SWR2 Wort zum Sonntag

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Zur Besinnung nach Fukushima

Das Unglück mit dem Atomkraftwerk in Japan hält uns noch täglich in Atem. Viele Menschen aus Wissenschaft und Politik, durchaus physikalisch-technisch interessierte Zeitgenossen, betonen immer wieder, eine solche Katastrophe sei für sie völlig unwahrscheinlich gewesen. In der Tat leben wir zwar schon lange in einer hochtechnisierten Gesellschaft, die man auch Wissensgesellschaft nennt, aber wir vergessen offenbar schnell - dies gilt auch für Experten - die Bedingungen unseres täglichen Lebens und unserer Errungenschaften.
Der Mensch steht immer in der Spannung zwischen einem mit Geist begabten Wesen, das um sein Überleben kämpft und also planen und erfinden muss, zugleich aber auch angewiesen ist auf die nicht von ihm geschaffenen Lebensbedingungen und Ressourcen, nämlich die Erde und den Himmel, das Meer und die Tier- und Pflanzenwelt. Niemals kommt er aus dem Spannungsbogen heraus, zugleich erfinderisch und schöpferisch sowie schonend und bewahrend zu sein. Immer wieder muss er Kräfte ausmessen zwischen seinem enormen Leistungsvermögen und den Grenzen, die ihm dabei gesetzt sind. Im Blick auf die ungeheuer gestiegenen Möglichkeiten des Erfindens und seines technischen Nutzens muss er dabei immer wieder zwei Gesichtspunkte ganz besonders beachten, nämlich die Sicherheit und das Risiko.
Die Sicherheit ist nicht dann am besten gewährleistet, wenn man auf das Wagnis verzichtet, Neues zu erfinden und auszuprobieren. Der berühmte Ziegel vom Dach kann einem auch auf den Kopf fallen, wenn man nur vor seinem Haus sitzt. Insofern muss jedes Wagnis immer auch das Risiko kalkulieren, das mit dem Betreten neuer Wege und Möglichkeiten gegeben ist. Manches, was uns heute nicht so riskant erscheint, setzte doch manchen Wagemut voraus, als man an kühne Objekte herantrat. Ich denke an das Fliegen. Ikarus und der Schneider von Ulm stürzten ab. Aber auch heute sind wir bei aller Verlässlichkeit in der Luftfahrt nicht vor Unglücksfällen gesichert. Wir merken es oft vielleicht gar nicht mehr. Der schöpferische Erfindungsgeist der Wissenschaft und die fast traumhafte Perfektion der Technik lassen uns leicht vergessen, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Wir tun oft so, als ob sie faktisch doch gegeben wäre. Im Mittelalter, als man gewiss die Endlichkeit und Brüchigkeit unseres Lebens täglich härter spürte, war man sich bewusst, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Man war der Überzeugung, dass dies eine Erfindung des Teufels sei, der uns ein solches 100-prozentiges Funktionieren vorgaukelte - ein Irrlicht. Heute sprechen wir nüchtern vom „Restrisiko", das immer bleibt. In den Wahrscheinlichkeitsrechnungen und in der Versicherungsmathematik mag es oft verschwindend klein sein. Wir können es berechnen, aber rechnen nicht mit ihm. Das beruhigende Wort vom Restrisiko darf uns jedoch nicht von absoluter Sicherheit träumen und schläfrig werden lassen. Es bleibt in allem, was wir endliche Menschen tun, ein Mut zum Wagnis und letztlich eben eine Ungewissheit, ob etwas gelingt oder ob wir abstürzen. Das Wort „Restrisiko" verharmlost das Ausmaß des Wagnisses. Wir haben uns so an das „höher", „tiefer" und „weiter" gewöhnt, dass wir manchmal die Bodenhaftung verlieren. Wir sind Töchter und Söhne der Erde und sind angewiesen auf diese bleibende Zugehörigkeit. Sonst werden wir leicht vermessen, verkennen also die uns gesetzten Grenzen. Die Atomkatastrophe von Japan kann uns grundsätzlich auf unsere Lebensbedingungen zurücklenken, damit wir wieder unser Menschsein neu bedenken. Dies soll nicht den menschlichen Erfindergeist madig machen, kann uns aber auch wieder nüchtern, bodennah und vielleicht demütig stimmen.

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