sucht: eine Tragödie mit Happy End.“ Aber gegen seine Todesangst kann dieses Happy End nichts ausrichten. Aus dieser tiefen Angst heraus hat Julian Barnes sich mit einer Menge von Ratschlägen, philosophischen und religiösen Gedanken beschäftigt, die versprechen, die quälenden Gedanken an das Sterben und den Tod in Schach zu halten. Aber er muss feststellen: Der Tod „lässt nicht mit sich reden oder durch schöne Worte in etwas anderes verwandeln, er weigert sich einfach, an den Verhandlungstisch zu kommen. Gott mag tot sein, aber dafür ist der Tod sehr lebendig“.
Julian Barnes ist ein passionierter Friedhofsbesucher, der die Gräber vieler berühmter Dichter, Maler und Philosophen besucht hat. Mit ihnen unterhält er sich im Geiste über den Tod und das Sterben. „Wer nur einen einzigen Tag wahrhaft und im vollsten Sinn gelebt hat, der hat alles gesehen.“, behauptet Montaigne. „Nein!“, widerspricht ihm Julian Barnes. „Selbst wer ein ganzes Jahr so gelebt hat, hat nicht alles gesehen.“ Und auch die Forderung, man sollte auf der Welt Platz machen für andere, wie andere für uns Platz gemacht haben, lässt Barnes nicht gelten. Er habe sie nicht darum gebeten zu gehen. Und das immer wieder vorgebrachte Argument überzeugt ihn nicht: „Alle Menschen müssen sterben. Wozu dann darüber klagen? Es ist nun einmal so. Barnes ist sich sicher, dass viele von ihnen „darüber bestimmt genauso sauer (sind) wie ich.“
Vielleicht, so vermutet Barnes, verläuft die Trennung gar nicht so sehr zwischen den religiösen und den unreligiösen Menschen, sondern zwischen solchen, die den Tod fürchten und solchen, die das nicht tun. Seine eigene Todesangst sei „im Laufe der Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil“ seiner selbst geworden, was er „dem Einsatz der Fantasie zuschreiben möchte.“
Und fantastisch hört sich auch sein Gedanke an: Was werden wohl die zu ihrer Auferstehung sagen, die zu Lebzeiten nie daran geglaubt haben? „Der Furor eines auferstandenen Atheisten – der wäre wahrlich sehenswert“, meinte Barnes. Aber könnte es nicht auch sein, dass die gegen ihre eigene Überzeugung auferstandenen Atheisten mehr Freude als Furor zeigen und froh sind, dass sie sich ein Leben lang getäuscht und sich vielleicht umsonst gegrämt haben?
Vor ein paar Jahren habe ich einen meiner besten Freunde beerdigt, der sich immer ironisch als „Dorfatheist“ bezeichnete. Als ich ihn in meiner Vikarszeit auf dem Land kennenlernte, war er lange schon aus der Kirche ausgetreten. Einmal – hat er mir erzählt - stieß er bei der Lektüre von Schillers Don Carlos auf eine Formulierung, von der er meinte, sie passe gut in eine Grabrede: „Du verlierst mich Karl - /Auf viele Jahre -Tore nennen es/ auf ewig.“
Tore, weil sie sich selbst um eine wunderbare Hoffnung bringen, die Hoffnung, mit dem Tod nicht „verloren zu gehen“.
Auf eine Grabinschrift hat mein Freund verzichtet. Aber dafür hat er etwas viel Schöneres in Aussicht gestellt. In einer Mail, kurz vor seinem Tod, schrieb er mir einmal: „Wenn ich mich für viele Jahre nicht melde, mach es gut, wir sehen uns drüben!“ Dass der Tod ein Erwachen sein möge, ein schönes Erwachen, das hoffe ich für ihn und uns.
Mein Freund, der Dorfatheist, schämte sich „des Evangeliums“ der Auferstehung, des schöneren Erwachens in einer besseren Welt, nicht. Beim Gang über den Friedhof denke ich: „Wir sehen uns drüben“ - Daran glaube ich, das hoffe ich, und darauf freu ich mich jetzt schon.
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„Lernen Sie Nein-Sagen“, die „Kunst, freundlich Nein zu sagen“,
„Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen“ –
Warum das Nein-Sagen so wichtig ist, kann man aus dicken Büchern und einer sehr kurzen biblischen Geschichte lernen. Denn vom entschiedenen Nein-Sagen-Können handelt die biblische Versuchungsgeschichte im Matthäusevangelium. (Mt. 4)
Jesus, so beginnt die Geschichte, hat sich in die Einsamkeit der Wüste zurückgezogen, vierzig Tage gefastet und bekommt Hunger. Da tritt der Versucher zu ihm, ein kluger Mann, der sich in der Seele der Menschen genauso gut auskennt wie in den Heiligen Schriften. Darum die erste Frage des Versuchers: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden!“ Nicht für den eigenen Hunger, das wäre zu billig. Der Versucher weiß vielmehr, dass es an in? Jesus einen schwachen Punkt gibt: seine Liebe zu den Menschen. Darum sagt er: „Zeige mir, dass du das Elend der Menschen für immer wenden kannst. Und wenn es ihnen gut geht, werden sie auch gut.“
Jesus aber sagt nein. Ohne Angst vor den Konsequenzen.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“ Er beharrt darauf, dass eine Moral, die sich erst nach den Brotrationen einstellt, keine ist.
Schließlich, nach einem zweiten misslungenen Versuch, Jesus zu verführen, macht dieser gerissene Mann ihm ein Angebot, von dem er überzeugt ist, dass Jesus es nicht wird ablehnen können: Er zeigt „ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ und verspricht: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“
Der Versucher bietet mehr als überschaubare Millionenbeträge. Alle Reiche der Welt für einen Kniefall. Eine weltumspannende Herrschaft für ein kleines Gebet.
Aber Jesus sagt nein. Ohne schlechtes Gewissen. Er lehnt es ab, Subunternehmer des Versuchers zu werden. Er lässt sich auch nicht für eine augenscheinlich gute große Sache korrumpieren und macht von der Freiheit Gebrauch, die allen Menschen gegeben ist: der Freiheit Nein-Sagens.
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Seit Wochen ist unser Esstisch verwaist. Keine Gäste mehr, kein munteres Geplauder bei Wein und Wasser, kein Lob der Köchin. Was würde ich nach Wochen der Corona - Isolation für den Anblick von leeren Gläser, Flaschen und Abwaschgeschirr am nächsten Morgen geben. Sicher, eine einsame Mahlzeit kann man sich auch schön machen. Etwas Gescheites kochen, sich selber etwas mit Liebe zubereiten, etwas Musik auflegen. Aber meistens ist es doch so: Man isst, ohne hinzuschauen, irgendwas. Oder: Ein Blick in den Kühlschrank genügt, und man ist satt. Joachim Ringelnatz hat aufgeschrieben, wie sich das anfühlt: Einsam essen.
Essen ohne dich
Ich habe mich hungrig gefühlt,
Doch fast nichts gegessen.
War alles lecker, das Bier so schön gekühlt –
Aber: Du hast nicht neben mir
Gegessen.
Verzeihe: Ich stellte mir vor,
Dass das ewig so bliebe,
Wenn du vor mir---
Ach was geht über Liebe?!!
Muss ich nun doch
Ein paar Tage noch
Fressen, ohne Lust; o das hass ich.-
Aber wenn du von der Reise
Heimkehrst, weiß ich, dass ich
Wieder richtig speise.
Nichts gegen Austern und Champagner. Aber wichtiger zum „richtig speisen“ ist, dass jemand mit Leib und Seele mir gegenübersitzt, den ich gerne habe. „Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass“, heißt es in der Bibel. Das ist kein Kochrezept, das ist ein Lebensrezept. Und besser ein Gericht Kraut mit voll besetztem Esstisch als gemästeten Ochsen alleine verspeisen. Wenn Menschen dabei sind, die wir mögen, dann wird jedes Essen zum Festessen. Also träumen wir davon: vom Tisch, gedeckt für acht Freunde und in der Mitte: ein Gericht Kraut mit Liebe für die Vegetarier, und irgendwas mit Fleisch für die anderen. Einfach wieder richtig speisen, egal was, Hauptsache mit echten Menschen, vielleicht schon im Sommer.
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Auf dem Weg zum Friedhof steht ein Kruzifix. In etwa so hoch wie ein Erwachsener. Auf dem Podest aus Sandstein die Worte aus den biblischen Klageliedern:
„O ihr alle, die ihr vorübergeht am Wege, habet Acht, ob ein Schmerz ist gleich meinem Schmerz, der mich getroffen hat.“
Darüber Jesus mit Lendenschurz am Kreuz, den Kopf mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.
Am Rand des Neubaugebiets, gegenüber von all den parkenden Autos und den Menschen, die mit dem Smartphone in der Hand vorbeigehen, wirkt dieses Jesusdenkmal wie aus der Zeit gefallen. Ob jemand die Inschrift und das Kruzifix noch so versteht, wie man es früher verstanden hat?
„Die Kreuzigung, ja, das war es, in der letzten Nacht“, schrieb Alphonse Daudet, ein erfolgreicher, wohlhabender Autor des 19. Jahrhunderts, von sich selbst.
“Die Marter des Kreuzes, Verdrehung der Hände und Füße, der Knie, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, der grobe Strick lässt den Körper bluten, Lanzenstiche in der Seite.“
Über Jahre lebte Alphonse Daudet in einem „Land der Schmerzen“, die ihm seine Knochenmarkerkrankung verursachten, und musste „Stück für Stück seiner Selbstauflösung zusehen.“ Und dennoch arbeitete er weiter, pflegte seine Freundschaften und kümmerte sich um seine Frau, als sie krank wurde.
Daudet schrieb sein Leiden auf, weil er nicht immer darüber reden wollte. Er hatte sich abgewöhnt, seine Umwelt mit lauten Klagen über seine Schmerzen zu belästigen. „Denn an diesen, für uns ständig neuen Schmerz, hat sich unsere Umgebung längst gewöhnt, er wird rasch ermüdend für alle anderen, selbst für jene, die uns am meisten lieben. Das Mitgefühl stumpft ab“, notierte er. Wenn ihm das Schweigen trotz seiner unerträglichen Schmerzen gelang, war er „stolz darauf, nicht anderen die schlechte Laune und die düsteren Ungerechtigkeiten“ seines Leidens aufgebürdet zu haben.
„Ich kenne nur eines: Meinen Kindern laut zurufen: Es lebe das Leben. Wie ich von Schmerzen zerrissen sein, ist hart.“
Das Kruzifix am Straßenrand steht da für alle, die das „Land der Schmerzen“ aus eigener Erfahrung kennen. Es ist beides: ein wortloses Gespräch über den Schmerz und der Ruf: „Es lebe das Leben.“
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Er galt als „Schulrüpel ersten Ranges“, fuhr für ein paar Jahre als Matrose zur See, arbeitete in unzähligen Gelegenheitsjobs und hungerte bisweilen. Dass er einmal berühmt werden würde, konnte er nicht ahnen. Joachim Ringelnatz, Kabarettist, Maler und Schriftsteller, -geistreich, skurril, witzig - und hässlich: „Ich weiß, schrieb Joachim Ringelnatz, dass ich hässlich bin. Meine Beine sind krumm. Ich habe ein schiefes, vorstehendes Kinn.“ Ringelnatz versuchte das Beste draus zu machen: „In mancher Gesellschaft scherze ich selbst über meine Fehler. Wenn meine Bekannten darüber spaßen, lache ich.“ Und doch bekannte er: „In beiden Fällen bin ich unaufrichtig, denn es schmerzt mich innerlich. Ich pflege bei anderen Menschen immer erst auf Kinn und Beine zu sehen. Wie muss das herrlich sein, normale Gliedmaße zu besitzen. Gewiss ebenso angenehm als das Gefühl, gute Kleider, Wäsche und ordentliches Schuhzeug zu besitzen.“
Joachim Ringelnatz ließ sich nicht damit trösten, dass doch alle Menschen irgendwie schön aussehen. Er spürte ja auf Schritt und Tritt, dass er anders war als die anderen. Besonders deutlich als Kind, wenn ihn die Mitschüler wegen seiner langen Nase unbarmherzig als „Rüsseltier“, „Nashorn“ und „Nasenkönig“ verspotteten. Er beneidete die, die einfach ganz normal aussahen. Als Kind weinte er heimlich darüber, als Erwachsener lachte er mit. Über die zu kurzen Beine, das vorstehende Kinn, die lange Nase. „Ich bin überzeugt, dass mein Gesicht mein Schicksal bestimmt. Hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben ganz anders, jedenfalls ruhiger verlaufen.“
Er lacht über sich selbst, weil er nicht mehr weinen will und setzt seinem eigenen Schmerz etwas entgegen: seine Bilder, seine Gedichte, sein Lachen – und seinen Glauben. Er glaubte an Gott und an „Gottes allübertreffende Überlegenheit“ und legte sich den Künstlervornamen „Joachim“ zu, das bedeutet „Gott möge retten“. Vor allen wichtigen Angelegenheiten betete er. Und in den Briefen an seinFrau findet sich immer wieder die Wendung „das wollen wir Gott überlassen“. „Hinter der Klabautermannfratze wohnt ein zartes Kinderseelchen“ schrieb einmal ein Freund über ihn. Ein Kinderseelchen mit einem festen Glauben. Der macht die Nase nicht kürzer, die Beine nicht gerade. Der macht die Menschen nicht klüger, die über das Aussehen anderer spotten, der macht die Kinder nicht gnädiger, die andere Kinder hänseln. Aber dieser Glaube half ihm, seinem Schicksal die Stirn zu bieten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=32505SWR2 Wort zum Tag
„Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn.“ Christlich betrachtet ist sicher gut, wenn man so denken kann wie Paulus in der Bibel schreibt. Locker dem eigenen Ende entgegensehen, den Tod nur als eine Art Durchgangsstadium zum ewigen Leben betrachten, als Erlösung. Ein Gewinn wirklich, wenn man bedenkt, womit man sich hier auf der Erde rumschlagen muss, Corona, Islamismus, Umweltkatastrophen. Aber wenn ich bei meinem letzten Klinikaufenthalt auf eines wirklich keine Lust hatte, dann auf Sterben.
Einen Tag vorher hatte ich auf der Straße ein kleines, blondes Mädchen gesehen. Etwa zehn Jahre alt. An der Leine führte die Kleine einen winzigen, jungen Dackel. Und rührend: der Stolz des kleinen Mädchens, den eigenen jungen Hund Gassi zu führen. Im Moment schien es mir ein ungeheures Geschenk des Lebens, so etwas Zartes, Schönes sehen zu dürfen.
Kann gut sein, dass Paulus tief in Gedanken an den Gewinn des Sterbens Mädchen und Hund einfach übersehen und weiter vor sich hingemurmelt hätte: Sterben - ein Gewinn. Aber Paulus, als Patient in der Medizinischen Klinik heute, wäre jeden Tag mit der Angst vor dem Tod konfrontiert. Und damit, dass er mit seiner Ansicht „Sterben – ein Gewinn“ so ziemlich alleine dasteht. Einen Patienten, der nachts vor der OP kein Auge zukriegt, tröstet so ein Satz in den seltensten Fällen. Aber was tun gegen diese Angst?
Ich habe ausprobiert: Ruhig Atmen, das hatte ich aus dem Yogakurs, bewusst, langsam und tief. Das hilft manchmal ein bisschen. Dann: sich von Freunden und Verwandten beruhigen lassen. Das kann zwar auch daneben gehen, weil sie ohne viel zu denken einem erzählen, dass genau bei diesem Eingriff ihr Onkel fast gestorben wäre – aber die meisten wissen schon, dass man so etwas nicht gerade hören möchte.
Was immer gut ist: sich vor Augen führen, was lebenswert ist: kleine, stolze Mädchen mit Hunden, Sommertage an der See, der Garten im Frühling. Und: denken an das, was bisher im Leben alles trotz Sorge und Angst gutgegangen ist. Den Ärzten und allen, die bei der OP dabei sind, vertrauen. Misstrauen hat da ja eh keinen Sinn mehr. Da hilft dann nur noch denken: ja, ich habe mich dazu entschieden, es war auch mein Wille.
Und schließlich, das würde auch der alte Paulus raten: beten. Das Vaterunser, wenn man es noch auswendig kann. Oder einfach: Bitte hilf, bitte, lass es gut ausgehen. „Wenn der Mensch betet, so atmet der Gott in ihm auf.“ (Hebbel TB) Der Gott, bei dem nicht nur das Sterben ein Gewinn ist, auch das Leben. Und der gesagt hat. „Ich lebe und auch ihr sollt leben.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=32132SWR2 Wort zum Tag
„Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ So lautet der biblische Wochenspruch für diese erste Adventswoche, diese Zeit „freudiger Erwartung“ auf die Geburt Christi und seine Wiederkunft. Hört sich gut an, Jesus, ein „König“, einer, der das Sagen hat und im Gegensatz zu vielen anderen, gerecht und hilfsbereit.
Es genügt, dass Sie anschließend die Nachrichten hören, damit für den nüchternen Verstand die Sache klar ist: entweder will Gott uns Menschen helfen, und er kann es nicht. Dann ist er ohnmächtig. Oder er kann uns helfen, aber er will es nicht. Dann ist er missgünstig. Wenn er aber will und kann, wenn er allmächtig ist und uns liebt, warum, ja, warum hilft er uns nicht? Warum beseitigt er nicht mit einem Schlag die Übel dieser Welt? Warum lässt er Menschen leiden und sterben? Warum überhäuft er sie mit Katastrophen und Krankheiten?
Der Zweifel an Gott liegt immer näher als die Hoffnung auf ihn. Der Zweifel sagt: Offensichtlich will Gott uns nicht helfen. Vielleicht ist ihm die ganze Welt, die ganze Schöpfung schon entglitten. Religion ist vielleicht nur der Seufzer der bedrängten Menschen – aber es ist niemand da oben, der unserer Seufzer hört. Gott, das ist ein Hirngespinst. So denkt der Zweifel.
Der Glaube aber kann nicht glauben, dass Gott auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Der Glaube will nicht glauben, dass Gott unsere Not zur Kenntnis nimmt wie ein Bürokrat, der sich an Vorschriften, Paragraphen und Dienstzeiten hält. Der Glaube hält es für unmöglich, dass Gott in seinen Unterlagen blättert und dann aufschaut und sagt: Tut mir leid, da können wir nichts machen. Denn der Glaube geht fest davon aus, dass Gott für die Menschen ist und nicht gegen sie. Dass er sie liebt, und nicht hasst. Er ahnt, dass menschliches Denken und Verstehen weit unterhalb von Gottes Tun und Planen liegt. Und er weiß, dass die Schläge des Unglücks, die Menschen ertragen müssen, nicht mit dem Verstand allein zu begreifen sind.
Aber wie kommt man vom Zweifel zum Glauben? Es hat gar keinen Sinn, jemandem, der zweifelt zu sagen, er solle mit dem Zweifeln aufhören. Besser, man fordert ihn auf, weiter zu zweifeln, noch ein bisschen mehr zu bezweifeln, bis er vielleicht beginnt, an sich selbst zu zweifeln. Und daran, dass man mit dem nüchternen Verstand durchschaut, dass mit Jesus Christus Gott selber kam, ein Gerechter und Helfer.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=32131SWR2 Wort zum Tag
Jesus war ein Mann der klaren Worte. Er redete nicht drumherum. Das zeigt sich auch in diesen Sätzen: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!“ heißt es in der Bibel (Mt 7,1). Die eigenen Fehler erscheinen einem gerne winzig klein, wie Splitterchen, die Fehler der anderen dagegen riesig groß, unübersehbar und dick wie Dachbalken.
Soweit, so klar.
Den Mechanismus, wie man eigene Fehler so gründlich übersehen kann, beschreibt Friedrich Nietzsche so: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ Die eigenen, peinlichen Fehler – winzig klein. So geringfügig, dass man sie getrost vergessen kann im Gegensatz zu denen, die ein anderer begeht. Zumal ein „Bruder“. Das Wort steht so im griechischen Originaltext des Neuen Testaments. Worauf der Satz mit dem Splitter und dem Balken abzielt, ist: gerade, wenn man gemeinsam zu einer Gruppe gehört, so wie Geschwister, Bruder und Schwester, zu einer Familie gehören, sieht man gerne die Fehler der anderen größer als die eigenen. Es gibt immer Brüder und Schwestern, denen die anderen Brüder und Schwestern nicht fromm genug, oder zu fromm sind. Wo die die einen den anderen zu gläubig und erscheinen und die anderen den einen zu liberal. Sie erklären deren zu Lebenswandel für moralisch bedenklich von einer Warte aus, als könnten sie selbst kein Wässerchen trüben. Die eigenen Balken im Auge – Hochmut, Blindheit sich selbst gegenüber, Vergesslichkeit, Selbstgerechtigkeit – sehen sie nicht.
„Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!“ Dieses „Balken aus dem eigenen Auge herausziehen“ hört sich nach zeitaufwändiger, anstrengender Arbeit an. Wer damit beginnt, davon ist Jesus überzeugt, den kümmern die paar Splitter im Auge des Bruders und der Schwester nur noch am Rande.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=31820SWR2 Wort zum Tag
„Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag, danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag“ – ich vermute mal, nicht nur mir hat sich die Melodie dieses Ohrwurms eingeprägt. Geschrieben 1961 von Martin Gotthardt Schneider, die Musik stammt auch von ihm. Und wenn ein Pfarrer in den sechziger Jahren modern sein und die Herzen der jungen Menschen erobern wollte, nahm er seine Gitarre zur Hand und knödelte los.
Wie habe ich damals – mit 15 /16 Jahren - diese Darbietungen von meinem ganzen pubertären Herzen verachtet. Das Lied schien mir nicht besser als „O du schöner Westerwald“. Denn es ging voll vorbei an dem, was mich damals beschäftigte, nämlich: Demos gegen die Erhöhung der Straßenbahnpreise zu einer Zeit, wo wirklich jeder noch stolz auf sein Auto war. Die Idee des Konsumverzichts zu einer Zeit, als Fernsehapparate noch Luxus waren. Die Lebensmittelverschwendung zu einer Zeit, als uns eine Verkäuferin am Abend die nicht mehr ganz frischen Tomaten schenkte und zwar heimlich, denn das verstieß gegen die Hygienevorschriften.
„Danke, für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück, Danke, für alles Frohe, Helle und für die Musik.“ Jimi Hendrix, die Beatles und die Stones waren da sicherlich kann ich nicht mitgemeint. Und die Napalmbomben im Vietnamkrieg standen im krassen Widerspruch zum „Danke, dass in der Fern und Nähe du die Menschen liebst“. Wie konnte dieser Typ so etwas nur dichten?
Hätte ich damals ein bisschen nachgedacht, hätte ich das vielleicht auch verstanden. Martin Gotthardt Schneider war Jahrgang 1930. Als er so alt war wie wir, war nichts selbstverständlich von dem, woran wir uns schon gewöhnt hatten: Arbeit, Essen, Musik, Konsum, kleines Glück.
Das alles ist ein halbes Jahrhundert her. Und es bleibt erfreulich, dass heute der Nahverkehr gefördert, Lebensmittelverschwendung allmählich geächtet und laut darüber nachgedacht wird, dass man das zehnte T -Shirt nicht unbedingt im Kleiderschrank hängen haben muss. Und wenn man eines im Älterwerden lernt, dann vielleicht Danke sagen, weil man weiß, dass es nichts Selbstverständliches gibt. Darum „Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=31819SWR2 Wort zum Tag
Bücher, Blumen und Schokoladentrüffeln – ich verschenke am liebsten das, was ich selber gerne geschenkt bekomme. Mit Büchern, Blumen und Pralinen kann mir immer eine Freude machen. Von daher habe ich großes Verständnis für den vierjährigen Jungen, der seiner gleichaltrigen Kindergartenfreundin zum Geburtstag einen Lötkolben schenken wollte. Der stand auf seiner eigenen Wunschliste ziemlich sicher ganz weit oben.
Der, der schenkt, meint es gut und ist von seiner Geschenkidee begeistert. Aber was sagt der, der es geschenkt bekommt? Der hat keine Zeit zum Lesen, hat eine Lilienallergie und darf nichts Süßes essen. Und weiß, dass er sich mit einem Lötkolben sich nur den Finger verbrennt. Aber wenn er höflich ist, bedankt er sich freundlich.
Menschenopfer, verbrannte Tiere und schlechter Gesang - die Menschen haben im Laufe ihrer Geschichte auch Gott die unterschiedlichsten Geschenke gemacht. Nachzulesen in der Bibel. Sie meinten es damit sicher gut. Aber eine Freude machten sie allenfalls sich selbst damit, nicht aber Gott. Im Gegenteil. In der Bibel haut Gott angesichts dieser Geschenke recht unhöflich und undankbar auf den Tisch und sagt: „Schluss damit. Wenn ihr mir etwas schenken wollt, dann bitte etwas anderes.“ Und er zählt gleich auf, was er nicht einmal geschenkt haben möchte: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören.“
Brandopfer und Speiseopfer sind ja lange abgeschafft. Aber auch mit Feiertagen und Versammlungen macht man ihm nicht immer eine Freude. Jedenfalls wenn der Prophet Amos recht hat. Was Gott sich wünscht, ist preiswerter und doch viel anspruchsvoller: nämlich Liebe, Gerechtigkeit, Interesse. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Das kann man sich leicht merken. Das kostet nichts. Man muss es nicht einmal einpacken. Aber wenn das die Geschenke sind, die ausgeteilt werden haben alle etwas davon, Menschen und Gott.
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