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Ein Hund kann Vieles, unglaublich Vieles. Und in manchem ist er uns haushoch überlegen. Er kann mindestens sechzigmal besser riechen als Menschen. Mit seinem sensationellen Geruchssinn kann er Drogen erschnüffeln und ebenso die Fährte vermisster Menschen. Und an unserem Geruch kann er sogar erkennen, ob wir gerade traurig sind oder gut gelaunt, ängstlich oder wütend. Im Vergleich mit einem Hund komm ich mir da vor wie ein primitives Pantoffeltierchen.
Aber der Geruchssinn ist nicht alles, in anderen Bereichen ist es gerade umgekehrt. Da kommt der Hund an seine Grenzen, wie sehr ich auch immer mit ihm trainieren würde.
Wenn ich einem Hund etwas zeigen will und mit dem Finger auf etwas deute, dann schaut der Hund nicht in die Richtung, in die mein Finger zeigt, sondern nur auf den Finger. Auch der cleverste Hund wird in dem Finger nicht mehr sehen als eine Geste, mit der ich ihm ein Kommando gebe.
Der große Psychiater Viktor Frankl hat diese Beobachtung festgehalten. Und er hat darin ein Bild gesehen. Ein Bild dafür, wie wir Menschen uns oft verhalten. Wenn wir etwas erleben, das wir nicht verstehen, dann starren wir oft auch nur auf das Ereignis, wie der Hund auf den ausgestreckten Finger. Stattdessen, meint Frankl, sollten wir damit rechnen, dass ein solcher ‚Zeigefinger‘ zugleich auch ein Fingerzeig sein könnte. Dass uns manche Ereignisse auf etwas hinweisen, was wir sonst gar nicht sehen würden.
Mir fallen da viele Beispiele ein. Während der Pandemie etwa haben wir gebannt auf den Finger der täglichen Corona-Ticker geschaut mit ihren verwirrenden Zahlen und Fakten. Damals konnten wir noch nicht sehen, wohin der Finger zeigt, allenfalls manches ahnen. Aber meistens könnten wir mehr sehen, viel mehr, wenn wir nicht nur auf den ‚Finger‘ starren würden. Ein solcher Zeigefinger ist auch die Erderhitzung. Die müssten wir dringend als Fingerzeig verstehen. Um nicht nur die Temperatur zu messen, sondern auch die Ursachen anzugehen und entschieden umzusteuern.
Anders als ein Hund sind wir dafür geschaffen, Fingerzeige zu verstehen, und damit auch die Folgen unseres Verhaltens abzuschätzen. Damit haben wir auch Verantwortung. Allem voran die Verantwortung, die Erde zu erhalten, unser gemeinsames Haus. Als Lebensraum, für uns selbst und für unsere Mitgeschöpfe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41806Riesenrad fahren. Für mich kam das lange nicht in Frage, weil ich schon im dritten Stock Höhenangst bekomme. Dann, vor ein paar Jahren, kam mal Besuch aus Frankreich, meine Brieffreundin und ihr Mann. Vor 30 Jahren waren wir zusammen auf dem Cannstatter Volksfest, deshalb wollte sie jetzt gern nochmals hin. Und Riesenrad fahren, wie damals. Damals allerdings noch ohne mich. Aber jetzt sollte ich unbedingt mitfahren ….... Ich wollte ihnen den Spaß nicht verderben und habe mich dann doch überwunden einzusteigen. Mit ganz flauem Gefühl.
Wir waren gerade mal ein paar Meter über dem Boden, da begann eine junge Frau, die mit in der Kabine fuhr, unruhig zu werden. Sie klammerte sich an ihren Freund, und dann an alles, was sie zu fassen bekam. Die Atmung wurde schneller, sie geriet in Panik. Ihr Freund war überfordert, die anderen Mitfahrenden konnten nicht deutsch. Jetzt kam es auf mich an. Wir legten sie auf den Boden, so dass sie nicht hinausschauen musste, und hielten sie fest. Nicht zu fest, nur so, dass sie das Gefühl hatte: ich bin nicht allein. Ich versuchte eine Atemübung mit ihr zu machen, und tatsächlich: langsam beruhigte sie sich. Und als das Riesenrad anhielt, war sie noch etwas blass um die Nase, konnte aber schon wieder lächeln.
Erst danach ist mir aufgefallen: Meine eigene Höhenangst hatte sich überhaupt nicht gemeldet. Der jungen Frau ging’s so schlecht, und ich war ganz damit beschäftigt, sie zu beruhigen, zu stärken, zu trösten, dass ich an meine eigene Angst gar nicht dachte. Ich war völlig abgelenkt, und vor allem: ich wurde gebraucht.
Dieses Prinzip funktioniert, nicht nur bei Panikattacken im Riesenrad. Es ist auch das Prinzip, nach dem viele Selbsthilfegruppen entstanden sind. Solange die Mitglieder einander helfen, werden sie von ihrem eigenen Elend nicht überwältigt. …...
Denen helfen, die’s schwerer haben als ich, denen’s schlechter geht als mir. Das funktioniert erstaunlich gut. Auch dann, wenn’s mir nicht so gut geht. Wie hat es Jesus doch gleich formuliert? ‚Alles, was du von anderen gern möchtest, dass tu auch für sie.’ Wenn ich mich danach richte, geht’s im besten Fall allen besser. Nicht nur mir, aber auch mir.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41805Wie genial sind eigentlich Waschhinweiszettel? Diese kleinen Zettel, die in unseren Kleidungsstücken angebracht sind, damit wir wissen, wie heiß wir sie waschen dürfen und ob sie in den Trockner können. Kleine, aber unheimlich hilfreiche Informationen genau an dem Ort, wo wir sie brauchen – immer auffindbar, eindeutig und trotzdem unauffällig.
Ich mag es, von solchen Zetteln an die Hand genommen zu werden: Benzin oder Diesel? Was muss jetzt nochmal in dieses Auto? Zack, Hinweiszettel am Tank. Wie viel Wasser braucht diese Pflanze? Zack, Hinweiszettel am Blumentopf. In welche Richtung muss ich die festgezogene Schraube aufdrehen? Zack, Hinweiszettel am Schraubendreher. Warum gibt es diese praktischen Zettel nicht in mehr Lebensbereichen?
Zum Beispiel ein Hinweiszettel, dass man den Kollegen vor seinem ersten Kaffee besser nicht ansprechen sollte. Ein Hinweiszettel, dass die Freundin gerade empfindlich auf das Thema Katzen reagiert, weil ihre eigene gestorben ist. Ein Hinweiszettel, dass der Sparkassenbeamte besonders freundlich ist, wenn man ihn auf seine schöne Krawatte anspricht.
Manchmal sehe ich aber auch Hinweiszettel, die eigentlich überflüssig sein müssten. Im Bus oder in der S-Bahn zum Beispiel der Hinweis, älteren Menschen oder Schwangeren bei Bedarf den eigenen Sitzplatz zu überlassen. Das müsste doch eigentlich selbstverständlich sein – und trotzdem braucht es wohl einen Hinweiszettel.
Der Prophet Micha formuliert so etwas wie einen Hinweiszettel für unser Leben: „Mensch, es ist dir gesagt, was gut ist, das Rechte tun, Nachsicht mit anderen haben und bewusst den Weg mit Gott gehen.“ (Micha 6,8)
Eigentlich klar und einfach. Aber: Die Umsetzung ist gar nicht so einfach. Das Rechte tun, Nachsicht mit anderen haben und den Weg mit Gott gehen – all das ist eine lebenserfüllende Aufgabe. Und manchmal sind wir Menschen vielleicht auch zu bequem, und lesen lieber nicht so genau, was da auf dem Hinweiszettel steht.
Gott ist zum Glück gnädiger als so eine Waschmaschine, bei der die Wäsche bei zu hoher Temperatur gleich eingeht. Es gibt zweite und dritte Chancen, Neuanfänge und Umkehrmöglichkeiten – auch wenn wir die Hinweise immer wieder übersehen oder nicht richtig umsetzen. Es ist, als hätte sich Gott selbst den Hinweiszettel vorgenommen: Er verspricht, Recht zu tun, Nachsicht mit uns zu haben und uns auf unserem Weg zu begleiten. Nur mit dieser Zuversicht lässt es sich gelassen auf den Hinweiszettel schauen: im Wissen, dass Gott unsere Versuche, den Hinweiszettel zu beachten, begleitet und gnädig darauf schaut.
Ich habe den Hinweiszettel vom Propheten Micha als Post-it an meinen Computerbildschirm geklebt – denn auch wenn ich weiß, dass ich immer wieder daran scheitern werde. Ab und zu daran erinnert zu werden, schadet auch nicht. Mensch es ist dir gesagt was gut ist!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41745In den Wochen vor der Bundestagswahl hätte man denken können, dass die Demokratie für viele Christinnen und Christen die gottgegebene Staatsform sei. Kirchen standen öffentlich für Demokratie und Menschenwürde ein und machten kräftig Werbung, zur Wahl zu gehen. . Dabei ist es eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die Kirche lange Zeit ohne Demokratie ausgekommen ist. Und genauso wie Christen heute für die Demokratie eintreten, war es für sie lange Zeit selbstverständlich, in einer Monarchie zu leben.
So wie ich das sehe, gibt es keine „gottgegebene“ Staatsform. Trotzdem gibt es Formen, die ich als Christ für falsch halte. Es ist falsch, wenn irgendeine Staatsform meinen Glauben nicht zulässt. Schon zur Zeit der Reformation war klar, dass die staatliche Ordnung für Christinnen und Christen eine Sache sicherstellen muss: dass das Evangelium verkündet werden kann. Das ist noch nie so gut gelungen, wie in unserer Demokratie. Wir können in der Kirche mit großer Freiheit das Evangelium predigen und auch ganz praktisch umsetzen: Christen (und auch andere Religionen) können ohne staatliche Eingriffe Gottesdienste feiern, Gemeindearbeit betreiben und den Glauben öffentlich leben. Das ist wertvoll. Und weil ich als Christ an einen Gott der Liebe und Gerechtigkeit glaube, bin ich froh, dass in unserer Demokratie jeder das glauben kann, was er für richtig hält.
Bisher haben wir keine andere Staatsform gefunden, die es den Menschen ermöglicht, so frei und gleich zusammenzuleben wie in einer Demokratie. Sie ist eine Errungenschaft der Menschheit, aber eben auch genau das: ein Menschenwerk. Auch demokratische Systeme bergen Ungerechtigkeiten. Zum Beispiel werden Mehrheitsentscheide getroffen, die immer eine Minderheit unberücksichtigt lassen. Die Demokratie ist anfällig für Populismus und trotz aller Beteuerungen gibt es auch in der Demokratie Menschen, die mehr Macht haben.
Die Rolle der Kirche und der Christinnen und Christen muss darum – egal in welcher Staatsform – immer eine prophetische sein. Mit dem Blick darauf, wo Menschen durch die Politik benachteiligt werden, wo Unrecht besteht, wo es Widerstand braucht. Der Auftrag an Christinnen und Christen ist die Förderung von Gerechtigkeit, die Wahrung der Menschenwürde und die Schaffung von Bedingungen, die den Glauben an Christus und das Leben in seinem Namen unterstützen. Ich bin der Überzeugung, dass die Demokratie dafür eine gute Grundlage bildet und darum auch von Christinnen und Christen gefördert, unterstützt und verteidigt werden muss. Aber nicht zum Selbstzweck, sondern für das, was sie ermöglicht.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41744Manches wird tatsächlich besser – man sollte es kaum glauben. Über viele Jahre ist die Anzahl der hungernden Menschen gesunken. Die letzten 80 Jahre waren friedlicher als alle Epochen davor. Es gibt mehr Menschen, die gesund sind, als Menschen die schwer krank sind. Betrachtet man nur diese Zahlen, könnte man meinen, dass wir gerade auf der besten Erde aller Zeiten leben. Allerdings weiß ich, dass ich mir da etwas vormachen würde. Obwohl ich manchmal denke: Müsste das nicht so sein? Schließlich gibt es heute mehr Christinnen und Christen als je zuvor. Und sie alle berufen sich auf Jesus, der das Himmelreich Gottes verkündet hat – ein Reich, das schon vor 2000 Jahren begonnen haben soll.
Jesus hat dieses Reich mit einem Senfkorn verblichen: klein und unscheinbar, doch mit der Zeit wächst daraus ein großer Baum. Die Nachricht vom sinkenden Hunger macht Hoffnung. Auch die Erkenntnis, dass die Welt in den letzten 80 Jahren so friedlich war wie nie zuvor. Die Versuchung liegt nahe, die Menschheitsgeschichte als eine stetige Fortschrittsgeschichte zu sehen. (Viele haben es so gedeutet. Alles wird besser.)
Doch dann lese ich von der Weltuntergangsuhr: 89 Sekunden vor Mitternacht – so nah am Abgrund wie nie zuvor. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren es einmal 17 Minuten bis zum Weltuntergang. Und ich lese, dass Gewalt und Krieg weltweit wieder zunehmen. Genauso seit einigen Jahren auch der Hunger und die Unterernährung. Wo ist da noch Raum für das Himmelreich? Die Welt scheint eher auf Messers Schneide zu stehen.
"Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch", sagte Jesus. Aber das bedeutet nicht, dass ein politisches System es errichten könnte. Es ist kein Aufruf, mit Gewalt oder Politik das Reich Gottes aufzubauen.
Ich glaube, dieses Reich ist viel unscheinbarer. Es zeigt sich in Beziehungen: in guten Freundschaften. In der Verbindung zwischen einer Mutter, die ihre Kinder großgezogen hat und nun von ihnen gepflegt wird, im älteren Herrn, der sich im Besuchsdienst um einsame Menschen kümmert und dadurch selbst weniger einsam ist. In der Sozialarbeiterin, die trotz aller Rückschläge die Hoffnung für abgehängte Jugendliche nicht aufgibt. Das Reich Gottes zeigt sich in solchen Momenten der Menschlichkeit.
Und doch bleibt da auch die Sehnsucht. Neben dem "Das Reich Gottes ist mitten unter euch" steht in der Bibel auch "Dein Reich komme" – Worte aus dem Gebet, das viele Christinnen und Christen jeden Sonntag sprechen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Frieden, nach einem Ende der Kriege bleibt bestehen. Sie steht neben den vielen kleinen Senfkörnern, die überall auf der Welt keimen. Wir sind noch nicht am Ziel. Aber jedes Senfkorn, das austreibt, trägt die Hoffnung, dass das Reich Gottes eines Tages Wirklichkeit werden kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41743„Was ist Reichtum für Sie?“ Das frage ich mein Gegenüber: Einen Mann, der in der letzten Nacht und viele Nächte davor draußen geschlafen hat, der sein ganzes Hab und Gut mit in die Kirche gebracht hat. Einen Mann, der auf der Straße lebt und heute froh ist, dass er in der Vesperkirche ein warmes Essen und einen Kaffee bekommt. In der kalten Jahreszeit, die so langsam zu Ende geht, gibt es in ganz Deutschland Kirchen, die als Vesperkirchen ihre Türen öffnen und Mahlzeiten sowie Möglichkeiten zum Gespräch und einem Arztbesuch anbieten.
„Was ist Reichtum für Sie?“ Ich frage ihn, weil ich neugierig bin. Weil ich mein Gegenüber besser verstehen will. Und später auch gerne davon erzählen möchte: Im Seniorennachmittag, bei meinen Konfis oder auch im Sonntagsgottesdienst. Und er antwortet:
„Reichtum ist das, was man von Herzen gibt und nicht von anderen nimmt.“ Mich berührt die Antwort, weil sie so viel tiefer ist, als die einfache Vorstellung von Reichtum „viel zu besitzen“. Wahrer Reichtum also: in der Lage zu sein, etwas zu geben. Vor allem: etwas zu geben, das man nicht anderen weggenommen hat. Andere Antworten, die ich noch an diesem Morgen bekomme, sind nicht weniger beeindruckend: „Reichtum bedeutet für mich, inneren Frieden zu haben und liebe Menschen um mich herum“ oder ganz simpel: „Zufriedenheit“.
Viele in der Vesperkirche sehnen sich trotzdem auch nach ein bisschen mehr „klassischen“ Reichtum. Dass sie selbst entscheiden können, wann und was sie sich zum Essen kaufen. Nicht von anderen abhängig sind. Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass meine Gesprächspartner viel mehr als ich verinnerlicht haben, dass es mit dem materiellen Wohlstand nicht getan ist. Dass wahrer Reichtum erst im Miteinander entsteht.
Darum beschäftigt mich auch immer noch eine Frage, die mir eine Gesprächspartnerin zurückgestellt hat: Warum können reiche Menschen nicht so gut teilen, wie wir Armen? Ich hatte keine Antwort. Hab innerlich natürlich sofort die Aussage angezweifelt, an die vielen Menschen gedacht, die sehr wohl auch etwas abgeben von ihrem Reichtum. Aber die Frage liegt mir trotzdem immer noch im Ohr. Warum können Reiche nicht so gut teilen, wie Arme? Denn wenn sie es könnten, dann gäbe es doch bestimmt nicht so viele Menschen, die wenig oder nichts haben? Mir kommen Worte eines mittellosen Wanderpredigers in den Kopf: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Es ist Jesus von Nazareth, der von diesem Himmel erzählt. Und ich bin mir sicher, dass man dort auch weiß, dass Reichtum das ist, was man von Herzen gibt und nicht von anderen nimmt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41742Vor einer Woche gab es den nächsten Anschlag. Schon wieder ein Auto, das in eine Menschenmenge fährt. Schon wieder unschuldige Menschen, die zu Tode kommen.
Und ich habe gemerkt, dass ich, als ich die Eil-Meldung in Gelb auf der Nachrichtenseite aufblitzen gesehen habe, sofort im Nachrichtentext gesucht habe, ob schon etwas über die Herkunft des Täters geschrieben wird.
Weil ich die Befürchtung hatte, dass Menschen vorschnell Schlüsse aus der Herkunft des Täters ziehen. Denn selbst wenn die Herkunft des Täters bekannt ist: Es gibt so viele Fragezeichen. Vielleicht war es eine islamistische Tat? Vielleicht war der Täter psychisch erkrankt? Vielleicht war es aber auch eine Tat aus Hass gegen den Islam?
Mich hat erschrocken, dass ich gedanklich so schnell vom Mitgefühl und der Sorge um die Opfer weg war und mir Gedanken um die Diskussionen um den Täter gemacht habe. Weil es eben schnell geht, dass verallgemeinert wird. Dass aus dem Einzelnen, der so eine Tat begeht, schnell eine ganze Gruppe abgestempelt wird.
Als im Osten die AFD bei der Bundestagswahl die meisten Stimmenanteile gewonnen hat, hab ich solche Verallgemeinerungen auch schnell gehört. Wenn vom rechten Osten, oder dem Osten als größter Oppositionspartei gesprochen wird.
Die Wahrheit ist komplexer als wir sie gerne hätten. Einer der sich auch nicht gerne mit einfachen Wahrheiten abgefunden hat, war Jesus von Nazareth. Damals waren die Wahrheiten: Die Zöllner sind Volksverräter, Prostituierte haben sich unentschuldbar vor Gott versündigt, die Samariter beten zu fremden Göttern und müssen gemieden werden. Doch Jesus hat sich nicht mit diesen einfachen Wahrheiten zufriedengegeben. Er hat gefragt: Wer bist du wirklich? Was brauchst du? Er hat hingeschaut, wo andere weggesehen haben. Er hat es gewagt, diese einfachen Wahrheiten nicht sein Handeln bestimmen zu lassen. Dieser Blick für den Menschen, der nicht in einer Wahrheit über die ganze Gruppe untergeht, den wünsche ich mir von uns, Christinnen und Christen – und eigentlich allen Menschen.
Nicht Schlagworte nachsprechen, sondern fragen: Was sind die wirklichen Ursachen, dass Menschen rechte Parteien wählen? Was führt Menschen dazu, dass sie einem Auto in eine Menschenmenge rasen? Und vor allem: Was sind wirklich hilfreiche Maßnahmen, die etwas helfen?
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, sagt dieser Jesus, der sich nicht mit einfachen Wahrheiten abgeben wollte.[1] Das heißt nicht, dass wir Unrecht gutheißen oder Verharmlosung betreiben. Aber es bedeutet, dass wir differenziert hinschauen. Das ist oft anstrengender und kostet Kraft. Aber es führt eben auch dazu, dass man merkt: Die Welt ist nicht so einfach, wie manche sie uns verkaufen wollen. Vielleicht ist sie gerade deshalb voller Hoffnung.
[1] (Matthäus 7,1).
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41741Es gibt Sachen, die sind kein Spaß: Auf die eigene Gesundheit achten, das sollte ich schon ernst nehmen. Oder Rücksicht nehmen im Straßenverkehr. Die Sorgen meiner Mitmenschen. Ernst nehmen heißt, sie nicht abzutun, nicht kleinzureden. Wenn ich jemanden ernst nehme, erkenne ich an, dass da etwas dran ist. Dass Sorgen berechtigt sind, dass Probleme existieren. Doch vor Kurzem habe ich eine neue Facette entdeckt: Gott ernst nehmen.
Diese Formulierung ist mir in einer neueren Bibelübersetzung begegnet – und sie hat mich ins Nachdenken gebracht.
Wie nehme ich Gott ernst? Für mich bedeutet das: anzuerkennen, dass Gott so ist, wie er in der Bibel und unserer christlichen Tradition beschrieben wird – voller Liebe, barmherzig, gerecht, größer als alles, was wir uns vorstellen können. Vielleicht noch einfacher: Gott ernst nehmen heißt, anzuerkennen, dass ich nicht Gott bin.
Klingt logisch. Dass ich nicht Gott bin. Aber ist das wirklich so selbstverständlich? Im Alltag vieler Menschen spielt Gott kaum noch „ernsthaft“ eine Rolle. Aber was wird dann aus seinem Platz? Ist es nicht verführerisch, ihn selbst einzunehmen?
Wenn ich nicht Gott bin, dann verstehe ich, dass ich das, was ich bin und habe, nicht nur mir selbst verdanke, sondern empfangen habe. Wenn ich nicht Gott bin, dann weiß ich, dass auch andere recht haben könnten. Dass ich nicht allwissend bin und meine Sichtweise nicht die einzig mögliche ist. Wenn ich nicht Gott bin, dann werde ich vorsichtig, wenn es darum geht, über andere zu urteilen. Gott ernst zu nehmen heißt, mir meiner eigenen Grenzen bewusst zu sein.
Ich meine, das verändert meine Perspektive, gerade, wenn es um ernste Dinge geht wie z. B. meine Gesundheit. Vorsorge muss ich ernst nehmen – kann aber trotzdem nicht gottgleich dafür sorgen, dass ich 100 Jahre alt werde. Wenn es um wichtige Fragen wie den Umweltschutz oder unser Zusammenleben geht, stehe ich zu meiner Meinung. Aber die von anderen muss ich ebenfalls ernst nehmen. Meine Perspektive ist schließlich begrenzt, und ich bin nicht Gott.
Vielleicht bewahrt uns genau das vor Fanatismus und Extremismus. Beides lebt davon, dass Menschen meinen, die eine absolute Wahrheit zu besitzen, die nicht hinterfragt werden darf. Dass sie glauben, genau zu wissen, wie die Welt funktioniert. Gott ernst zu nehmen bedeutet, zu erkennen, dass wir nur einen Bruchteil verstehen. Dass es gut ist, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und nach Weisheit zu streben – aber nicht, ohne andere Stimmen zu hören.
Ein Leben jenseits der Extreme. Indem wir Gott ernst nehmen – und unsere eigenen Grenzen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41740„Mut ist ein Muskel. Den hat man nicht, sondern den trainiert man.“ Dieser Satz stammt von Luisa Neubauer. Sie ist Klimaschutz-Aktivistin und wohl die bekannteste Vertreterin der deutschen Fridays-for-future-Bewegung. Gerade angesichts der Krisen und Probleme, die manchmal unüberwindbar scheinen, spricht sie immer wieder davon, dass Hoffen harte Arbeit ist und Mut ein Muskel, den wir trainieren können.
Luisa Neubauer beeindruckt mich zutiefst. Sie wird im Internet und auch im direkten Umgang beschimpft, bedroht, gehasst. Nichts davon hält sie davon ab, weiter für eine gute Zukunft einzustehen. Mut lässt sich trainieren. Das zeigt Luisa Neubauer täglich.
Und Mut braucht es gerade dann, wenn es ausweglos erscheint und der Gegner übermächtig. Ich denke an die Bischöfin Mariann Budde, die bei der Einsetzungsfeier von Präsident Trump deutliche Worte an ihn gerichtet hat und ihn aufforderte, barmherzig zu sein und Mitgefühl zu haben mit queeren Menschen und Immigranten, die jetzt in Angst leben. Für diese Ansprache hat sie weltweit Anerkennung bekommen, von Trump und seinen Anhängern dagegen wurde sie beleidigt und bedroht.
Für ihren unglaublichen Mut wurde vor einigen Tagen Gisèle Pelicot vom Time Magazin zur „Frau des Jahres 2025“ gekürt. In dem Prozess gegen ihren Ehemann, der sie betäubt und mit anderen Männern vergewaltigt hatte, hat sie Geschichte geschrieben. Mit ihrem Satz „Die Scham muss die Seite wechseln!“ ermutigt sie Frauen auf der ganzen Welt, gegen Unterdrückung und Gewalt aufzustehen.
Für mich sind diese und so viele andere Frauen Vorbilder. Vorbilder dafür, was passieren kann, wenn wir mutig sind. Und es sind nicht nur die großen Geschichten, sondern auch die vielen alltäglichen, in denen Frauen für sich und für andere einstehen, zusammenhalten, widersprechen, wenn etwas ungerecht ist.
Mut ist ein Muskel und wir können ihn trainieren. Und wir werden ihn brauchen, wenn wir in Zukunft für die Rechte von Frauen und Minderheiten einstehen wollen. Die gute Nachricht ist: Mut kann wachsen, wenn wir uns zusammentun und Mut kann verändern, wenn wir handeln.
Setzen wir ihn ein, unseren Mutmuskel - nicht nur heute, am Weltfrauentag, sondern wenn nötig auch an jedem anderen Tag des Jahres.
*Quelle Zitat: Instagram-Account Luisa Neubauer, Ausschnitt aus einer Lesung zu ihrem Buch „Was wäre, wenn wir mutig sind?“ 22.2.25
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41722„Was würdet ihr denn tun, wenn ihr Chefin oder Chef von Deutschland wärt?“ Das frage ich meine Kinder. Wir sitzen auf dem Sofa und die Kinder beschäftigt die Frage, wer denn jetzt Bundeskanzler wird was nach der Wahl passiert. „Was wäre euch denn wichtig? Welche Regeln würdet ihr aufstellen?“
Mein Sohn überlegt keine Sekunde: „Süßigkeiten für alle!“ ruft er „und alle Kinder bekommen Gutscheine, mit denen sie sich was kaufen können!“
Meine Tochter lacht begeistert und überlegt dann: „Und wir brauchen viele Ärztinnen und Ärzte, die nichts kosten - und gute Schulen mit netten Lehrerinnen und Lehrern. Schulen wo man auch mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer kommt!“
„Ja“ sagt mein Sohn „und ich würde bestimmen, dass es keinen Krieg gibt. Und viele Spielplätze! Die Welt müsste viel gerechter sein – zum Beispiel dass Kinder nicht arbeiten müssen. Und alle Armen eine Wohnung bekommen.“
Meine Kinder durften bei der Bundestagswahl nicht wählen, leider. Sie gehören zu den insgesamt 14 Millionen Kindern und Jugendlichen, die keine Stimme hatten.
Damit hängt sicher zusammen, dass ihre Themen im Wahlkampf kaum vorgekommen sind. Über die Ausstattung von Schulen und Kindergärten, gute Freizeitangebote, Klimaschutz und die Frage nach einer lebenswerten Zukunft wurde kaum gesprochen.
Und das ist ein echtes Problem: Wenn junge Menschen sich zu wenig gehört fühlen, wenn sie nicht mitbestimmen können, dann kommt Frust auf. Dann erfahren sie nicht, dass es wichtig ist, sich einzubringen. Und dann haben es extreme Parteien umso leichter. Darauf machen auch die Kinder- und Jugendverbände immer wieder aufmerksam, wenn sie fordern, dass die Themen junger Menschen in den Fokus gerückt werden müssen.
Für Jesus war das schon vor 2000 Jahren klar: Als die Jünger sich darum streiten, wer von ihnen der Ranghöchste ist, holt Jesus ein Kind in die Mitte und sagt ihnen, dass sie umkehren sollen und werden, wie die Kinder. „Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten“, sagt er. (Mt 18,10)
Ich finde, diesen Ansatz können wir uns heute immer wieder zu Herzen nehmen. Kinder und Jugendliche verstehen viel mehr von der Welt, als Erwachsene oft denken. Sie stellen die richtigen Fragen, haben gute Ideen und vor allem Bedürfnisse, die genauso wichtig sind, wie die der Erwachsenen. Sie sollten viel mehr in die Mitte gestellt werden – so wie bei Jesus. Und vielleicht wählen wir ja wirklich mal eine Kinderkanzlerin oder einen Kinderkanzler. Einen Versuch wäre es doch wert!
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