Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

Autor*in

 

Archiv

SWR2 Wort zum Sonntag

Zu einem menschenwürdigen Zusammenleben gehört das freie Wort. Jeder Mensch muss auch öffentlich das sagen können, was ihn besonders im Blick auf die Gestaltung unseres Gemeinwesens bewegt. Dass hier die Grenzen des Anstandes gegenüber den Mitmenschen beachtet werden müssen und auch Klugheit nötig ist, versteht sich fast von selbst. Gerade die Demokratie als Form unseres gesellschaftlich-politischen Zusammenlebens braucht dieses freie Wort. Darum gehören die Kunst des Redens und die Auseinandersetzung um den besseren Weg in einer Gesellschaft bereits im vorchristlichen Griechenland zu den Grundpfeilern der Demokratie.
Es ist nicht überraschend, dass dieses freie Wort auch missbraucht werden kann. Die Kunst der Rede,die Rhetorik, ist schon seit alter Zeit nicht nur die Kunst der Beredsamkeit im Sinne einer auch ästhetisch schönen und gefälligen Rede; auch bei Verhandlungen, ob vor Gericht oder im Zusammenhang von Verträgen, ist die Redekunst wichtig. Aber wir wissen auch, wie rasch der legitime Versuch, jemand von etwas zu überzeugen, zum Überreden wird. Mit Kunstgriffen kann man auch bei den Hörern ein bestimmtes Ziel erreichen. Wir wissen alle, wie viel Gewicht das „Pathos" in der Rede gewinnen kann. Schon die Antike wusste sehr gut, wie man ein „schwaches" zu einem „starken" Wort machen kann. Der Weg zur Manipulation ist nicht weit. Im Zeitalter der Massenmedien lassen sich solche Künste der Beeinflussung noch sehr viel wirkmächtiger benutzen. 
In Zeiten, wo es um politische Mehrheitsentscheidungen geht, kommt es in besonderer Weise auf die Art und Weise an, wie man bei strittigen Dingen das freie Wort benutzt. Es gibt dabei nicht nur psychologisch raffinierte Überredungskünste. Man kann auch geschickt über weniger offenkundige Probleme hinwegreden. Man kann auch das Schweigen für seine eigenen Ziele einsetzen. Eine neue Stufe erreicht der Gebrauch des freien Wortes freilich dann, wenn man Halbwahrheiten verkündet, andere Programme schief darstellt und vor allem nicht bloß gegnerische Positionen, sondern auch alternative Herausforderer in ein schlechtes Licht rückt. In solchen Fällen können Worte nicht nur sehr verletzend und ehrabschneidend sein, sondern sie können den guten Ruf anderer Menschen total in Frage stellen. In diesem Sinne können Worte auch regelrecht töten.
Man konnte in den Auseinandersetzungen aus jüngster Zeit leicht bei umstrittenen Themen solchen Missbrauch feststellen, z. B. in der Auseinandersetzung um die Umbaupläne des Stuttgarter Hauptbahnhofs, in der Debatte um den Ausbau des Nürburgringes, in manchen Zwischenrufen zum Thema „Beschneidung", erst kürzlich wieder in der Auseinandersetzung um das so genannte „Betreuungsgeld", als ob dieses nur für das „Heimchen am Herd" oder gar „schwachsinnig" sei.
In diesem Zusammenhang ist es gut, auf sehr nüchterne Worte der Bibel zu achten. Man kann sie auch in anderen Sprachen und Kulturen finden. Ich wähle den Brief des Jakobus aus dem Neuen Testament, wo es heißt: „Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu hören, aber zurückhaltend im Reden und nicht schnell zum Zorn bereit; denn im Zorn tut der Mensch nicht das, was vor Gott recht ist." (1,19f.) „Wer meint, er diene Gott, aber seine Zunge nicht im Zaun hält, der betrügt sich selbst, und sein Gottesdienst ist wertlos." (1,26) „So ist auch die Zunge nur ein kleines Körperglied und rühmt sich doch großer Dinge. Und wie klein kann ein Feuer sein, das einen großen Wald in Brand steckt. Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit. Die Zunge ist der Teil, der den ganzen Menschen verdirbt und das Rad des Lebens in Brand setzt." (3,5ff.) Wäre es nicht dem Frieden auf allen Ebenen förderlich, wenn wir diese Worte mehr beachten würden, gerade auch wenn ein Jahr mit mehreren politischen Wahlen auf uns zukommt?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14216
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Nachdenkliches zu einem neuen Blut-Test für schwangere Frauen

Das Stichwort Integration ist seit einiger Zeit ein zentrales Diskussionsthema in Politik und Gesellschaft. Gemeint ist damit hier nicht die Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern im Sinne von Migranten, sondern es geht um behinderte Menschen: Man soll sie weniger als „Sonderlinge" behandeln und vom Alltag unseres Lebens ausschließen, sondern möglichst in die „Normalität" des Lebens zurückholen und besonders Kinder und Jugendliche mit anderen jungen Menschen aufwachsen lassen. Dies alles wird diskutiert im Blick auf die Kindertagesstätten, die Sonderschulen und überhaupt alle Formen von Schulen. Im Ganzen kann man diese Bemühungen gewiss fördern. Es ist erstaunlich, wie sehr sich Behinderte wenigstens in einzelne Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens einfügen können. Die skandinavischen Staaten haben uns dies vorgemacht. Man soll aber auch nicht über das Ziel hinausschießen, denn manchen Behinderten ist damit nicht geholfen, weil sie einfach mehr Hilfe brauchen. Sie bleiben sonst sehr auf der Strecke. Man tut ihnen nichts Gutes, wenn die Integration nur auf dem Papier steht. Hier braucht es viel Fingerspitzengefühl, um für jeden einzelnen Behinderten eine konkrete, angemessene Lösung zu finden.

So sehr man alles tun muss, um behinderten Menschen zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen, so darf man aber auch andere Aspekte im Blick auf das Dasein von Behinderten nicht übersehen. Es geht nicht nur - so wichtig dies ist - um eine bestmögliche Integration, sondern schon um das Existenzrecht vom Behinderten. Einen hohen Anteil an Behinderungen, freilich sehr unterschiedlicher Intensität, haben die Menschen, die an einem Down-Syndrom leiden, mit anderen Worten: unter der Trisomie 21. Es ließ sich in den letzten Jahrzehnten schon statistisch leicht verfolgen, wie die Zahl dieser Behindertengruppe drastisch zurückging. Je eher es gelang, die Behinderung schon im Mutterschoß festzustellen, desto mehr wurden solche potenziell behinderte Embryonen abgetrieben. In der Zwischenzeit sollen nach zuverlässigen statistischen Untersuchungen über 90 Prozent abgetrieben werden.

In den letzten Tagen wurde im deutschen Sprachgebiet ein vorgeburtlicher Test zugelassen, der nur eine Blutentnahme bei der Mutter notwendig macht. Man braucht also keine komplikationsreichen Fruchtwasseruntersuchungen oder ähnliche invasive Untersuchungsmethoden. Die Zulassung dieses Bluttestes auf Down-Syndrom wird die angesprochene Situation gewiss weiter verschärfen. Aus vielen Gründen wird dieser Test immer häufiger verwendet werden, wobei auch ein erheblicher Druck auf die schwangere Frau ausgeübt wird, wenn eine Missbildung festgestellt wird.

Ich will nicht schönfärberisch reden: Ein behindertes Kind verlangt von der Familie, in die es gehört, große Rücksicht und auch eine Veränderung der Lebensverhältnisse. Ich will niemand verurteilen, der diese Last nicht tragen kann. Es gibt aber gerade bei Trisomie 21 sehr verschiedene Grade von Behinderungen. Eltern und Kinder können mit ihnen in nicht wenigen Fällen gut umgehen und leben. Solche Kinder haben oft eine unbändige Fröhlichkeit und können eine ganz erstaunliche Freude auslösen, was man ja nicht vermutet. Ich habe viele Beispiele erlebt und bewundere die Eltern mit ihren Familien, die zu einem solchen Kind Ja sagen.

Der neuzugelassene Bluttest hat medizinisch und technisch gesehen gewiss weniger Risiken. Aber die Ergebnisse entwickeln natürlich bei der Diagnose einer Missbildung oder der Anlage zu einer Krankheit eine eigene Dynamik und „Logik" der Abtreibung. Diesen kann man sich nicht leicht entziehen. Um so mehr muss man den Anfängen widerstehen. Beeinträchtigtes Leben, vielleicht auch beschädigtes Leben hat auch sein Recht auf Existenz. Darum sollten wir uns hüten, über anderes menschliches Leben nach unseren Maßstäben zu verfügen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13713
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Zweimal in einem Monat hat die hl. Hildegard von Bingen Schlagzeilen gemacht. Am 10. Mai 2012 hat der Vatikan eine Erklärung veröffentlicht, dass die hl. Hildegard von Bingen in den Gesamtkalender der Heiligen aufgenommen und damit in der ganzen Weltkirche verehrt werden kann. Es gab bald nach ihrem Tod im Jahr 1179 verschiedene Formen ihrer Verehrung, zuerst mehr im lokalen und regionalen Umkreis, schließlich in allen deutschen Diözesen. Aber ein förmliches Verfahren zur Heiligsprechung, wie es sich im Mittelalter immer stärker herausbildete, und erst recht einen rechtlich strukturierten Prozess mit Abschluss in Rom, dies vor allem ab dem 16. Jahrhundert, gab es für Hildegard aus sehr verschiedenen Gründen nicht. Die Erklärung vom 10. Mai 2012, ihre Verehrung gelte in der ganzen Weltkirche, hat nun endgültig Klarheit geschaffen. Der Papst selbst hat ihre Heiligkeit erklärt, ohne dass ein eigener Prozess dafür aufgerollt werden musste.
Der ganze Hintergrund dieser Erklärung weltweiter Verehrung vom 10. Mai 2012 ist aber nun erst an Pfingsten, also am 27. Mai 2012, deutlich geworden, als Papst Benedikt XVI. die hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erhoben hat. Denn die Erhebung eines Heiligen in den Rang eines Kirchenlehrers hat nach der gegenwärtigen Regelung in der Kirche eine förmliche Heiligsprechung zur Voraussetzung, die ja nur durch den Papst selbst und heute in der Regel durch einen förmlichen Prozess erfolgen kann. So ist durch die an Pfingsten erfolgte Mitteilung des Papstes selbst erst vollends klar geworden, warum am 10. Mai die Verehrungswürdigkeit der hl. Hildegard für die Weltkirche eigens festgestellt worden war. Eine eigene Auszeichnung besonders von Theologen gibt es in der Kirche des Westens und des Ostens schon in früher Zeit. Große Heilige, die auch eine hohe theologische Autorität darstellen, waren besonders die Heiligen Augustinus, Ambrosius, Gregor der Große und Hieronymus im Westen, Basilius der Große, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus und Athanasius im Osten. Aber der Begriff des Kirchenlehrers ging allmählich über die Grenzen des Altertums und damit der „Kirchenväter" hinaus, vor allem durch das Ansehen der großen Theologen des Mittelalters: Anselm von Canterbury, besonders Thomas von Aquin, Bonaventura u. a. So zählte man bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gut dreißig Kirchenlehrer.
Im Jahr 1970 kam es jedoch zu einem großen Einschnitt, als nämlich Ende des Jahres zuerst die hl. Katharina von Siena und dann die „große" Teresa (von Avila) durch Papst Paul VI. als erste Frauen zu Kirchenlehrerinnen erhoben worden sind. Das Eis war gebrochen. Im Jahr 1998 fügte Papst Johannes Paul II. die sogenannte „kleine" Theresia vom Kinde Jesu (von Lisieux) als dritte Frauengestalt unter den Kirchenlehrern hinzu. Die hl. Hildegard von Bingen ist nun die vierte Frau unter den Kirchenlehrern, eine wahre Kirchenlehrerin, die als einzige aus dem mitteleuropäischen, ja germanischen Sprach- und Kulturraum stammt.
Im Übrigen wird Benedikt XVI. am 7. Oktober 2012, wenn er die Erhebung feierlich in Rom vornimmt, auch einen spanischen Theologen als Kirchenlehrer verkünden, nämlich den „Apostel Andalusiens", Juan d'Ávila, Johannes von Avila, der ganz anders als Hildegard zu Beginn der Neuzeit (1499-1569) lebte. Der Papst sieht in beiden Heiligen besondere Lichtgestalten für eine „Neuevangelisierung" durch das Zeugnis eines lebendigen Glaubens. Der 7. Oktober ist gewählt, weil an diesem Tag die Weltbischofssynode zum Thema dieser Neuevangelisierung in Rom beginnt und wenige Tage später, am 11. Oktober, das vom Papst ausgerufene „Jahr des Glaubens" seinen Anfang nimmt.
Nach dieser seit Monaten durch viele Gerüchte zu vermutenden, jetzt aber geklärten Entscheidung wird es in nächster Zeit besonders darauf ankommen zu zeigen, warum vor allem die hl. Hildegard, die bald auch Prophetin aus Deutschland oder vom Rhein genannt wurde, auch für uns heute eine „Kirchenlehrerin" ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13199
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Aufruf zur politischen Beteiligung

Zurzeit ist viel von Wahlen die Rede. In vielen arabischen Ländern wird zum ersten Mal gewählt. Menschen weinen vor Freude, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme abgeben können. In Russland gibt es nach den Wahlen am vergangenen Sonntag viele Vorwürfe eines Wahlbetrugs. Auch bei uns in Deutschland gibt es in zwei Bundesländern in den nächsten Monaten Wahlen. Am heutigen Sonntag werden in Frankfurt und Mainz neue Oberbürgermeister gewählt. Dies zeigt schon die ganze Spannung auf, in der wir leben. Menschen sind überglücklich über ihre erste Wahlmöglichkeit. Andere manipulieren die Wahlen in ihrem eigenen Interesse. In unserem Land müssen wir leider feststellen, dass die Wahlbeteiligung auf fast allen Ebenen - der Gemeinden, der Länder und des Bundes - zum Teil ganz einschneidend abgenommen hat. Man spricht von Politikverdrossenheit und von großer Unzufriedenheit mit der praktischen Politik. Neue Parteien erringen rasch erstaunlich hohe Anteile. Man denke z. B. nur an die Piratenpartei. Ob es nur modische, kurzlebige Erscheinungen sind? Oder ob unsere ganze Parteienlandschaft neu sortiert wird? Vor einiger Zeit traf ich ein Ehepaar, das schon lange in unserem Lande wohnt, aber aus Afghanistan kommt. Sie haben wegen der erdrückenden Unsicherheit und der Korruption ihre Heimat verlassen. Sie waren schon in vielen Ländern der Welt, wo sich auch ihre Verwandten aus einer großen Familie niedergelassen haben. Sie finden, dass nach ihrer großen Erfahrung Deutschland das beste Land ist, das sie kennen. Sie wissen natürlich, dass man noch vieles auch bei uns verbessern kann. Aber sie verstehen nicht, warum bei uns so viele Menschen unzufrieden sind und z. B. auch die Chancen, an freien Wahlen teilzunehmen, nicht nützen. Es gibt viele Formen einer grundsätzlichen Kritik an Wahlen. Die Wähler würden sich nur von Stimmungen leiten lassen. Auf den schwankenden Volkswillen könne man keine langfristige Politik bauen. Wahlen würden immer noch den „Klassencharakter" verschleiern. Andere sehen in Wahlen nur einen formal-demokratischen Mechanismus, der aber wenig Bedeutung habe. Gewiss gibt es in der heutigen Wahlpraxis die eine oder andere Schwäche. Der Wahlkampf gleicht z. B. oft einem „Werbefeldzug", in dem man mit der Wahrheit wenig zimperlich umgeht. Manche Medien treiben eine versteckte Wahlhilfe. Es gibt gewiss auch neue Formen der politischen Partizipation, wie z. B. Bürgerinitiativen, Teilnahme an Demonstrationen, Aktivität in Verbänden. Diese politischen Initiativen sind seit den frühen 70er Jahren zahlreicher geworden. Dennoch stellen Wahlen immer noch das wichtigste Beteiligungsinstrument der Bürger dar. Durch den Wahlakt gibt es eine echte Gelegenheit zur Einflussnahme. Es gibt im Grunde keine demokratisch fundierte Alternative zu ihnen. Man spricht gerne von „Wahlpflicht". Ich mag dieses Wort nicht gerne. Es gibt ja keine gesetzliche Verpflichtung. Wer nicht in sich selbst ein Interesse und einen vielfachen Antrieb zur Wahlbeteiligung verspürt, den holt auch eine bloße „Pflicht" nicht hinter dem Ofen hervor. Wir müssen die Möglichkeit freier Wahlen wieder von innen her entdecken. Mit Recht sagt ein Text des Zweiten Vatikanischen Konzils dazu: „Alle Staatsbürger aber sollen daran denken, von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls. Die Kirche ihrerseits zollt der Arbeit jener, die sich zum Dienst an den Menschen für das Wohl des Staates einsetzen und die Lasten eines solchen Amtes tragen, Anerkennung und Achtung:" (Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et spes", Art. 75) Dies gilt weltweit, freilich auch für uns und bei uns.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12697
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Meine wichtigste Adventserfahrung 
Erinnerungen an den Advent habe ich vor allem aus dem Leben in den Dörfern der Schwäbischen Alb während des Zweiten Weltkrieges und kurz danach. Wir waren gewiss nicht so bedrängt in unserer ländlichen Gegend wie die Menschen in den Ballungsgebieten und Städten. Aber man hat auch als Kind und Jugendlicher viele Sorgen und Ängste mit sich herumgetragen: Kommt endlich wieder einmal ein Lebenszeichen vom Vater? Kommen alle anderen wieder nach Hause? Immer wieder musste ich auch an die Nächte im Bunker denken, als wir aus dem Schlaf gerissen und in die Enge eines vollen Kellers gebracht wurden.
Da brachten die Gänge zum Gottesdienst am frühen Morgen in der Adventszeit - man nennt sie bis heute Rorate-Gottesdienste - eine ganz andere Stimmung. Es machte nichts aus, sehr früh aufzustehen. Wir stapften dann oft durch tiefen Neuschnee über die verschneiten Wiesen und Waldwege in die Kirche. Diese waren kaum mehr zu erkennen. Man musste sie tasten. Was half dabei? Ein Stock und eine Stall-Laterne mit Öl. Licht! Das war entscheidend. Wir sahen weiter. Wir fühlten uns sicher. Wir waren ja auch nicht allein. Von Ferne läuteten die Glocken. Es war eine kalte und dunkle Herausforderung, aber wir freuten uns auf diesen Weg durch die Nacht mit unserem Licht.
Zwei Dinge haben mich eigentlich damals schon beschäftigt und auch später nicht losgelassen, als ich Theologie studierte. Auf der einen Seite war unsere Hoffnung, der Krieg möge bald zu Ende gehen. Wir hatten wirklich Sehnsucht nach Frieden. Advent war so richtig die Zeit, um in die unbekannte Zukunft zu schauen und auch ein wenig zu träumen, wie es anders sein könnte. Aber so wie es durch Nacht und manchmal Nebel, Kälte und Schnee ging, waren wir doch zuversichtlich im Blick auf das Kommende. Wir spürten, dass zum Menschen dieses Vertrauen in die Zukunft gehört.
Aber wir hatten dennoch in unseren Herzen auch viele Ängste. Was wird nach dem nächsten Bombenangriff sein? Ich konnte auch nicht vergessen, wie schwer die Schritte des Postboten waren, als er meiner Großmutter die Nachricht vom Tod ihres ältesten Sohnes, der den Hof erben sollte, überbrachte. Wird er noch einmal kommen? So war uns bei allem Mut zur Zukunft, in die wir trotz des Krieges hineinlebten, auch überdeutlich, dass nicht wir allein die bessere Welt bauen. Da brauchte es auch nicht nur den guten Willen der Menschen, miteinander in Frieden und Sicherheit zu leben. Da gab es noch einen über uns, der wohl allein die Zukunft des Menschen in Händen hatte. Deswegen gingen wir ja auch in die Kirche, um uns von Gott her neuen Mut zu holen. Dort kamen die vielen Lichter zusammen und erhellten die Nacht. Nach einem kargen Frühstück ging es in den Alltag, in die Schule. Irgendwann einmal wird wieder die Sirene heulen und uns in den Luftschutzkeller treiben. Hoffentlich geht alles gut. Diese doppelte Stimmung der Hoffnung habe ich auch später nicht vergessen. Advent ist offenbar eine gute Zeit der Einübung in das Menschsein. Da ist auf der einen Seite die Hoffnung mit unseren Erwartungen und Plänen, aber auch den Ängsten, ob aus den Träumen etwas wird. Da steht stärker die Hoffnung als unsere Leistung und unser Können im Vordergrund. Dies wird immer zum Menschen gehören, solange er lebt, aber wir wissen auch, dass wir die wahre und bleibende Zukunft nicht von uns aus schaffen können. Die wahre Zukunft unseres Lebens kommt auf uns zu. Gott ist die Zukunft unseres Lebens. Im Advent erleben wir in besonderer Weise beides, die Zukunft, die wir entwerfen, die aber immer wieder auch scheitert, und die verlässliche Zukunft, die uns Gott schenkt, in dieser Zeit gewiss vorläufig und bruchstückhaft, am besten vielleicht zu spüren in Frieden, Freiheit und Freude.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12176
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

... beim Papstbesuch in Erfurt

Heute ist der letzte Tag des Besuches von Papst Benedikt XVI. in unserem Land, bevor er nach den vielen Gesprächen und Begegnungen in Freiburg am Abend vom Flughafen Lahr aus nach Rom zurückfliegt. Viele Worte und Gesten, Zeichen und Symbole bleiben in Erinnerung. Die einen sind mehr flüchtig, andere werden auch künftig zum Besuch zählen. Dazu gehört für mich die ökumenische Begegnung und der anschließende gemeinsame Gottesdienst im so genannten Schwarzen Kloster der Augustinereremiten in Erfurt am 23. September, also am Freitag, vorgestern. Ich habe schon einmal gesagt, der Besuch eines Papstes an dieser Stelle ist einer Sensation ähnlich. Dieses Kloster der Augustinereremiten in Erfurt ist ganz eng mit Luthers Weg und Leben verbunden. Am 17. Juli 1505 bittet Luther um Aufnahme in dieses sehr strenge Reform-Kloster. Luthers Vater ist immer noch gegen diesen Klostereintritt. Dort erhält Luther im Jahr 1507 die Priesterweihe. Hier beginnt er auch das Studium an der Universität. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Martin Luther von seinem 22. bis zu seinem 42. Lebensjahr als Mönch lebte. Trotz vertiefter Kritik z. B. an den Mönchsgelübden im Jahr 1520 hielt er an der klösterlichen Lebensweise fest. Auch auf dem Reichstag von Worms am 17. April 1521 trug er das Ordenskleid. Offensichtlich hat er ab Herbst 1524 oft ohne Ordensgewand gepredigt. Den endgültigen Bruch vollzog er jedoch erst, als er im Juni 1525 Katharina von Bora heiratete.
Das zweite Drittel des Lebens Martin Luthers und damit auch die Vorbereitung, das Werden und die ersten Jahre der Reformation sind also eng mit dem Schwarzen Kloster in Erfurt verbunden. Dies ist nicht nur ein äußeres Datum. Die heutige Forschung betont nicht so ausschließlich die Missstände in damaligen Klöstern und die Kritik der Gelübde durch Martin Luther, wie dies früher geschah. Die Gelübde gefährdeten nach seiner Ansicht die christliche Freiheit des Gewissens. Er fürchtete auch ein unevangelisches Streben nach der so genannten Werkgerechtigkeit im Mönchtum. So konnte es zu harten Formulierungen kommen: „Ein Kloster ist eine Hölle, darin der Teufel Abt und Prior ist, Mönche und Nonnen die verdammten Seelen." Heute erkennen wir aber stärker - und dies darf nicht verschwiegen werden -, dass Luther nicht nur lange an der klösterlichen Lebensweise festhielt, sondern dass er auch besonders spirituell und intellektuell durch die klösterlich orientierte Theologie, die so genannte monastische Theologie, geprägt war und blieb. Wenn Papst Benedikt XVI. jetzt das Augustinerkloster betrat, wurden wir also sehr leibhaftig an die Reformation und ihre Kritik der damaligen Kirche erinnert. Dies jährt sich 2017 zum 500. Mal. An vielen Stellen wird dieses Jubiläum vorbereitet. Der Papst scheute sich nicht, den Boden dieses Klosters zu betreten. Selbstverständlich ist dies gewiss nicht, wenn man z. B. an Luthers Worte gegen das Papsttum denkt. Gerade deshalb ist es aber auch ein eindrucksvolles Zeichen, dass in diesem Kloster, das zugleich so etwas wie die Wiege der Reformation ist, der Papst mit den Christen aus den reformatorischen Kirchen sprach und an derselben Stelle mit ihnen betete. In diesem - wie mir scheint geradezu aufregenden - Zeichen können wir den Wandel der Situation zwischen den Kirchen einschätzen. Er wird sinnenfälliger als durch Worte und Schriften allein. Ich bin deshalb auch fest überzeugt, dass von dieser Ökumenischen Begegnung in Erfurt frischer Mut ausgehen wird für die manchmal etwas müde gewordene Suche der Christen nach der Einheit der Kirche Jesu Christi.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11597
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Zur bevorstehenden Entscheidung über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik
In den nächsten Tagen soll der Deutsche Bundestag über die so genannte Präimplantationsdiagnostik, kurz PID genannt, eine endgültige Entscheidung treffen. Diese medizinische Maßnahme soll der Überprüfung dienen, ob Embryonen eine in einer Familie bekannte schwere genetische Störung aufweisen. Solche Embryonen werden der Frau nicht übertragen. Man lässt sie absterben.
Es ist in den letzten Monaten viel darüber diskutiert worden, ob eine solche Methode überhaupt zulässig ist oder ob es unter Umständen, freilich in ganz verschiedener Strenge, Zulassungsausnahmen geben kann. Die Diskussion sowohl im Bundestag als auch in der Öffentlichkeit war zu einem guten Teil von Ernsthaftigkeit und Respekt getragen.
Es gibt sehr viele Aspekte dieser Frage. Ich kann und will in diesem Zusammenhang nur kurz darauf eingehen, warum die katholische Kirche, aber auch viele andere Gruppierungen und Einzelpersönlichkeiten die PID ausnahmslos ablehnen. Dabei kommt es mir auf das Hauptargument zum Lebensschutz an, das auch in benachbarten Sachbereichen der Bioethik eine zentrale Rolle spielt.
Wir alle nehmen für unser eigenes Leben die Würde in Anspruch, ein eigener Mensch mit dem Schutz unseres Daseins zu sein. Bei allen Stärken und Schwächen kann es nicht darum gehen, uns selbst und anderen das Menschsein abzusprechen. Wer sich selbst von Anfang an achtet, kann diese Anerkennung anderen nicht verweigern. Es gäbe sonst eine ethisch nicht zu begründende Herrschaft der Geborenen über die Ungeborenen.
Auch hier begegnet uns wie in anderen Problemfeldern des Lebensschutzes die Versuchung, das Recht und entsprechend auch den Schutz des Lebens abzustufen. Je nach Entwicklungsstand und Fähigkeiten soll es unterschiedlich gestufte Schutzrechte und Achtungsgrade geben. Wenn Embryonen bestimmte Eigenschaften dieser Art fehlen, gibt es Abwägungsurteile über das Recht und den Schutz ihres Lebens. Ein solcher abgestufter Lebensschutz hat aber gewaltige Konsequenzen. Menschenwürde besäßen wir dann nicht mehr grundsätzlich, sondern nur unter gewissen Bedingungen. Menschen wären nur unter dem Vorbehalt ihrer künftigen Gesundheit wirklich schützenswert.
Darum geht es grundlegend in der Frage der Präimplantationsdiagnostik. Darum treten die Bischöfe, wie gesagt mit vielen anderen (z. B. den Behindertenverbänden), für ein ausnahmsloses Verbot der PID ein.
Wir sind nicht herz- und empfindungslos gegenüber Paaren, die eine begründete Sorge haben um die Gesundheit ihres Nachwuchses. Wir helfen ja auch in sehr vielen Fällen durch Beratung und einzelne Hilfen, wenn behinderte Kinder zur Welt kommen. Aber im Kern geht es wirklich um eine grundlegende Frage der Achtung der Menschenwürde. Ich zitiere dafür den neuen Präsidenten der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, aus einem ganz frischen Interview: „Ich bin ein Gegner der bewussten Selektion durch den Menschen nach willkürlich aufgestellten Kriterien. Die Gefahr ist, dass man am Ende die Fragen nach dem Designerbaby und dem Retterbaby nicht mehr zurückweisen kann. Das Risiko besteht, dass die PID für immer mehr Fälle angewandt wird. Wir leben in einer Welt der Salami-Ethik, wo Stückchen für Stückchen abgeschnitten wird. Heute werden 95 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. Juni 2011, Nr. 25, S. 4) Dem ist nichts hinzuzufügen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10990
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Zur Besinnung nach Fukushima

Das Unglück mit dem Atomkraftwerk in Japan hält uns noch täglich in Atem. Viele Menschen aus Wissenschaft und Politik, durchaus physikalisch-technisch interessierte Zeitgenossen, betonen immer wieder, eine solche Katastrophe sei für sie völlig unwahrscheinlich gewesen. In der Tat leben wir zwar schon lange in einer hochtechnisierten Gesellschaft, die man auch Wissensgesellschaft nennt, aber wir vergessen offenbar schnell - dies gilt auch für Experten - die Bedingungen unseres täglichen Lebens und unserer Errungenschaften.
Der Mensch steht immer in der Spannung zwischen einem mit Geist begabten Wesen, das um sein Überleben kämpft und also planen und erfinden muss, zugleich aber auch angewiesen ist auf die nicht von ihm geschaffenen Lebensbedingungen und Ressourcen, nämlich die Erde und den Himmel, das Meer und die Tier- und Pflanzenwelt. Niemals kommt er aus dem Spannungsbogen heraus, zugleich erfinderisch und schöpferisch sowie schonend und bewahrend zu sein. Immer wieder muss er Kräfte ausmessen zwischen seinem enormen Leistungsvermögen und den Grenzen, die ihm dabei gesetzt sind. Im Blick auf die ungeheuer gestiegenen Möglichkeiten des Erfindens und seines technischen Nutzens muss er dabei immer wieder zwei Gesichtspunkte ganz besonders beachten, nämlich die Sicherheit und das Risiko.
Die Sicherheit ist nicht dann am besten gewährleistet, wenn man auf das Wagnis verzichtet, Neues zu erfinden und auszuprobieren. Der berühmte Ziegel vom Dach kann einem auch auf den Kopf fallen, wenn man nur vor seinem Haus sitzt. Insofern muss jedes Wagnis immer auch das Risiko kalkulieren, das mit dem Betreten neuer Wege und Möglichkeiten gegeben ist. Manches, was uns heute nicht so riskant erscheint, setzte doch manchen Wagemut voraus, als man an kühne Objekte herantrat. Ich denke an das Fliegen. Ikarus und der Schneider von Ulm stürzten ab. Aber auch heute sind wir bei aller Verlässlichkeit in der Luftfahrt nicht vor Unglücksfällen gesichert. Wir merken es oft vielleicht gar nicht mehr. Der schöpferische Erfindungsgeist der Wissenschaft und die fast traumhafte Perfektion der Technik lassen uns leicht vergessen, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Wir tun oft so, als ob sie faktisch doch gegeben wäre. Im Mittelalter, als man gewiss die Endlichkeit und Brüchigkeit unseres Lebens täglich härter spürte, war man sich bewusst, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Man war der Überzeugung, dass dies eine Erfindung des Teufels sei, der uns ein solches 100-prozentiges Funktionieren vorgaukelte - ein Irrlicht. Heute sprechen wir nüchtern vom „Restrisiko", das immer bleibt. In den Wahrscheinlichkeitsrechnungen und in der Versicherungsmathematik mag es oft verschwindend klein sein. Wir können es berechnen, aber rechnen nicht mit ihm. Das beruhigende Wort vom Restrisiko darf uns jedoch nicht von absoluter Sicherheit träumen und schläfrig werden lassen. Es bleibt in allem, was wir endliche Menschen tun, ein Mut zum Wagnis und letztlich eben eine Ungewissheit, ob etwas gelingt oder ob wir abstürzen. Das Wort „Restrisiko" verharmlost das Ausmaß des Wagnisses. Wir haben uns so an das „höher", „tiefer" und „weiter" gewöhnt, dass wir manchmal die Bodenhaftung verlieren. Wir sind Töchter und Söhne der Erde und sind angewiesen auf diese bleibende Zugehörigkeit. Sonst werden wir leicht vermessen, verkennen also die uns gesetzten Grenzen. Die Atomkatastrophe von Japan kann uns grundsätzlich auf unsere Lebensbedingungen zurücklenken, damit wir wieder unser Menschsein neu bedenken. Dies soll nicht den menschlichen Erfindergeist madig machen, kann uns aber auch wieder nüchtern, bodennah und vielleicht demütig stimmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10407
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

In jedem Jahr geht die Weihnachtszeit mit dem Sonntag nach dem Dreikönigsfest beinahe jäh zu Ende. Am Sonntag nach Epiphanie wird die Taufe Jesu gefeiert. Damit sind wir aber auch bereits im Bereich des öffentlichen Wirkens Jesu. Tatsächlich lassen uns auch die Schriften des Neuen Testaments über Kindheit und Jugend ziemlich im Dunkeln. Als Jesus mit Josef und Maria - er ist zwölf Jahre alt - vom Tempelbesuch nach Nazaret zurückkehrt, heißt es, wenigstens bei Lukas, lapidar: „Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam." (Lk 2,51f.)
Wenn wir davon ausgehen, dass Jesus etwa im Alter von 30 Jahren öffentlich auftrat, dann bleiben im Unterschied zu dem grellen Licht, in dem das sichtbare Wirken Jesu dargelegt wird, viele Jahre, über die wir zunächst überhaupt nichts wissen. Sie scheinen auch inhaltslos zu sein. Wir rechnen damit, dass der Sohn des Zimmermanns das Handwerk des Vaters lernte (vgl. Mt 13,55; Mk 6,3). Wir dürfen auch noch annehmen, dass er ein religiöses Leben führte, wie es damals in Israel für Juden Brauch war. „Jesus kehrte ... nach Galiläa zurück und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen. So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge." (Lk 4,14-16) Wir erfahren etwas von dem ungewöhnlichen Auftreten Jesu (vgl. schon Lk 2,46ff.), aber sonst bleiben diese Jahre im Dunkel. Deshalb sprechen wir in der christlichen Tradition gerne von den verborgenen Jahren Jesu in Nazaret. Weil man nicht viel über diese Zeit wusste, blieb sie lange Zeit auch weniger beachtet. Es gab jedoch in der Spiritualität einen Brauch, über die einzelnen Stationen des Lebens Jesu zu meditieren. Sie erschlossen sich dann wirklich als Mysterien, Geheimnisse, aber auch in ihrer Bedeutung für unser eigenes Leben. Zu diesen Geheimnissen, die dann vor allem in der Exerzitientradition des Ignatius von Loyola und damit des Jesuitenordens besondere Beachtung gefunden haben, gehören drei Abschnitte: das verborgene, das öffentliche Leben und die Passion. Also gehört auch das verborgene Leben Jesu unbedingt zur Ganzheit seiner Sendung. Jesus lebt in der verborgenen Alltäglichkeit, die wenig zu tun zu haben scheint mit seiner Sendung, eine durchaus religiöse Existenz. Sein Dasein ist zurückgezogen und in Unauffälligkeit gehüllt. Die mühevolle und zumal vielleicht sogar unnütz scheinende Arbeit, die Jesus in seinem verborgenen Leben schlicht und ohne Ansehen getan hat, ist für uns in Wirklichkeit wegweisend. Ein unauffälliges und unscheinbares Leben darf nicht abgewertet werden, weil es nicht im Rampenlicht des öffentlichen Interesses steht. Die Verborgenheit hat einen guten Sinn, denn sie kündet auch von täglicher Dienstbereitschaft, von treuem Arbeiten, vom stillen Zusammenleben mit anderen Menschen. Gerade wenn nichts Sensationelles zu berichten ist, so ist dieser Alltag nicht einfach nichtig. Er kann deswegen durchaus grau sein, mühsam, manchmal banale Plagerei. Auf weite Strecken ist unser Alltag ja auch aufreibende Plage, unansehnlich, verschleißend. Vieles ist, wenn man es mit einem großen Wort sagen will, Gehorsam. Aber gerade darin lebt - vielleicht lange Zeit auch namenlos, eben verborgen - die Gnade Gottes. Auch die alltäglichen Dinge sind, wie Karl Rahner in kleinen Besinnungen über alltägliche Dinge wie Sitzen und Gehen, Stehen und Schlafen gezeigt hat, tiefer von Gottes Gnade durchdrungen, gerade wenn man es nicht so merkt. Beachtet man dies, so ist der Alltag doch nicht so eintönig grau, wie es oft scheint. Wir spüren, was der hl. Paulus meint, wenn er einmal sagt, dass unser Leben mit Christus in Gott verborgen ist (Kol 3,3). Vielleicht können wir in diesem Licht unseren Alltag besser verstehen und froher leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9853
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Sonntag

Im gesellschaftlich-politischen Leben unserer Gegenwart gibt es im Blick auf das Verhältnis der Menschen untereinander den oft gebrauchten Vorwurf, es herrsche in sozialer Hinsicht Kälte. Dabei wird oft die Gerechtigkeit als Gegenwort gebraucht. Wir spüren in den biblischen Texten dieses Advents, wie sehr Gott gerade in dieser Hinsicht gesucht wird: „Er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist." (Jes 11,4). Dabei wissen wir, wie schwierig verbindliche Maßstäbe für die soziale Gerechtigkeit zu finden sind. Der Streit um Hartz IV belegt es jeden Tag.

Ein anderer Kontrapunkt zur „Kälte" ist die Barmherzigkeit, das Erbarmen, die Solidarität mit den leidenden Menschen. Beides, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, darf man nicht einfach gegeneinander ausspielen. Schon Thomas von Aquin hat gesagt: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Auflösung (des menschlichen Miteinanders)". So muss man immer wieder einen Ausgleich finden zwischen beiden Bemühungen.

Im Evangelium dieser Tage heißt es von Jesus angesichts der vielen, die tagelang bei ihm ausharren, aber nun hungrig sind: „Ich habe Mitleid mit diesen Menschen." (Mt 15,32). Das Wort vom Erbarmen und vom Mitleid ist besonders in der hebräischen Sprache sehr emotional aufgeladen. Der ganze Mensch ist in seinen Gefühlen angesprochen. Sein konkretes Innere ist aufgewühlt, die inwendigen Organe des ganzen Menschen sind in Bewegung. Dies zeigt sich auch noch im Neuen Testament, besonders in den Gleichnissen Jesu: Der erbarmungslose Knecht hat zwar von seinem Herrn Nachsicht erfahren, prügelt aber jetzt seine Mitknechte; der aus der Verlorenheit heimkehrende jüngere Sohn trifft auf den älteren Bruder, der unbarmherzig bleibt; der barmherzige Samariter übersieht nicht den unter die Räuber Gefallenen und hilft ihm.

So barmherzig ist Gott. Der Mensch soll an ihm Maß nehmen. Gott erbarmt sich gerade der Geringen und Gedemütigten. Darum wird vom Menschen Solidarität, Sympathie, Mit-Leiden (Compassion) erwartet. Aus den Beispielen der hl. Schrift hat die Überlieferung der Kirche schon früh bestimmte zentrale Werke der leiblichen und der geistigen Barmherzigkeit ausgewählt: Waisen und Witwen helfen, Menschen aus Zwangslagen befreien, Verzicht auf Gewalt, Gewähren von Gastfreundschaft, Ehrung älterer Leute, Trost im Kummer, Irrende nicht fallen lassen, Bösewichte zurechtweisen, Schuldner und Arme nicht unter Druck setzen.

Natürlich kann man mit der Berufung auf Mitleid auch Schindluder treiben. Friedrich Nietzsche wollte in der Barmherzigkeit nur Schwäche, mangelnde Durchsetzungskraft und Dekadenz sehen. Dies muss man gewiss im Einzelfall prüfen. Aber Gott im biblischen Sinne hat eben die Kraft der Hoffnung gerade für das Verlorene oder verloren Geglaubte. Sonst wäre er nicht Gott. Er kann es sich leisten, sich herabzubeugen. Er kann groß sein, weil er verzeiht und schont. Gott ist größer als unser Herz.

An „fremdem" Elende mitzuleiden, gehört zur Größe des Menschen. Daraus lassen sich auch die Lebenssituationen von Menschen verbessern. Man muss sie allerdings auch in ihrem Elend erst wahrnehmen. Man muss sie sehen wollen. Dann ist die Barmherzigkeit eine mächtige Triebfeder menschlichen Handelns. Dies gehört zum biblischen Verständnis Gottes. Der hl. Paulus hat es einmal in unnachahmlicher Klarheit zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt: „Die Heiden aber rühmen Gott um seines Erbarmens willen." (Röm 15,9)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9575
weiterlesen...