SWR2 Zum Feiertag

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05APR2021
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Die Auferstehung von den Toten ist für Christen die Hoffnung schlechthin. Das absolute Gegengewicht gegen den Tod. Eine erste Ahnung davon habe ich mit sechs oder sieben Jahren bekommen.  Am Ostermorgen begann nämlich der Gottesdienst traditionsgemäß auf dem Friedhof, direkt am großen Kreuz zwischen den Gräbern. Und sicher hat der Pfarrer in seiner Predigt auch Paulus aus der Bibel zitiert und gesagt: «Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos» (1. Kor. 15, 14). Das erinnere ich aber nicht mehr genau. Ich weiß nur noch: Es hatte für mich als Kind etwas ungemein Beeindruckendes, Überzeugendes in der Morgensonne zu stehen, die Gräber ringsherum zu betrachten, und zu hören: Die, die hier liegen, sind nicht für immer tot.

Als Kind bin ich oft auf diesem Friedhof gewesen. Wir wohnten damals am Rand einer Großstadt mitten im Ruhrgebiet. Am Nachmittag, wenn die Sonne schien und es Zeit für den Spaziergang war, nahm mich meine Mutter an die Hand und ging mit mir auf den Friedhof.

Für Reisen hatten wir kein Geld, und der Friedhof bot immerhin einiges Grün, ohne weit fahren zu müssen. Friedhofsbesuche mit meiner Mutter waren überhaupt nicht traurig. Das erste, was sie sagte, wenn wir durch das schmiedeeiserne Tor traten, war:
„Ist das nicht eine himmlische Ruhe hier? Hier kann man doch endlich mal durchatmen. Und hörst du die Amsel?“ Draußen ratterte noch die Straßenbahn vorbei. Aber die Friedhofsmauer dämpfte den Krach. Zuallererst schaute meine Mutter immer auf das, was zwischen den Gräber wuchs und blühte. „Sieh doch mal, wie schön der Rhododendron hier.“ Und: „Hier müsste man auch mal ein bisschen Unkraut jäten.  Alles zugewuchert. Um dies Grab kümmert sich wohl kein Mensch mehr.“ Dann ging sie mit mir an den Grabsteinen vorbei, blieb von Zeit zu Zeit stehen, und las mir die Aufschriften vor: “‘Dem Auge fern – dem Herzen nah‘; das ist doch schön“, und “Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Und „Hier schläft Karl Schmidt der Auferstehung entgegen.“

Sie kommentierte die Lebensdaten auf dem Grabstein: “Na, der hier ist ja nicht alt geworden, gerade mal 35 Jahre. Gott, so ein junger Mensch. Das muss ja für die Eltern fürchterlich gewesen sein. “ Vor der Stele, auf der die Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen Soldaten standen, machte sie ihrem ganzen Groll über ihre durch den 2. Weltkrieg verlorene Jugend Luft. “Die Menschen lernen es einfach nie. Wie können sie so dumm sein, immer wieder denselben Fehler zu machen und sich gegenseitig umbringen, nur weil das ein paar Politikern in den Kram passt?“  Wenn wir zu den ganz kleinen Gräbern kamen, den Kindergräber, erzählte sie mir immer, wie es war, als ihre kleine Schwester mit einem Jahr gestorben war. “Ich habe ihr noch das Totenhemdchen angezogen. Wie eine Puppe lag sie da.“

Das alles ist lange her. Ich habe seitdem viele Friedhöfe besucht. Von Berufswegen als Pfarrerin, im Urlaub und einfach, weil Friedhöfe gleichzeitig Parks sind, Großstadtoasen, Kult- und Kulturstätten. Die besten Orte, um sich klar zu werden, wie unwichtig vieles ist, was sich vor uns als große Sorgen aufbauscht.  Man besucht eigentlich ja nur sich selbst, wenn man zu den Toten geht. Aus sicherer Distanz können Friedhofsbesucher als „Grenzgänger zwischen Diesseits und Jenseits“ (Gadamer) sehen, wie das Drama ihres Lebens ausgehen wird und gleichzeitig darauf schauen, wie die ersten Tulpen blühen. Und für Christen ist, wenn sie der Osterbotschaft Glauben schenken, der Tod eigentlich nichts, was sie fürchten müssten. Es gibt ein Danach, es gibt ein Wiedersehen, eine Auferstehung der Toten.

Auch Julian Barnes, dem Autor des wunderbaren Buches „Nichts, was man fürchten müsste“ gefällt der Gedanke der Auferstehung gut. „Die Geschichte von Jesus – hehre Mission, Auflehnung gegen die Unterdrücker, Verfolgung, Verrat, Hinrichtung, Wiederauferstehung“ ist für ihn „ein ideales Beispiel für die Formel, nach der Hollywood bekanntlich fieberhaft sucht: eine Tragödie mit Happy End.“ Aber gegen seine Todesangst kann dieses Happy End nichts ausrichten. Aus dieser tiefen Angst heraus hat Julian Barnes sich mit einer Menge von Ratschlägen, philosophischen und religiösen Gedanken beschäftigt, die versprechen, die quälenden Gedanken an das Sterben und den Tod in Schach zu halten. Aber er muss feststellen: Der Tod „lässt nicht mit sich reden oder durch schöne Worte in etwas anderes verwandeln, er weigert sich einfach, an den Verhandlungstisch zu kommen. Gott mag tot sein, aber dafür ist der Tod sehr lebendig“.

Julian Barnes ist ein passionierter Friedhofsbesucher, der die Gräber vieler berühmter Dichter, Maler und Philosophen besucht hat. Mit ihnen unterhält er sich im Geiste über den Tod und das Sterben.  „Wer nur einen einzigen Tag wahrhaft und im vollsten Sinn gelebt hat, der hat alles gesehen.“, behauptet Montaigne. „Nein!“, widerspricht ihm Julian Barnes. „Selbst wer ein ganzes Jahr so gelebt hat, hat nicht alles gesehen.“ Und auch die Forderung, man sollte auf der Welt Platz machen für andere, wie andere für uns Platz gemacht haben, lässt Barnes nicht gelten. Er habe sie nicht darum gebeten zu gehen. Und das immer wieder vorgebrachte Argument überzeugt ihn nicht: „Alle Menschen müssen sterben. Wozu dann darüber klagen? Es ist nun einmal so. Barnes ist sich sicher, dass viele von ihnen „darüber bestimmt genauso sauer (sind) wie ich.“

Vielleicht, so vermutet Barnes, verläuft die Trennung gar nicht so sehr zwischen den religiösen und den unreligiösen Menschen, sondern zwischen solchen, die den Tod fürchten und solchen, die das nicht tun. Seine eigene Todesangst sei „im Laufe der Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil“ seiner selbst geworden, was er  „dem Einsatz der Fantasie zuschreiben möchte.“

Und fantastisch hört sich auch sein Gedanke an: Was werden wohl die zu ihrer Auferstehung sagen, die zu Lebzeiten nie daran geglaubt haben? „Der Furor eines auferstandenen Atheisten – der wäre wahrlich sehenswert“, meinte Barnes. Aber könnte es nicht auch sein, dass die gegen ihre eigene Überzeugung auferstandenen Atheisten mehr Freude als Furor zeigen und froh sind, dass sie sich ein Leben lang getäuscht und sich vielleicht umsonst gegrämt haben?

Vor ein paar Jahren habe ich einen meiner besten Freunde beerdigt, der sich immer ironisch als „Dorfatheist“ bezeichnete.  Als ich ihn in meiner Vikarszeit auf dem Land kennenlernte, war er lange schon aus der Kirche ausgetreten.  Einmal – hat er mir erzählt - stieß er bei der Lektüre von Schillers Don Carlos auf eine Formulierung, von der er meinte, sie passe gut in eine Grabrede: „Du verlierst mich Karl - /Auf viele Jahre -Tore nennen es/ auf ewig.“

Tore, weil sie sich selbst um eine wunderbare Hoffnung bringen, die Hoffnung, mit dem Tod nicht „verloren zu gehen“.

Auf eine Grabinschrift hat mein Freund verzichtet. Aber dafür hat er etwas viel Schöneres in Aussicht gestellt. In einer Mail, kurz vor seinem Tod, schrieb er mir einmal: „Wenn ich mich für viele Jahre nicht melde, mach es gut, wir sehen uns drüben!“ Dass der Tod ein Erwachen sein möge, ein schönes Erwachen, das hoffe ich für ihn und uns.

Mein Freund, der Dorfatheist, schämte sich „des Evangeliums“ der Auferstehung, des schöneren Erwachens in einer besseren Welt, nicht. Beim Gang über den Friedhof denke ich: „Wir sehen uns drüben“ - Daran glaube ich, das hoffe ich, und darauf freu ich mich jetzt schon.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32801
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