SWR2 Wort zum Tag

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08MRZ2021
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Auf dem Weg zum Friedhof steht ein Kruzifix. In etwa so hoch wie ein Erwachsener. Auf dem Podest aus Sandstein die Worte aus den biblischen Klageliedern:
„O ihr alle, die ihr vorübergeht am Wege, habet Acht, ob ein Schmerz ist gleich meinem Schmerz, der mich getroffen hat.“
Darüber Jesus mit Lendenschurz am Kreuz, den Kopf mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.

Am Rand des Neubaugebiets, gegenüber von all den parkenden Autos und den Menschen, die mit dem Smartphone in der Hand vorbeigehen, wirkt dieses Jesusdenkmal wie aus der Zeit gefallen. Ob jemand die Inschrift und das Kruzifix noch so versteht, wie man es früher verstanden hat?

„Die Kreuzigung, ja, das war es, in der letzten Nacht“, schrieb Alphonse Daudet, ein erfolgreicher, wohlhabender Autor des 19. Jahrhunderts, von sich selbst.
“Die Marter des Kreuzes, Verdrehung der Hände und Füße, der Knie, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, der grobe Strick lässt den Körper bluten, Lanzenstiche in der Seite.“

Über Jahre lebte Alphonse Daudet in einem „Land der Schmerzen“, die ihm seine Knochenmarkerkrankung verursachten, und musste „Stück für Stück seiner Selbstauflösung zusehen.“ Und dennoch arbeitete er weiter, pflegte seine Freundschaften und kümmerte sich um seine Frau, als sie krank wurde.
Daudet schrieb sein Leiden auf, weil er nicht immer darüber reden wollte. Er hatte sich abgewöhnt, seine Umwelt mit lauten Klagen über seine Schmerzen zu belästigen. „Denn an diesen, für uns ständig neuen Schmerz, hat sich unsere Umgebung längst gewöhnt, er wird rasch ermüdend für alle anderen, selbst für jene, die uns am meisten lieben. Das Mitgefühl stumpft ab“, notierte er. Wenn ihm das Schweigen trotz seiner unerträglichen Schmerzen gelang, war er „stolz darauf, nicht anderen die schlechte Laune und die düsteren Ungerechtigkeiten“ seines Leidens aufgebürdet zu haben.
„Ich kenne nur eines: Meinen Kindern laut zurufen: Es lebe das Leben. Wie ich von Schmerzen zerrissen sein, ist hart.“

Das Kruzifix am Straßenrand steht da für alle, die das „Land der Schmerzen“ aus eigener Erfahrung kennen. Es ist beides: ein wortloses Gespräch über den Schmerz und der Ruf: „Es lebe das Leben.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32710
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