SWR2 Wort zum Sonntag

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Im gesellschaftlich-politischen Leben unserer Gegenwart gibt es im Blick auf das Verhältnis der Menschen untereinander den oft gebrauchten Vorwurf, es herrsche in sozialer Hinsicht Kälte. Dabei wird oft die Gerechtigkeit als Gegenwort gebraucht. Wir spüren in den biblischen Texten dieses Advents, wie sehr Gott gerade in dieser Hinsicht gesucht wird: „Er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist." (Jes 11,4). Dabei wissen wir, wie schwierig verbindliche Maßstäbe für die soziale Gerechtigkeit zu finden sind. Der Streit um Hartz IV belegt es jeden Tag.

Ein anderer Kontrapunkt zur „Kälte" ist die Barmherzigkeit, das Erbarmen, die Solidarität mit den leidenden Menschen. Beides, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, darf man nicht einfach gegeneinander ausspielen. Schon Thomas von Aquin hat gesagt: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Auflösung (des menschlichen Miteinanders)". So muss man immer wieder einen Ausgleich finden zwischen beiden Bemühungen.

Im Evangelium dieser Tage heißt es von Jesus angesichts der vielen, die tagelang bei ihm ausharren, aber nun hungrig sind: „Ich habe Mitleid mit diesen Menschen." (Mt 15,32). Das Wort vom Erbarmen und vom Mitleid ist besonders in der hebräischen Sprache sehr emotional aufgeladen. Der ganze Mensch ist in seinen Gefühlen angesprochen. Sein konkretes Innere ist aufgewühlt, die inwendigen Organe des ganzen Menschen sind in Bewegung. Dies zeigt sich auch noch im Neuen Testament, besonders in den Gleichnissen Jesu: Der erbarmungslose Knecht hat zwar von seinem Herrn Nachsicht erfahren, prügelt aber jetzt seine Mitknechte; der aus der Verlorenheit heimkehrende jüngere Sohn trifft auf den älteren Bruder, der unbarmherzig bleibt; der barmherzige Samariter übersieht nicht den unter die Räuber Gefallenen und hilft ihm.

So barmherzig ist Gott. Der Mensch soll an ihm Maß nehmen. Gott erbarmt sich gerade der Geringen und Gedemütigten. Darum wird vom Menschen Solidarität, Sympathie, Mit-Leiden (Compassion) erwartet. Aus den Beispielen der hl. Schrift hat die Überlieferung der Kirche schon früh bestimmte zentrale Werke der leiblichen und der geistigen Barmherzigkeit ausgewählt: Waisen und Witwen helfen, Menschen aus Zwangslagen befreien, Verzicht auf Gewalt, Gewähren von Gastfreundschaft, Ehrung älterer Leute, Trost im Kummer, Irrende nicht fallen lassen, Bösewichte zurechtweisen, Schuldner und Arme nicht unter Druck setzen.

Natürlich kann man mit der Berufung auf Mitleid auch Schindluder treiben. Friedrich Nietzsche wollte in der Barmherzigkeit nur Schwäche, mangelnde Durchsetzungskraft und Dekadenz sehen. Dies muss man gewiss im Einzelfall prüfen. Aber Gott im biblischen Sinne hat eben die Kraft der Hoffnung gerade für das Verlorene oder verloren Geglaubte. Sonst wäre er nicht Gott. Er kann es sich leisten, sich herabzubeugen. Er kann groß sein, weil er verzeiht und schont. Gott ist größer als unser Herz.

An „fremdem" Elende mitzuleiden, gehört zur Größe des Menschen. Daraus lassen sich auch die Lebenssituationen von Menschen verbessern. Man muss sie allerdings auch in ihrem Elend erst wahrnehmen. Man muss sie sehen wollen. Dann ist die Barmherzigkeit eine mächtige Triebfeder menschlichen Handelns. Dies gehört zum biblischen Verständnis Gottes. Der hl. Paulus hat es einmal in unnachahmlicher Klarheit zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt: „Die Heiden aber rühmen Gott um seines Erbarmens willen." (Röm 15,9)

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