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Neulich ist es mal wieder passiert. Ich sitze in der S-Bahn, vertieft in irgendeine Sache, – und ein Mann stellt sich neben mich. Schäbig gekleidet, stumm, in der Hand ein Schild: „Habe Hunger, bitte helfen Sie mir.“
Ich weiß: In Zügen darf man nicht um Geld bitten. Und deshalb soll man auch nicht darauf eingehen. Manchmal kommt das sogar per Durchsage. Und diese Regel ist wahrscheinlich vernünftig. Mit einzelnen Münzen bekämpft man nicht die Ursachen von Armut. Es gibt ja andere Hilfsangebote durch den Staat oder auch die Kirchen. Und oft sind Leute auch nicht von sich aus unterwegs, sondern im Auftrag irgendwelcher anderer – und müssen oben abliefern, was sie bekommen.
Alles vernünftige Argumente. Stimmt alles. Aber in diesem Moment stand eben dieser eine Mensch neben mir. Und hatte mich konkret um Unterstützung gebeten. Und ich bin reich, habe genügend Geld. Soll ich jetzt lang und breit erklären, warum ich nichts gebe? „Was würde wohl Jesus tun?“ Ich bin natürlich nicht Jesus, aber als Christ doch mit ihm verbunden. Aus der Nummer komme ich also nicht raus.
Ich glaube: In solchen Situationen mache ich so oder so Fehler. Weil ich mich für irgendwas entscheiden muss. Und egal, wie – ich werde dem Menschen da vor mir und dem Gesamtzusammenhang nie komplett gerecht. Das will ich mir eingestehen.
Dazu gehört für mich, dass ich Leuten ins Gesicht schaue, die mich um Geld bitten. Nach Möglichkeit auch zuhöre, ein paar Worte wechsle. Weil sie Menschen sind, nicht irgendein moralisches Problem. Und weil ich ihnen auf Augenhöhe begegnen will, wenn wir schon so unterschiedlich viel haben.
In der einen Situation in der S-Bahn damals habe ich dem Mann dann etwas von meinem Proviant zu essen angeboten. Auch das ist natürlich keine richtige Lösung. Sondern kann bevormundend wirken – so, als ob ich schon genau wüsste, was mein Gegenüber braucht und was nicht. Für mich war es ein möglicher Weg in dem Moment. Und ich kann diese Entscheidungen ja immer nur für den Moment treffen.
Wann passiert es das nächste Mal? Und was tue ich dann? Ich weiß es nicht. Aber mich der Entscheidung stellen, das will ich.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37688Das Schawuot-Fest ist ein Fest der Erstlingsfrüchte und ein Erntedankfest. Nur diese Aspekte eines naturverbundenen Festes werden in der Tora erwähnt. Der Talmud, die nachbiblische jüdische Tradition, geht davon aus, dass dieses Fest auch eine heilsgeschichtliche Bedeutung hat, nämlich das Gedenken an die Offenbarung der Zehn Gebote der Tora. Im Laufe der jüdischen Geschichte wurden die Israeliten aus ihrem Land vertrieben. Ihre Fluchtwege führten sie in fast alle Länder der Erde.... So verblasste in der Erinnerung der Menschen die Landwirtschaft des Heiligen Landes und rückte schließlich in weite Ferne. Gleichzeitig wurden die heilsgeschichtliche Bedeutung und die ethisch-monotheistischen Inhalte der Heiligen Schrift vertieft. All dies wirkte sich verstärkend auf das große volksgeschichtliche Erlebnis aus: die kollektive Annahme des Dekalogs, der Tora am Sinai an Schawuot. Diese Annahme verpflichtete die Vorfahren, die Lehren der Gebote an die Völker weiterzugeben.
Auffallend an diesem Fest ist, dass der spirituelle Inhalt, die Zeremonien, die zeremonielle Kunst des Festes in den Hintergrund gedrängt werden. Jedes Fest hat eine verbindliche Symbolik. Jedoch an Schawuot gibt es kein äußeres symbolisches Zeichen dafür, dass wir an diesem Tag zu Trägern und Verkündern der Lehre G-ttes, der Tora, geworden sind. Die Arbeitsruhe am Schawuot ist fast das einzige äußerlich sichtbare Merkmal dieses Festes. Allerdings ist es üblich, die Synagogen und die Häuser mit frischem, grünem Laub zu schmücken. Dies weist jedoch eher auf den naturbezogenen, klassischen Inhalt des Festes hin.
Seit dem 14. Jahrhundert war es üblich geworden, in der ersten Nacht von Schawuot wach zu bleiben, um Lernvorträge aus den Werken der Bibel und der traditionellen Literatur zu halten, sie zu kommentieren und zu erläutern.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37737Einem Menschen richtig zuhören – das ist ganz schön herausfordernd.
Klar, auf ein paar Dinge habe ich auch bisher schon geachtet. Dass ich zum Beispiel darauf verzichte, vorschnell „Kenne ich“ zu sagen, wenn mir jemand von sich erzählt. Ich will das Gespräch ja nicht auf mich lenken, sondern meinem Gegenüber genügend Raum lassen. So weit war ich schon.
Aber was ich schon normalerweise mache beim Zuhören: Dem anderen signalisieren, dass ich ihm folgen kann. Etwa mit einem „Ja, verstehe“ oder nur mit einem „Mhmmm“. Oder ich nicke, ändere meine Mimik – reagiere also ohne Worte auf das, was ich da höre.
Es gibt einen Psychotherapeuten, der schlägt vor, es radikal anders zu machen. Im so genannten „Zwiegespräch“ [Michael Lukas Moeller, Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch, Reinbek bei Hamburg 1990] erzählt der eine, wie es ihm gerade persönlich geht, – und der andere hört tatsächlich einfach nur zu. Reagiert also bewusst gar nicht, weder mit Worten noch irgendwie sonst. Und das nach Möglichkeit eine ganze Viertelstunde lang. Zu Beginn reichen natürlich auch schon mal fünf Minuten.
Meine Frau und ich haben das jetzt ein paar Mal ausprobiert. Für mich war es erst mal irritierend, auf diese Weise zuzuhören. Und ich bin mir richtig unhöflich vorgekommen, so gar nicht auf das Gehörte einzugehen. Weil ich es doch sonst ganz anders gewohnt bin.
Auch als wir die Rollen getauscht haben, musste ich erst mal warm werden mit der neuen Situation. Schon fünf Minuten sind ganz schön lang, wenn man sie völlig alleine füllen soll, durch überhaupt nichts unterbrochen wird. Gibt es so viel zu erzählen von mir, bin ich so wichtig? Ab und zu ist mir einfach nichts mehr eingefallen, so dass es plötzlich ganz still war.
… aber dann habe ich eben einfach gesagt, was ich gerade denke. So banal mir das erst mal vorkam. Und – auch das ist in Ordnung im Zwiegespräch. Mit der Zeit hat es sich ganz befreiend angefühlt, so viel Raum zu haben. Und mir ist immer mehr eingefallen. Ich konnte ganz bei mir sein – und mich gerade damit einem anderen Menschen zeigen.
Diese Erfahrung will ich auch anderen Menschen ermöglichen. Und ihnen noch mehr Raum lassen beim Zuhören. Mal sehen, was dann passiert.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37687Seit einigen Monaten arbeite ich als Klinikseelsorger im Krankenhaus. Das heißt: An jedem Arbeitstag erlebe ich Menschen in ihrem Umgang mit Krankheit und Krise – Patienten und auch ihre Angehörigen. Ich bin da immer noch am Anfang, viele Erfahrungen fehlen mir bis jetzt. Aber eine Beobachtung mache ich immer wieder:
Es gibt Menschen, die richten ihre Aufmerksamkeit in der Krankheit stark nach außen – und suchen dort nach Halt. Sie fragen zum Beispiel sehr entschieden nach Untersuchungsergebnissen und Diagnosen, möchten alles ganz genau wissen. Manchmal fragen sie auch noch bei anderen Experten nach, hören sich im Bekanntenkreis um, recherchieren im Internet.
Das alles kann ich gut verstehen. Es ist auch wichtig, in einer Krankheit gut Bescheid zu wissen. Aber manchmal bekomme ich den Eindruck: Man kann sich da auch verlieren, rastlos werden vor lauter Recherche: „Habe ich auch nichts übersehen? Gibt es irgendwo noch eine wichtige Info? Eine neue Behandlungsmethode …“ Ja keine Chance fürs weitere Leben übersehen zu wollen, das kann zermürbend sein. Denn das, was von außen auf einen zukommt, ändert sich ja ständig wieder.
Und dann erlebe ich Menschen, die strahlen in aller Unsicherheit doch Ruhe aus. Die scheinen zu wissen, wer sie selber sind, was sie wollen, was sie noch grundsätzlich klären möchten. Auch ihnen macht die Krankheit zu schaffen, klar, auch für sie ist das eine Krise. Aber das Geschehen um sie herum fügt sich sozusagen ein in ihr bisheriges Leben, und sie gehen ihren persönlichen Weg mutig weiter.
Mich beeindruckt das. Und wenn ich solchen Menschen begegne, bringt mich das als Seelsorger auch selbst weiter. Ich spüre da Kraft von innen. Über die kommen wir oft auch ins Gespräch – und über die persönliche Lebenshaltung, den Glauben, die Zweifel. Und all das hat tiefe Bedeutung.
Zu sich selbst finden, zur eigenen Mitte, auch zu Gott – manchen Menschen gelingt das tatsächlich mitten in der Krankheit. Die kann ja ein Anlass sein, wichtige Dinge endlich anzugehen. Aber womöglich geht es ja auch vorher schon, ganz ohne äußere Krise. Ich will immer wieder fragen, was mir im Leben wichtig ist, wo ich hinwill. Dann bin ich besser vorbereitet, wenn sich Dinge um mich herum ändern. Und ich habe Kraft dafür.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37686Zu unserer Familie gehört seit einiger Zeit auch eine Schildkröte. Immerhin 20 Jahre hat die schon auf ihrem Buckel – halb so viele wie ich. Und ich lerne ganz viel von diesem kleinen Geschöpf. Vor allem, wie Gelassenheit geht.
Ich kenne kaum ein anderes Tier, das sich so langsam bewegt wie unsere Schildkröte. Manchmal bleibt sie stundenlang reglos an derselben Stelle, komplett im Panzer oder den Kopf stur nach vorne gerichtet. Und wenn sie sich dann doch mal in Gang setzt mit ihren kleinen Beinchen, geht das atemberaubend langsam. Aber ihr Ziel hat sie fest im Blick, unsere Schildkröte. Und sie kommt hin. Auch mal über größere Hindernisse. Deshalb ist es wichtig, das Gehege gut zu sichern …
Ich wünsche mir das auch. Die Fähigkeit, mal ganz langsam zu machen, – und doch fest zu wissen: Nichts hält mich auf. Ich komme an mein Ziel. Vielleicht beginnt das ja damit, unsere Schildkröte mal länger zu beobachten. Mir auf diese Weise etwas abzuschauen von ihrer beharrlichen Kraft.
Und dann ist da noch etwas: Jedes Jahr irgendwann im Herbst bereitet sich unsere Schildkröte auf die Winterstarre vor. So warm die Sonnenstrahlen auch noch sind – sie spürt genau: Es ist Zeit, sich zurückzuziehen. Dann gräbt sie sich nach und nach ein. Im Zeitlupentempo, versteht sich, aber eben doch ganz zielstrebig. Sie fährt ihren Herzschlag, den Atem und alle Stoffwechselfunktionen ganz weit herunter, überlässt sich komplett dem Lauf der Natur. Und dann bleibt sie für viele Wochen und Monate völlig verschwunden.
Das von außen mitzuerleben, ist gar nicht so einfach. Uns fehlt da manchmal die Gelassenheit. Müssen wir noch was für sie tun? Ist es auch nicht zu kalt für sie da im Boden? Wacht sie wirklich wieder auf? Letztes Mal mussten wir sie auch noch umziehen mittendrin, in unseren neuen Garten. Aber dann, eines Tages im März, kam sie. Ganz selbstverständlich und gelassen.
Mit ihrer Lebenshaltung haben Schildkröten es weit gebracht. Schon vor den Dinosauriern gab es sie – und überlebt haben sie die auch. „Wenn ihr Ruhe bewahrt und Vertrauen habt, seid ihr stark.“ [Jesaja 30,15] Dieser alte Satz steht in der Bibel. Aber er könnte glatt auch von unserer Schildkröte kommen. Ein Rat, von ihr zu lernen, ist er auf jeden Fall. Zum Beispiel genau heute – am Weltschildkrötentag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37685Seit 50 Jahren gibt es in Deutschland die Sesamstraße. Immer dabei: die beiden Kult-Handpuppen Ernie und Bert. Mein absoluter Lieblings-Sketch mit den beiden, der zeigt so ganz nebenbei, wie man Probleme aus dem Weg räumen kann – oder eben nicht.
Ernie und Bert legen sich abends schlafen, wünschen sich Gute Nacht. Aber dann tropft der Wasserhahn – und Bert beschwert sich. „Ich bring’ das für dich in Ordnung“, verspricht Ernie. Und macht kurzerhand das Radio an – so dass der Wasserhahn nicht mehr zu hören ist. Bert ist spürbar unzufrieden mit dieser vermeintlichen Lösung. Schlafen kann er immer noch nicht – und meckert jetzt über das Radio. Woraufhin Ernie zuvorkommend auch noch den Staubsauger einschaltet. Der ist so ohrenbetäubend laut, dass er das Radio übertönt, und den Wasserhahn gleich mit dazu …
Ich schmunzle immer noch, wenn ich das anschaue. Und gleichzeitig fühle ich mich ertappt. Weil ich es mit echten Problemen manchmal ganz ähnlich mache wie Ernie. Ich übertöne das Problem, lenke ab und gehe der eigentlichen Ursache aus dem Weg. Damit verschiebe ich das Problem aber nur. Oder mache es sogar noch größer.
Zum Beispiel, wenn ich mit jemandem zusammenarbeiten soll, der vollkommen anders tickt als ich. Da passieren immer wieder anstrengende Missverständnisse, die uns beiden zu schaffen machen. Ich müsste den Mut aufbringen und die Ursache direkt ansprechen. Stattdessen mache ich lieber das Radio an und den Staubsauger – schimpfe innerlich über mein Gegenüber oder gehe ihm einfach aus dem Weg. Stattdessen sollte ich lieber das Problem an der Wurzel packen. „Lasst unter euch nicht eine Wurzel aufwachsen, die Gift und Bitterkeit hervorbringt“, heißt es mal in der Bibel [5. Mose 29,17b; Luther-Übersetzung, angepasst].
Der Sesamstraßen-Sketch mit Ernie und Bert hilft mir, das immer wieder zu tun. Und auch genügend Humor zu haben, wenn ich doch mal wieder andere Lösungen versuche. Manchmal steckt das eigentliche Problem ja einfach zu tief – oder man will einfach nicht ran im Moment.
Übrigens schafft es am Schluss auch der vernünftige Bert nicht, für Ruhe zu sorgen. Als er Staubsauger, Radio und Wasserhahn gewissenhaft abgestellt hat, ist Ernie eingeschlafen – und schnarcht.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37684Hundertprozentig an Gott zu glauben – jeden Tag, in jeder Lebenslage, absolut. Das schafft niemand. Ich spüre deutlich, wie es in meinem Glauben ein Auf und Ab gibt. Mal ist mein Vertrauen groß, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Gott die Welt gut gemacht hat und mich irgendwie schützen wird. Dann gibt es aber auch Zeiten der Verunsicherung, wo ich mir alles andere als sicher bin. Ganz besonders erschüttert es mich, wenn Verantwortliche in der Kirche Vertrauen missbrauchen. Und ich das als Repräsentant meiner Kirche dann mitzuverantworten habe, quasi in Sippenhaft genommen werde. Ich verstehe das zwar, aber es tut mir schon weh, wenn dann auch das Vertrauen darunter leidet, das mir andere normalerweise entgegenbringen. Vertrauen und Glauben hängen dabei unmittelbar zusammen. Erst recht dort, wo es darum geht, Menschen davon zu überzeugen, dass Gott es gut mit uns meint. So einfach ist das, und zugleich so bitter.
Dann gibt es noch etwas anderes, das meinen Glauben ins Wanken bringt. Das geschieht immer dort, wo ich die Kontrolle verliere. Wenn jemand schlecht von mir denkt und spricht. Wenn mein Körper nicht das macht, was ich will. Wenn an einem Tag alles anders läuft, als ich es geplant hatte. Mir ist schon klar, dass es eine Illusion ist anzunehmen, ich könnte in meinem Leben alles kontrollieren. Das geht nicht, und ich soll es auch nicht, weil es mir und anderen die Luft zu atmen nimmt. Aber eine starke Kraft in mir will trotzdem die Kontrolle behalten. Und es ist enorm schwer, diesen Zwang abzuschütteln. Ich habe mich gefragt, woher das kommt. Haben das meine Eltern in mir angelegt? Ist es eine genetische Veranlagung? Offenbar will ich mich schützen, indem ich die Kontrolle möglichst gut behalte. Wenn das aber nicht mehr funktioniert, dann spüre ich um so mehr, wie zerbrechlich mein Leben ist. Und: Ich schäme mich ein bisschen, weil es auch zeigt, wie schwer es mir fällt, mich Gott bedingungslos anzuvertrauen, letztlich an ihn zu glauben.
Glaube und Gottvertrauen kann man nicht machen. Sie entstehen nicht, indem man einen Schalter umlegt. Und ich … kann nicht aus meiner Haut. Ich muss mit den Gegebenheiten leben, wie sie sind. Was ich aber üben kann: geduldig sein und loslassen. Beides führt zu Gott.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37656„Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ So steht es in der Straßenverkehrsordnung, Paragraf eins. Wie oft habe ich schon erlebt, dass dagegen verstoßen wird. Und wie oft habe ich leider selbst schon dagegen verstoßen. Weil ich ungeduldig war und deshalb schneller gefahren bin, als es angemessen gewesen wäre. Oder weil ich meinte, mir mehr Rechte herausnehmen zu können als ich anderen zugestanden habe. Zurück geblieben bin ich eigentlich immer unzufrieden. Ganz anders, wenn ich höflich war, und beispielsweise jemand aus einer unübersichtlichen Stelle rausfahren ließ. Das Prinzip dazu ist ganz simpel. Ich muss mich bloß in den anderen hineinversetzen und kapieren, was mir in dieser Situation helfen würde. Und schon funktioniert das mit der Rücksicht. Warum ist das aber so oft die Ausnahme?
Was im Straßenverkehr passiert, ist für mich ein ziemlich passendes Bild, wie es auch sonst im Zusammenleben unter uns zugeht. Da regt sich einer auf, weil es ihm nicht schnell genug geht, und er merkt gar nicht, dass er damit für andere zu einem Problem wird. Nicht selten kriege ich abstruse Ausreden zu hören, nur damit mein Gegenüber seinen eigenen Fehler nicht zugeben muss. Bezeichnend finde ich in diesem Zusammenhang auch die Reaktion einer Neunzehnjährigen. Auf die Frage, wie viel sie in der Woche zu arbeiten bereit wäre, gibt sie zur Antwort: Vierzig Stunden bestimmt nicht, das mache ja den Körper kaputt. Da konnte ich mir ein Lachen zuerst nicht verkneifen. Bis ich gemerkt habe, dass sich dahinter auch jene Form von Egoismus verbirgt, die unsere Gesellschaft schleichend durchsetzt. Es gibt ja nicht nur das Offensichtliche, wo eine Person direkt einem anderen schadet, weil sie zuerst an sich denkt und andere übersieht. Es gibt auch eine tieferliegende Haltung, die davon geprägt ist, dass sich alles nur um die eigenen Wünsche drehen muss. Aber ich bin eben nicht allein auf der Welt – wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel. Menschliches Leben funktioniert nur mit anderen zusammen. Es hilft dann einfach, wenn ich mitdenke, mich in andere hineinversetze, mehr zuhöre als spreche, Rücksicht nehme und Schwächeren helfe. Und dafür ist der Straßenverkehr ein gutes Beispiel. Und zudem ein gutes Lernfeld für Christen, wenn sie dem Anspruch der Nächstenliebe gerecht werden wollen. Denn: Das Zusammenleben mit den Nächsten erfordert eben auch „ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37655Ein Mädchen pflückt am Wegrand Blumen. Ich komme beim Gassigehen mit meinen Hunden an ihr vorbei. Und freue mich über ihren Anblick. Wie das Mädchen ganz versunken ist, in das, was sie gerade tut. Wie genau und ruhig sie dabei vorgeht, um nur die passenden Blumen auszusuchen. Was für ein schönes Bild das überhaupt ist. Da steckt so viel Anmut drin, echte Schönheit, und – ja – Frieden. Ich genieße dieses Bild; es tut mir gut und macht mich froh.
Und dann gibt es mir im nächsten Augenblick einen Stich: Darf ich das so sehen, denken und fühlen? Ich, als Mann, der katholischer Priester ist? Schlagartig überkommt mich ein ungutes Gefühl. Es verbietet mir diese Gedanken. Und ich weiß auch sofort, woher das kommt. Kirche und Kinder – das ist ein vermintes Gelände. Seitdem immer noch und immer mehr bekannt wird, dass Männer der Kirche, und vor allem Priester Kindern schweres Leid zugefügt haben. Sie haben dadurch alles, was unbekümmert und schön sein könnte am Zusammenleben mit Kindern auf Dauer zerstört. Auf Schritt und Tritt begleiten auch mich die damit verbundenen Warnsignale: kein Schulterklopfen, keine Umarmung, nicht allein in einem Raum sein, keine noch so harmlose Form der Begegnung, die auch nur den Anschein erwecken könnte, dabei sei etwas unangemessen.
Ich verstehe das und bin froh über dieses Bewusstsein, das in den letzten Jahren gewachsen und die Vorsicht, die bei mir entstanden ist. Kinder zu missbrauchen ist besonders böse, weil die, die es tun, ihre Macht ausnützen und dadurch den Schwächsten schaden. Und trotzdem will ich mir meine Freude über das Mädchen da am Wegrand nicht nehmen lassen. Einfach nur, weil es mir guttut, Schönes zu sehen. Aber auch aus einem religiösen Grund: Wie Kinder sind, was in ihnen so unverbraucht da ist, dass lässt ahnen, wie Gott ist. Kinder weisen den Weg ins Reich Gottes. Wenn wir sie sehen, sehen wir etwas vom Himmel auf Erden. Das ist etwas Heiliges; anders kann ich’s nicht sagen. Und ganz zerstören lassen …kann und will ich mir das nicht.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37653„Bevor ich mich ärgere, ist es mir egal.“ Was für ein kluges Prinzip!
Ich war wieder mal auf hundertachtzig. Und wieder mal ging’s nur um eine Kleinigkeit. Die Personenwaage war in der Klinik nicht dort, wo sie hätte sein sollen. Ich hatte aber Zeit und der Weg in die Nachbarstation war nicht weit. Also kein Grund zum Aufregen. Aber so ist es manchmal; bei mir zumindest. Dass es sich nicht lohnt, dass es um nichts geht, das wirklich wichtig wäre - und trotzdem rege ich mich auf. Und da hat Konrad, mein Mitpatient, der gerade neben mir saß, diesen Satz zu mir gesagt: „Bevor ich mich ärgere, ist’s mir egal.“ Konrad ist schon über achtzig und hat in seinem Leben manche Höhen und Tiefen erlebt. Momentan eher eine Tiefe, weil seine Frau zunehmend dement ist. Und dann dieser kleine Satz über Nebensächliches. Ich musste schmunzeln. Der Gedanke ist schlicht und doch steckt viel Klugheit darin. Lebensweisheit nennt man das wohl.
Der Satz gehört nun zu meinem festen Repertoire. Ich kann ihn abrufen, wenn ich ihn brauche. Und das war seitdem oft genug der Fall. Eine Frau, die gefühlt ewig mit der Kassiererin schwätzt, obwohl die Schlange immer länger wird. Ein Freund, der eine dumme Bemerkung fallen lässt, weil er erst redet und dann nachdenkt. Jeden Tag passiert so etwas. Und ich lerne durch Konrads Spruchweisheit etwas besser zu verstehen: Es hilft, nicht sofort zu reagieren, mich nicht hineinziehen zu lassen in das alte Verhaltensmuster: Da passiert etwas, das mich ärgert und ich werde gleich wütend. Nein, erst prüfe ich, ob es sich lohnt, ob es das wirklich wert ist. Was ja schon der Fall sein kann, wenn es um etwas geht, das mir wichtig ist. Aber wenn es um Kleinigkeiten wie die fehlende Waage geht oder wenn ich ungeduldig bin und mir dadurch selbst im Weg stehe; wenn ich mich dann nicht ärgere und es mir einfach bloß „egal“ ist. Das verschafft mir Luft und spart Kräfte, die ich an anderer Stelle besser brauchen kann.
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