SWR Kultur Wort zum Tag

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„Exodus" - so hieß ein Unterrichtswerk für den Religionsunterricht aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. „Exodus" bedeutet „Auszug". Gemeint ist ursprünglich die Erinnerung daran, dass einige israelische Stämme lange vor unserer Zeitrechnung aus der Zwangsherrschaft unterm ägyptischen Pharao ausgebrochen sind und von Gott in die Freiheit geführt wurden.
 „Exodus" meint Aufbruch in die Freiheit. Es ist so etwas wie ein Urwort biblischen Glaubens und menschlicher Existenz. „Exodus" - das ist der Weg des Menschen aus geistiger Abhängigkeit in die Freiheit des eigenen Denkens und Handelns. „Exodus" ist auch der Weg des Glaubenden aus religiöser Enge und Angst zum aufrechten Gang der befreiten und erlösten Kinder Gottes. Nicht zuletzt ist „Exodus" sozusagen das Code-Wort für eine Kirche, die nicht angstvoll oder auch machtverliebt an Besitzständen klebt, sondern die bereit ist, sich zu erneuern und Gottes Zukunft anzuvertrauen - mit allem, was dies an Ungewissem mit sich bringt.
Es ist nicht von ungefähr, dass das Religionsbuch „Exodus" nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden ist. Es wollte den befreienden Aufbruch der katholischen Kirche in die Welt von heute auch den Kindern erschließen. Es wollte helfen, dass Kinder in einen Glauben hineinwachsen, dessen Kennzeichen Freiheit, Liebe und Lebensmut sind. Ein Glaube, der nach Antworten sucht und Antworten finden will auf die tiefen Fragen des Lebens und nicht abseits von diesen.
Zu den Hauptautoren des Unterrichtswerks „Exodus" gehörte Gabriele Miller, eine kluge, liebenswerte und zugleich anstrengend streitbare Frau. Als eine der ersten Frauen hat die gelernte Lehrerin nach dem Krieg katholische Theologie studiert. Sie wollte in ihren vielfältigen geistlichen und religionspädagogischen Publikationen eine Dolmetscherin der Bibel in einer menschenfreundlichen Sprache sein. Unermüdlich kämpfte sie für mehr Rechte von Frauen in der Kirche. Im Jahr 1978 wurde sie - neben vielen anderen Ehrungen - mit der Ehrendoktorwürde der Tübinger Universität ausgezeichnet. Ihr Blick reichte auch weit über den heimatlichen Horizont hinaus. Jahrzehntelang hat sie leidenschaftlich ein Bildungsprojekt für die arme Landbevölkerung in Guatemala unterstützt. Guatemala ist ihr im Alter fast zur zweiten Heimat geworden.
 Am 15. Juli ist Gabriele Miller mit 86 Jahren gestorben. Eine riesige Trauergemeinde nahm eine Woche später Abschied von ihr. Die meisten waren Menschen mindestens in meinem Alter - also solche, die das Konzil bewusst erlebt haben und die sich mit Gabriele im Geist und in der Aufbruchskraft des Konzils verbunden wussten. Wir sind in die Jahre gekommen. Aber der von ihr so sehr ersehnte Geist des „Exodus", des Aufbruchs in die Freiheit in Liebe zur Kirche - er möchte doch auch heute junge Menschen erreichen.

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