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Auf den heutigen Abend freue ich mich granatenmässig. Ich habe Karten für ein BAP-Konzert mit Wolfgang Niedecken.
Ein Abend wie ein Fenster, aus dem warmes Licht herausscheint, wenn es draußen nasskalt ist und man genau weiß: Da drinnen wartet jemand auf mich. Ein Abend wie Heimkommen.
Auch, weil ich die Lieder des Sängers aus Köln jetzt schon über 40 Jahre lang im Gepäck habe. Auch, weil ich beim Konzert einen meiner besten Freunde treffen werde.
Heimkommen.
Wie gut, dass es Heimatorte auf Erden gibt. Nicht nur geografisch. Orte, an denen Vieles vertraut ist.
So wie es heute Abend sein wird, wenn als eine der Zugaben ziemlich sicher „Verdammt lang her“ durch die Halle schallen wird.
„Verdammt lang her“ hat Wolfgang Niedecken übrigens in Erinnerung an seinen Vater geschrieben. .
„Verdammt lang her, dass ich bei dir am Grab war“, so eine der Textzeilen.
Kürzlich war ich auf einem Friedhof und bin auch an einem Grabstein stehengeblieben. Gestaltet wie ein kleiner klassischer Tempel. Am First des baldachinartigen Daches nur ein Wort, geschrieben in großen, von Grünspan gezeichneten Jugendstil-Lettern: „Heimgegangen“.
Obwohl ich noch immer sehr gerne lebe: Ich glaube, das soll auch mal auf meinem Grabstein stehen. „Heimgegangen“. Das hat nämlich was Warmes. Das klingt nach warmem Licht aus einem Fenster an einem kalten Novemberabend.
Heinrich Böll fällt mir dazu ein. Auch ein Kölner wie Wolfgang Niedecken. Er hat die Frage, warum er an Gott glaubt, so beantwortet:
„Ich glaube wegen der Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir’s zugeben – dass wir hier auf der Erde nicht ganz zu Hause sind.“
Ich stimme ihm zu, dem großen Erzähler und Nobelpreisträger. Und ich glaube: Weil wir hier nicht ganz zuhause sind, gerade deshalb sind wir auf der Suche nach Heimat.
Deshalb sehnen wir uns alle danach, irgendwie und irgendwo anzukommen. Und deshalb sind viele Wege in unserem Leben, Versuche nach Hause zu finden. Also Heimwege.
Dass wir Heimatorte finden und Heimatklänge – wie ich hoffentlich heute Abend im Konzert, und dass es Orte gibt, an denen Menschen auf uns warten und dass wir unser Leben lang unterwegs sind zu einem Heimatort, einem Haus, aus dem warmes Licht herausscheint – das ist mein Wunsch für uns alle heute Morgen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40913Mir gegenüber sitzt ein Mann, Ende 50. Graumeliertes Haar, leuchtende Augen. Er spricht mit klarer, aber bewegter Stimme.
Vor ein paar Tagen ist sein Vater gestorben. Mit 92 Jahren. Gemeinsam bereiten wir nun die Beerdigung vor.
Es ist eines dieser Trauergespräche, das mir in Erinnerung bleiben wird. Weil offen geredet wird. Vom Leben des Verstorbenen, in dem es durchaus auch sehr schwierige Zeiten gab: den Krieg, die Flucht, den Neustart im Schwabenland auf einem Gutshof, der mit viel Misstrauen dem Fremden gegenüber verbunden war.
Auch die Schwächen des Vaters wurden benannt. Und da gab es einige.
Aber dann dieser eine Satz:
„Aber wenn ih mir nomal an Vaddr aussucha dürft, ich würde genau den nomal nemma.“
Ich kann mir keine schönere, keine versöhnlichere Aussage vorstellen, die ein Kind gegenüber einem Elternteil formuliert.
Wie kam es dazu?
Ich glaube, da wusste ein Vater, dass das Wichtigste, was Eltern ihren Kindern entgegenbringen können, das Vertrauen ist und die Großzügigkeit
Nicht schimpfen und enttäuscht sein, wenn eines der vom Vater liebevoll zusammengebauten Modellflugzeuge mal wieder in einem Baum hing. Nein, dann vielmehr gemeinsam alles geben, um das Malheur zu beheben, sich zuhause in der Werkstatt an die Reparatur machen.
Dem Sohn dabei zeigen, wie es geht, und es ihn dann auch selber machen lassen.
Um es dann wieder fliegen zu lassen, bis zum nächsten Sturzflug.
Ja, weil er Abstürze akzeptiert hat, nicht nur beim Modellfliegen, und weil er gemeinsam mit dem Sohn immer Wege gesucht und gefunden hat, wie es weitergehen kann.
Ich glaube, deshalb würde der Sohn sich genau diesen Vater nochmal aussuchen.
Ich frage mich, ob meine Kinder das von mir auch sagen würden. Ganz sicher bin ich mir nicht.
Weil auch zwischen uns nicht alles immer gut gelaufen ist und es manche Abstürze gegeben hat.
Aber auch wir haben miteinander erlebt, dass man Dinge reparieren kann. Ja, sogar, dass Vertrauen wieder wächst.
Auch weil das so ist, kann ich heute sagen, auch mit klarer und etwas bewegter Stimme:
„Wenn ich mir mein Leben nochmal aussuchen könnte, ich glaube, ich würde genau dieses nochmal nehmen.“ Weil ich dankbar bin.
In diesen Sommer ist unser Onkel gestorben. Auf der Trauerfeier für ihn habe ich ganz bewusst die folgende Fürbitte gesprochen:
„Guter Gott - Wir bitten für diejenigen, die sich in den Kliniken um die Kranken kümmern: dass sie sich für ein würdevolles Leben und für ein würdevolles Sterben einsetzen.“
Diese Fürbitte hatte einen Grund. Weil wir in den Wochen vor dem Tod des Onkels folgendes erlebt hatten: Nach einem Sturz zuhause wurde er in die Klinik gebracht. Gebrochen hatte er sich Gott sei Dank nichts, aber es wurde schnell klar: Da gibt es einige Probleme bei dem fast 85-jährigen, er kann nicht mehr alleine zuhause leben. Nach ein paar Wochen hatte er sich ganz ordentlich erholt, Ärzte und das Pflegepersonal haben ihn wirklich gut versorgt; er sollte demnächst in ein Pflegeheim entlassen werden. Und dann kam an einem Morgen plötzlich ein Anruf. Von einer anderen Klinik. Dorthin wurde er verlegt, völlig überraschend, niemand hatte uns informiert.
Von einem Arzt wurden wir am Telefon gebeten, einer Herz-Operation zuzustimmen, es sei dringend. Wir wussten zwar, dass der Onkel mit dem Herz ein Problem hatte, aber über eine Operation wurde nie gesprochen, das war überhaupt nicht geplant. Mein Bruder war am Telefon, er hatte die Gesundheitsvollmacht für den Onkel, und sagte dann zu dem Arzt: „Wir müssen Ihnen vertrauen. Wenn Sie sagen, die Operation ist jetzt notwendig, dann operieren Sie.“
Unser Onkel ist nach der Operation nicht mehr aufgewacht und eine Woche später verstorben. Weil er sein Leben lang im Staatsdienst gearbeitet hat, war er privatversichert. Die Rechnung für diese Herz-OP ist deshalb auf unserem Tisch gelandet: 35.000 Euro. Nur die OP.
Natürlich kann ich nichts beweisen; aber alle Fakten, Gespräche und Informationen deuten für mich darauf hin: Bei dieser OP stand nicht der Patient im Mittelpunkt. Mit Kranken kann man heute einfach gute Geschäfte machen! Das ist leider vielfach Tatsache. Unser Onkel wurde in eine jener Kliniken verlegt, die einem großen Konzern gehören. Sie wird also privatwirtschaftlich betrieben und schüttet jedes Jahr Gewinne an ihre Aktionäre aus. Mehr als jede dritte Klinik in Deutschland gehört so einem Investor.
Meine Fürbitte mag in den Ohren eines Konzernchefs wahrscheinlich lächerlich klingen. Aber ich wiederhole sie trotzdem – und ergänzen sie noch. Denn wo mit unserer Gesundheit Geschäfte gemacht werden, da bleiben Menschlichkeit und Würde auf der Strecke.
Deshalb noch einmal: „Guter Gott - Wir bitten für diejenigen, die sich in den Kliniken um die Kranken kümmern: dass sie sich für ein würdevolles Leben und für ein würdevolles Sterben einsetzen. Und: dass sie den Mut haben, sich gegen die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen zu wehren.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40923Ich kenne eine Kirche, in der sitzen Heilige in der Bank. Auf der Nordseeinsel Wangerooge. Ich komme seit einigen Jahren regelmäßig auf die Insel. Und egal ob ich dann morgens, mittags ober abends in die Kirche gehe – drei Gestalten sitzen immer da. Sie sind aus massivem dunklem Holz. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, bin ich erschrocken. Weil die drei von hinten beeindruckend kräftig aussehen. Als ich ihnen nähergekommen bin, musste ich schmunzeln. Es sind Ansgar, Willehad und Nikolaus. Die drei Heiligen der Insel-Gemeinde. Nach dem heiligen Ansgar ist das katholische Gemeindehaus benannt, nach Willehad die Pfarrkirche – und der heilige Nikolaus ist der Patron aller Seeleute und Schiffer und passt deshalb natürlich wunderbar zu einer Kirche am Meer.
Ich frage den Inselpfarrer, was es damit auf sich hat. Denn normalerweise stehen Heiligenfiguren in den Kirchen erhöht auf einem Sockel. Seine Antwort ist pragmatisch: Die Kirche wurde vor einigen Jahren renoviert. Auch die Wände sollten gestrichen werden, dort, wo die Heiligen ihren Platz hatten. Die Handwerker haben die großen Holzfiguren abgenommen und in die Kirche gestellt. Und damit sie nicht im Weg stehen, hat der Inselpfarrer sie als Zwischenlösung in die Bankreihen gesetzt. Das kam so gut an bei den Kirchenbesuchern, dass die drei bis heute dort sitzen. Mitten unter den Leuten, mittendrin bei jedem Gottesdienst.
Auch mir gefällt das. Weil die drei Heiligen in den Bänken mir zeigen: Wir sind welche von Euch. Wir stehen nicht über Euch, ihr müsst nicht Eure Hälse recken und zu uns aufschauen. Ganz genau so können wir das morgige Fest „Allerheiligen“ verstehen. Die Katholiken feiern am 1. November immer alle Heiligen; nicht nur die offiziell von der Kirche heiliggesprochenen. Auch all diejenigen, die keiner kennt und die auf ihre Weise Vorbild waren oder sind.
Heilig – das klingt so groß, so unerreichbar. Aber das ist es gar nicht. Denn heilig kann man auch umschreiben, zum Beispiel mit: gerecht, engagiert, segensreich, bescheiden, ehrwürdig. Und dann fallen mir viele Menschen ein, die für mich heute heilig sind: Die Ehrenamtlichen in den Vereinen, bei der Feuerwehr oder im Rettungsdienst zum Beispiel, die Leute im Repair-Café, die meinen Wasserkocher wieder heil gemacht haben. Oder eine Freundin, die mit ihren Schwestern und der Mutter seit vielen Jahren und mit Engelsgeduld den Vater pflegt.
Wenn ich in der Insel-Kirche auf Wangerooge bin, dann setze ich mich gerne direkt neben Ansgar oder Nikolaus. Mir geht es dann tatsächlich so, dass ich denke: Schön, dass ihr da seid, dass ihr wartet. Und dass ihr mich erinnert und fragt: Wo bist Du heilig - hier und heute?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40922Es war kein schöner Anblick. An einem Morgen in diesem Herbst lag unser Hase tot im Gehege. Wahrscheinlich war ein Marder in der Nacht da und hatte ihm das Genick gebrochen.
Ich habe James, so hieß unser Hase, aus dem Käfig geholt, ihn in eine Kiste gebettet und zu einem speziellen Kühlcontainer für Tiere gebracht. Der Hase war nicht das erste tote Haustier an diesem Tag. Auch wenn es seltsam klingen mag - mir hat es geholfen, dass ich James zu seinen Gefährten legen konnte; zwischen ein schwarzes Schaf und eine grau-gestreifte Katze.
Erst in den Tagen danach ist mir bewusst geworden, wie unser Familienleben von diesem kleinen Tier geprägt war: Der Hase war der Grund, warum ich sechs Jahre lang jeden Morgen nach dem Aufstehen direkt in den Garten gegangen bin, im Schlafanzug, bei jedem Wind und Wetter. Ich habe James gefüttert und diese Minuten in der stillen Morgenkühle genossen. Abends war mein Sohn dran mit Füttern, und er hat das in seine Tagesroutine miteingebaut. Und jeder, der einkaufen gegangen ist, hatte den Hasen auf dem Zettel: Immer sind Kohlrabiblätter im Korb gelandet und frische, glatte Petersilie. Das war sein Lieblingsgrünzeug.
Bis wir den Hasenstall abgebaut haben, hat es einige Woche gedauert. Und jedem in der Familie ist in dieser Zeit dasselbe passiert: Wir sind routinemäßig am Stall vorbei und haben geschaut: Was macht der Hase grad? Schläft er, hat er leer gefressen? Und abends hat immer wieder einer gefragt: Ist der Hase schon gefüttert? Bis wir innegehalten haben und klar war: James ist nicht mehr da.
Dass so etwas passiert, ist ganz normal. In unserem Kopf sind diese Routinen gespeichert. Die Trauerforschung erklärt das so: Menschen und eben genauso Tiere, die uns nahestehen, die prägen uns; wie wir denken, wie wir fühlen und wie wir handeln – sie hinterlassen deshalb Spuren in unserem Gehirn. Und diese Spuren verschwinden nicht so einfach, wenn ein Tier oder gar ein lieber Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Wenn wir sie vermissen, dann sind bestimmte Bereiche im Gehirn aktiv. Und deshalb rechnen wir zum Beispiel damit, dass ein Verstorbener plötzlich zur Türe reinkommt oder eben, dass unser Hase draußen auf sein Frühstück wartet. Wenn jemand stirbt, dann bleibt die Verbindung zu ihm trotzdem bestehen. Sie verändert sich nur mit der Zeit.
Auch wenn es nur ein kleines Zwergkaninchen war, es tut uns trotzdem gut, wenn wir ab und zu an James denken. Wir machen das gerne beim Essen, bei Kohlrabi-Sticks oder einer extra Portion Petersilie auf der Kartoffelsuppe. Und ich finde es in Ordnung, wenn wir von Zeit zu Zeit dazu auch eine Kerze anzünden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40921In diesem Sommer haben wir eine Reise in die Vergangenheit gemacht, mein Bruder und ich. Wir wollen das Land sehen, aus dem unsere Großeltern und Ur-Großeltern stammen. Wir möchten in dem Dorf stehen, in dem sie aufgewachsen sind und aus dem sie nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Deshalb sind wir nach Polen gefahren, nach Jablonka Stara, rund 800 Kilometer von zuhause entfernt. Wir möchten erleben, wie es heute dort ist. Um dann davon zuhause erzählen zu können.
Mit einem alten Foto in der Hand stehen wir auf der Dorfstraße. Es zeigt den Giebel des Hauses, das unser Ur-Großvater 1929 gebaut hat. Und dieses Haus würden wir gerne finden. Wir zeigen das Foto einer Frau, die in ihrem Garten sitzt. Sie schüttelt den Kopf, versteht uns nicht, aber sie holt ihre Tochter. Als die nicht weiterkommt, klopft sie ans Fenster des Nachbarn. Der wiederum holt seinen Sohn, mit dem wir uns auf Englisch austauschen. Und noch mehr Nachbarn kommen dazu. Was dann passiert, das haben wir nicht erwartet: Die einen telefonieren, die anderen schicken unser Foto übers Handy an Freunde und Familien, die dritten bitten uns ins Haus, kramen in ihren alten Fotografien und bieten uns Kaffee an. Zwischendurch sitzen wir in einem Auto und werden zu Luci gefahren. Sie ist die Dorfälteste, 100 Jahre alt, und könnte was wissen. Nach zwei Stunden laufen alle Spuren zusammen. Und wir stehen tatsächlich vor dem Haus unseres Ur-Großvaters!
Wir bringen diese Geschichte und noch mehr Erlebnisse dieser Art mit nach Hause zu unseren Eltern; die sind mittlerweile über 80 Jahre alt. Es tut ihnen gut zu hören, dass für uns die Türen in Polen offen gestanden sind. Für sie ist das wie eine späte Versöhnung. Denn sie selbst haben das nicht erleben dürfen, als sie sich in den 80er Jahren in die alte Heimat aufgemacht hatten.
Versöhnung, das ist ein großes Wort und Versöhnung ist ein langer Weg. Damit der beginnen kann, braucht es vor allem Mut. Weil Versöhnung heißt: über geschehenes Unrecht hinwegzusehen; weil Versöhnung nicht nach Schuld fragt. In Polen haben die katholischen Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg genau das getan: Obwohl Deutschland so viel Leid über die polnische Bevölkerung gebracht hat, haben sie den ersten Schritt gemacht. In einem Brief an die deutschen Bischöfe haben sie 1965 den berühmt gewordenen Satz formuliert: „Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung“.
So eine mutige, unerwartete Geste, so einen ersten Schritt, den bräuchte jetzt auch der Nahe Osten. Denn ohne Vergebung und Versöhnung wird es keine gemeinsame Zukunft geben können. Nirgendwo.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40920Meine Familie und ich müssen umziehen. Raus aus dem Haus, das wir in den vergangenen Jahren liebgewonnen haben. Auch wenn ich in meinem Leben schon oft umgezogen bin, dieses Mal fällt es mir wirklich schwer. Und ich merke, dass sich etwas geändert hat, seit ich weiß, dass wir bald Kisten packen müssen. Ich erlebe viele Alltagssituationen auf einmal anders – vielleicht liegt es daran, dass ich älter geworden bin. Und zwei Drittel meines Lebens um sind.
Ich spüre, dass ich traurig bin von hier wegzumüssen – und gleichzeitig empfinde ich diese letzten Monate in unserem Zuhause viel intensiver. Ich genieße die Zeit, trinke ausgiebig Morgenkaffee in der Sonne am Fenster, freue mich noch mehr über die Eichhörnchen in den Bäumen gegenüber und schätze es sehr, mit dem Rad über die Herbstfelder zu fahren und ins warme Wohnzimmer zu kommen.
Was ist da passiert? Ich glaube, mir ist zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, dass nichts für immer ist - und mein Leben endlich. Der Umzug steht dabei stellvertretend für die Tatsache: Da geht was zu Ende, was doch eigentlich noch so schön ist. Dann denke ich aber auch: Genau so ist es gut! Denn diese Begrenzung zu spüren – das hat meine Sinne geschärft und ich habe das Gefühl, ich lebe und empfinde intensiver. Davon erzählen auch Menschen, die krank sind und definitiv wissen, dass ihre Zeit zu Ende geht.
Manchmal scheint es verlockend darauf zu hoffen, dass ich unsterblich sein könnte oder dass die Forschung mir zumindest ein sehr langes Leben ermöglichen kann. Aber eigentlich möchte ich das gar nicht. Denn ich glaube, damit wäre ich nicht glücklicher. Womöglich wäre es sogar langweilig. Denn, nur weil mein Leben endlich ist, ist jedes Ereignis einmalig und jeder Moment hat seine ganz besondere Schönheit – und andersrum natürlich genauso; der schlimme Schmerz oder das Drama gehören ebenso zur Einmaligkeit. Auch die machen das Leben am Ende reicher – so schwer es auch sein mag. Weil mein Horizont in jedem Fall größer und weiter wird.
Ich werde Vieles vermissen, rund ums Haus und in unserem Dorf. Auch wenn wir nur ein paar Jahre hier waren. Und deshalb: Bevor wir ein Einzugsfest am neuen Ort feiern, brauche ich dieses Mal ein Auszugsfest. Ich finde, auch zu einem Abschied darf man zusammenkommen; und das nicht nur bei einer Beerdigung. Ich möchte mit Nachbarn und Freunden das Ende würdigen, die Zeit, die wir hier waren und dabei auch ein bisschen traurig sein dürfen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40919Wenn ich so in den Herbstregen rausschaue, träume ich gerne ein bisschen von Orten, an denen es schön warm und sonnig ist. Warum muss ich hier im nebligen Neckartal sitzen? Nicht nur das Wetter gibt mir Anlass zu überlegen, ob es anderswo vielleicht besser wäre. Wenn ich am Schreibtisch in unserem alten Haus friere, wünsche ich mich in eine gut gedämmte Wohnung. Wenn mich etwas an meiner Arbeit nervt, denke ich über andere Stellen nach…
Woanders sein Glück suchen, wenn es zu Hause nicht läuft – das ist ein naheliegender Gedanke. Aber ist es eine Lösung? Eine alte jüdische Geschichte erzählt davon mit einem Augenzwinkern:
Die Geschichte handelt von einem frommen Mann: Eisik, dem Sohn Jekels. Eisik lebt in Krakau – und hat es schwer im Leben. Eines nachts aber hat er einen Traum. In diesem Traum bekommt er den Auftrag nach einem Schatz zu suchen – und zwar in Prag unter der Brücke, die zum Schloss führt. Als er den Traum zum dritten Mal hat, macht sich Eisik tatsächlich auf die lange Wanderung von Krakau nach Prag, um den Schatz zu suchen. Doch an der Brücke stehen Tag und Nacht Wachen, und er traut sich nicht, dort zu graben. Jeden Tag kommt er wieder und umkreist die Brücke bis zum Abend – bis schließlich einer der Wachen ihn aufmerksam wird. Ob er hier etwas suche oder auf etwas warte, fragt der Wachmann freundlich. Eisik erzählt von seinem Traum. Der Wachmann lacht ihn aus: „Da bist du armer Kerl nur wegen eines Traums so weit gewandert… Ja, wer Träumen traut! Da hätte ich mich ja auch auf den Weg machen müssen, als ich im Traum den Rat bekam, nach Krakau zu wandern und in der Stube eines Eisik, Sohn Jekels, unterm Ofen nach einem Schatz zu graben…“ Als Eisik das hört verneigt er sich höflich, wandert heim, gräbt den Schatz aus und baut davon ein Bethaus.
Der jüdische Philosoph Martin Buber erzählt diese alte Geschichte. Für ihn gibt die Geschichte eine Antwort auf die Frage, wo wir unser Glück finden. „Es gibt etwas“, schreibt Buber dazu, „was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung […] nennen.“ Diesen Schatz, da ist Buber überzeugt, findet man nicht ganz woanders, sondern: „Da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind.“ Also, wie Eisik in der Geschichte, quasi bei uns zu Hause. In dem, was uns Tag für Tag begegnet und fordert. In der kleinen Welt, die uns anvertraut ist.
Ich glaube, Buber hat recht. Das Ziel ist, das zu finden, wofür es sich zu leben lohnt: Heute – und genau da, wo ich gerade bin.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40876An diesem Schabbat beginnen wir - wie jedes Jahr - aufs Neue mit der Lesung des ersten Mosebuches in unseren Synagogen. Wir lernen über die Erschaffung der Welt und hören die Geschichte von Adam und Eva. Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aßen, richteten sie ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf G-ttes Herrlichkeit, sondern auf die Welt um sie herum. Die Abkehr Adams und Evas von G-tt war der Grund dafür, dass sie ihre Unsterblichkeit verloren. Wir können diese Geschichte aber auch als eine Erzählung über den Zustand des Menschen lesen. Als Kinder leben wir in Eden, im Paradies: Alle unsere Bedürfnisse werden erfüllt, und wir müssen den Boden nicht beackern. Irgendwann werden wir erwachsen und müssen für unseren Lebensunterhalt arbeiten. Wir beginnen, die Welt kennenzulernen. Wir müssen Eden verlassen, um zu erfahren, was es bedeutet, Leid zu empfinden.
Erwachsen werden bedeutet aber auch, Wissen zu erwerben. Wenn wir dieses Wissen erlangen, werden wir uns unserer Fähigkeit bewusst, die Welt um uns herum zu beeinflussen. Wir lernen, Verantwortung für unser Leben zu übernehmen, lassen das Vertraute hinter uns und wagen uns in eine neue, unbekannte Welt. So gesehen ist das Fehlverhalten von Adam und Eva ein Teil der menschlichen Natur. Wir alle machen Fehler und müssen die Konsequenzen unseres Verhaltens tragen, aber wir haben unsere Familie, unsere Gemeinschaft und unsere Beziehung zu G-tt, die uns den Weg weisen.
Nein, schön ist das nicht mehr! Von meinem Fenster aus kann ich ein großes Sonnenblumenfeld sehen. Vor einigen Wochen noch war es eine richtige Augenweide: ein Meer von leuchtend gelben Blüten. Inzwischen sieht das Feld gar nicht mehr gut aus. Die Pflanzen sind braun geworden, die Blüten vertrocknet, die Blätter hängen dürr und kraftlos nach unten. So trist ist der Anblick, dass die Landwirtin eine Nachricht zur Erklärung in eine lokale Chatgruppe geschrieben hat: Man soll die welken Sonnenblumen auf den Feldern bitte nicht beschädigen. Denn: Jetzt erst reifen die Kerne, aus denen das Sonnenblumenöl gemacht wird.
Die Nachricht hat mir gefallen, weil ich gemerkt habe: Ein bisschen geht es uns Menschen auch wie den Sonnenblumen. Es gibt Zeiten im Leben, in denen wir aufblühen, eine kraftvolle Ausstrahlung haben. Und dann gibt es Zeiten, in denen unsere Spannkraft und Attraktivität nachlässt. Aber ich glaube: Auch in uns reift dann oft etwas Wertvolles.
Das kann zu jeder Zeit im Leben passieren – spätestens aber im Alter. Wenn man älter wird, ganz langsam merke ich es auch, ist der Körper nicht mehr so leistungsfähig. Und es dauert länger, Neues zu lernen. Wer noch älter ist als ich, weiß: Manches geht irgendwann nicht mehr! Meist keine schöne Erfahrung…
Aber es ist eben im Laufe des Lebens auch etwas gereift. Etwas, das – wie die Kerne in der Sonnenblume – auch für andere wertvoll ist:
Im Alter reift auf jeden Fall die Erfahrung. Wer schon viele Jahre gelebt hat, dem ist meist nichts Menschliches mehr fremd – und Jüngere können, wenn sie zuhören, viel davon profitieren. Mit der Lebenserfahrung wächst im Alter im besten Falle auch die Gelassenheit: Wer schon viel erlebt hat, kann eher einordnen, worüber es sich lohnt, sich aufzuregen – und worüber nicht. Und nicht zuletzt reift im Alter auch die Einsicht, dass wir alle begrenzte Kräfte haben – und ja, auch eine begrenzte Lebenszeit. Eine Einsicht, finde ich, die auch wir Jüngeren ernster nehmen sollten.
Klar ist: Bei aller wertvollen Reife – einfach ist das Altwerden meist nicht. Deshalb finde ich den Bibelvers so tröstlich, in dem Gott verspricht, dass er nicht nur in den Blütezeiten des Lebens da ist: Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet, steht im Jesajabuch.
Das verblühte Sonnenblumenfeld vor meinem Fenster sehe ich auf jeden Fall mit anderen Augen, seit ich über die Sonnenblumenkerne nachdenke, die darin reif werden – und über das Altern. Das, was daran wertvoll ist, sieht man manchmal nicht auf den ersten Blick.
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