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Dieses Jahr hätten wir Silberhochzeit gefeiert. Mein ehemaliger Mann und ich. Aber wir feiern nicht, weil wir uns schon vor vielen Jahren getrennt haben, unsere Ehe wurde geschieden.
Ich engagiere mich schon mein ganzes Leben lang ehrenamtlich in der katholischen Kirche, und zum Zeitpunkt der Trennung war die Kirche bereits mein Arbeitgeber. Ich hatte wohl deshalb das Gefühl: Von mir wird mehr erwartet; wer mit der Kirche zu tun hat, der ist quasi „verpflichtet“, dass die christliche Ehe gelingt. So habe ich jedenfalls einige Kommentare damals gedeutet: „Das ist doch nicht christlich, dass du dich trennst.“
Klar, wir hatten kirchlich geheiratet und uns gegenseitig das Sakrament der Ehe gespendet. Wir haben Gottes Gegenwart und seine Liebe ganz bewusst mit genommen in unseren Ehebund. Und jetzt einfach mit Gott brechen? So habe ich das nie empfunden.
Denn wie ich mit der Trennung und Scheidung umgehe, auch das hat für mich mit meinem christlichen Glauben zu tun: Mir ist es wichtig, wie ich mit und über meinen ehemaligen Mann spreche; dass wir auf Streit und unschöne Worte verzichten. Dass wir weiter Respekt haben voreinander. Und versuchen, offen und transparent mit Familie und Freunden zu reden. Und das Entscheidende: dass ich die Bedürfnisse unserer Kinder trotz allem in den Mittelpunkt stellen kann.
Ich bin mir sicher: Man kann das alles gut und im besten Sinne christlich „lösen“. Und wir haben das ganz gut hingekriegt. Vielleicht sogar gerade, weil Gottes liebende Gegenwart mit im Spiel war. Denn die bleibt. Gott zieht sich nicht zurück, wenn es schwierig wird. Jesus hat das oft genug gezeigt. Wie er mit Krisen und Problemen umgeht, das bleibt für mich der Maßstab. Daran habe ich jedenfalls versucht, mich zu orientieren; auch wenn mir sicher nicht alles gelungen ist. Aber ich finde, wir haben das mit den Kindern gut gemacht, sie sind groß geworden, es sind freundliche junge Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und anfangen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Es ist gut und richtig, dass die katholische Kirche vor einigen Jahren ihr Arbeitsrecht geändert hat. Wer heute nochmals heiratet, der verliert nicht automatisch seinen Job. Um das Jahr 2000 war das noch so. Denn es geht doch um etwas ganz anderes: Da, wo etwas von Gottes Geist und Liebe spürbar ist, da ist es gut.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42498Brot und Salz. Vor ein paar Monaten sind wir umgezogen. Und das haben Freunde uns zum Einzug mitgebracht. Ein frisch gebackenes Brot und ein Gläschen Salz.
Mit diesem Brauch zum Einzug sind gute Wünsche fürs neue Zuhause verbunden. Unsere Freunde haben sie aufgeschrieben: „Brot bringt Leben, Salz gibt Würze – möge beides Euch nie fehlen!“
Während ich die letzten Kisten auspacke, tut es mir gut, nicht nur über die äußere Gestaltung unseres Hauses nachzudenken, über Lampen, Bilder oder die Pflanzen für den Garten. Brot und Salz erinnern mich daran: Was ist mir wichtig für mein neues Zuhause, für das Zusammenleben hier, für die Nachbarschaft, oder wenn wir Gäste haben? Wenn ich darüber nachdenke, dann bekommt der alte Brauch in diesen Zeiten sogar noch eine ganz besondere Bedeutung:
Brot und Salz sind für mich zwei Friedenszeichen. Brot heißt: Zusammen am Tisch sitzen und essen, das ist der Anfang, das ist die Grundlage, wenn man sich verstehen möchte. Wenn wir zuhause miteinander essen, üben wir im Kleinen ein, zu diskutieren, auch zu streiten. Da haben unterschiedliche Meinungen Platz. Und die haben wir natürlich. Egal ob wir über ein Fußballspiel reden, über Gott oder die Politik. Brot zu teilen – das ist ja ohnehin das Bild, das Jesus uns hinterlassen hat.
Und die Tradition vom Salz berührt auch einen biblischen Gedanken. Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Salz der Erde.“ (Mt 5,13). Es geht ihm darum, dass alle, die zum ihm gehören, anders sind. So wie eben Salz das Essen erst wirklich gut und genießbar macht. Diesen Unterschied zu machen, das fällt mir manchmal gar nicht leicht. Weil ich so erschüttert bin über die Kriege und die Gewalt in der Welt und mich oft ohnmächtig fühle.
Vielleicht ist gerade dann der Anfang im Kleinen wichtig, mit Brot und Salz zuhause am Tisch.
Meine Kinder kannten diesen Brauch nicht. Ich hoffe, dass sie ihn weitertragen, wenn die ersten Freunde in die eigenen vier Wände ziehen. Zusammen mit der Botschaft: Esst und trinkt zusammen, lasst es Euch gut gehen gemeinsam am Tisch. Und: Achtet aufeinander, damit Euer Zuhause ein Ort des Friedens ist. Und den tragt hinaus, zu den Nachbarn und in die ganze Stadt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42497Ich habe einen besonderen Brunnen entdeckt. Er steht in der Nähe von Meran in Südtirol, da war ich vor kurzem im Urlaub. Eigentlich ist der Brunnen ein kleines Waschbecken. Sieben Wasserhähne sind im Kreis angeordnet, jeder Hahn hat ein Schild. Darauf stehen Begriffe, die Untugenden oder schlechte Eigenschaft bezeichnen: Zorn, Neid, Zweifel, Untreue, Eifersucht und Selbstsucht. Das siebte Schild ist leer, da kann jeder in Gedanken sein ganz persönliches Laster eintragen. Dieser besondere Brunnen hat einen Namen: „L’abbandono“ - „Loslassen“. Wer will, kann um das Waschbecken herumlaufen und seine Hände unter die Hähne halten. Dabei kann man sich erinnern, wo man neidisch war oder eifersüchtig, und symbolisch abwaschen, was verkehrt war. Seine Fehler einsehen und eben loslassen.
Die Begriffe auf den Schildern erinnern an die sieben Wurzelsünden. Todsünden hat man früher dazu gesagt. Sie heißen ganz ähnlich: Stolz und Neid, Zorn, Habsucht, Trägheit, Völlerei und Wollust. Wichtig ist dabei: Es geht nicht darum, Menschen zu verurteilen. Sondern es geht darum, sie aufzurütteln. Sie davor zu bewahren, dass es noch schlimmer kommt, wenn sie diesen Weg weiter gehen, wenn sie das Maß verlieren. Also zum Beispiel, wenn sie so neidisch sind, dass sie keinem anderen mehr etwas gönnen.
Ich stehe an diesem Loslass-Waschbecken und überlege: Unter welchen Hahn halt ich meine Hände? Ich mache es mir einfach und drehe eine ganze Runde. Kann ja nicht schaden, denke ich. Und dann bleibe ich doch länger stehen – beim leeren Schild. Ich weiß recht genau, was da bei mir draufsteht. Perfektionismus. Ich meine einfach zu oft, ich weiß und kann es besser und mische mich deshalb ein.
Diese innere Haltung kann ich natürlich nicht einfach so abwaschen. Aber ich kann mich selbst immer wieder an meine Schwäche erinnern. Und dabei hilft das Wasser. Wo Wasser im Christentum vorkommt, geht es um ein Zeichen. Wie bei der Taufe. Das Gute steckt schon in mir. Und: Ich kann es noch besser machen.
Jetzt halte ich meine Hände doch noch eine Weile unter den Hahn mit dem leeren Schild und lasse Wasser darüber laufen. Gleichzeitig hebe ich den Kopf und schaue um mich herum und nach oben: Ich nehme erst jetzt richtig wahr, dass da überall große gelbe Scheiben sind. Dieser Brunnen ist ein Kunstobjekt und die gelben Scheiben stehen für einen ganzen Strauß Sonnenblumen. Und damit für das Licht und die Lebensfreude. Inmitten aller Laster.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42496Vor ein paar Wochen habe ich angefangen, zu laufen. Zwei unserer Kinder machen Leichtathletik im Sportverein. Ich erlebe sie regelmäßig im Training und immer wieder auch bei Wettkämpfen. Beide mögen vor allem längere Laufstrecken. Und mit der Zeit hat es mich da irgendwie auch gepackt. Für dieses Jahr habe ich mich selbst zu drei Laufveranstaltungen angemeldet. Bei einer macht auch meine Tochter mit – nebenbei ist es also auch ein schönes gemeinsames Familienprojekt.
Einen Unterschied gab es allerdings: Meine Tochter war schon im Training – ich nicht. Also musste ich ran. Alle zwei Tage bin ich losgejoggt und habe Zeit und Strecke nach und nach gesteigert.
Eine gewisse Grundfitness habe ich – ich spiele Badminton, zur Arbeit nehme ich meistens das Fahrrad, und immer wieder mal ist auch ein Sprint zur S-Bahn nötig. Aber diese ersten abendlichen Läufe waren nochmal was ganz anderes. Ich habe völlig neue Muskeln gespürt. Und wenn ich an der Belastungsgrenze war, habe ich eindrücklich gemerkt: Ich habe nicht nur einen Körper. Ich bin dieser Körper. Leib und Seele gehören untrennbar zusammen. In diesen Momenten gab es daran gar keinen Zweifel.
Und deshalb gilt auch: So sehr ich mich mit meinen ebenfalls laufenden Kindern verbunden fühle: Durch so eine Anstrengung muss ich ganz alleine durch. Im Training – und demnächst auch im Wettkampf. Andere können mich ermutigen, begleiten, anfeuern – aber ich kann mich nicht vertreten lassen. Ich selbst bin gefragt, mit Haut und Haaren.
Das ist im Leben mit manchen anderen Dingen auch so. Auch da gerate ich manchmal an Grenzen, und ich muss einen Weg komplett alleine gehen. Wenn ein Konflikt zu klären ist etwa. Wenn eine Lebensentscheidung zu treffen ist. Oder wenn es ans Abschiednehmen geht. Dann ist es meine Aufgabe und auch meine Würde als Mensch, das selbst zu tun. Als Christ glaube ich: Gott hat mir das Leben geschenkt – und traut mir dieses eine persönliche Leben auch zu. Ich bin ganz und gar gefragt und habe Bedeutung.
Demnächst spüre ich das wieder leibhaftig beim Trainieren. Und nächsten Freitag dann beim Laufwettbewerb.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42441Welche Rolle nimmt man im Leben ein – hilft man ständig? Oder wird einem geholfen? Ich habe das vor kurzem mit Mitarbeitenden eines diakonischen Unternehmens versucht zu erkunden. Anhand einer kleinen Geschichte aus der Bibel:
Ein Mensch ist zu Fuß unterwegs von Jerusalem nach Jericho – eine Strecke bergab, knapp 30 Kilometer lang. Auf dem Weg wird er von Räubern überfallen. Sie plündern ihn aus, schlagen ihn zusammen, lassen ihn halbtot in der Hitze liegen. Ein Mann kommt vorbei – und geht weiter. Ein zweiter Mann kommt vorbei – und geht weiter. Erst ein Dritter hält an und hilft dem Verletzten. Er bringt ihn in ein Gasthaus, wo der Wirt sich weiter um ihn kümmert.
So weit die Geschichte, die Jesus mal erzählt hat [vgl. Lukas 10,29-37]. Wir haben dann überlegt: Was kann uns diese Geschichte zeigen? Und wo tauchen wir darin auf?
Eine Antwort kam ganz rasch: Wir sollen so handeln wie der dritte Mann, der angehalten und dem Verletzten geholfen hat. Auch Jesus hat das so gesehen und seinen Zuhörern anschließend gesagt: „Geh[t] und mach[t] es ebenso.“ [Lukas 10,37b; BasisBibel]. Unsere Welt braucht solche Menschen, die andere sehen und ihnen zur Seite stehen.
Aber der Mensch, der erste Hilfe leistet, ist ja nicht der Einzige. Am Ende der Geschichte gibt es noch den Wirt. Der hat ein Gasthaus und kann dort Leute aufnehmen. Auch das ist wichtig – dass Menschen soziale Unterstützung zu ihrer beruflichen Aufgabe machen, zum Beispiel in Caritas und Diakonie. Es ist nicht verwerflich, wenn man fürs Hilfe-Leisten bezahlt wird.
Die Geschichte kennt noch eine weitere Möglichkeit: Manchmal geht es uns so wie dem überfallenen Wanderer am Boden – und wir sind selbst auf Unterstützung angewiesen.
Mit diesen drei Rollen aus der Geschichte sind wir fertig, dachte ich damals beim gemeinsamen Austausch. Aber dann hatte eine Mitarbeiterin noch eine Idee: Manchmal im Leben sind wir auch diejenigen, die vorübergehen – weil wir zu beschäftigt sind, keine Zeit übrig haben. Und vielleicht sind wir manchmal sogar wie die Räuber – wir machen andere Menschen klein und fertig. Ja, habe ich gedacht, – so habe ich tatsächlich auch schon gehandelt. Hoffentlich nicht für immer. Denn natürlich wäre ich lieber derjenige, der hilft und für andere da ist. Geht aber nicht immer. Gut, wenn es dann andere gibt, die helfen. Dann hält unser Miteinander alle Rollen aus. Es ist eben eine echte ehrliche Lebens-Geschichte, die Jesus da erzählt hat.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42440Noch vier Wochen, dann sind in Baden-Württemberg Sommerferien. In den Schulen hier ist deshalb Endspurt angesagt. Unsere Kinder schreiben jetzt nochmal jede Menge Klassenarbeiten, auch Referate werden ausgearbeitet, mündliche Noten gemacht … Und bald stehen die Gesamtergebnisse dann schwarz auf weiß in den Jahreszeugnissen.
Wie stressig und anstrengend das für die Kinder und Jugendlichen ist, bekomme ich ja ein bisschen mit. Ich weiß auch noch gut, welchen großen Stellenwert Noten für mich als Schüler früher hatten. Heute schreibe ich selbst keine Klassenarbeiten mehr. Aber ich finde die Frage herausfordernd: Wie gehen wir als Eltern gut um mit den schulischen Leistungen unserer Kinder? Wie reagiere ich als Vater auf die 1- in Musik oder die 4-5 in Mathe?
Ein Hinweis hat mir dabei geholfen: Wenn ich unsere Kinder für gute Noten lobe und bei schlechten Leistungen zur Rede stelle, dann bewerte ich sie damit. Auf diese Weise mache ich sie klein oder groß – aber auf jeden Fall abhängig von meiner Meinung. Und – diese Bewertungen brauchen unsere Kinder auch gar nicht. Über eine 1- freuen sie sich nämlich auch selbst schon. Und über eine 4-5 ärgern sie sich auch ohne mich, und in aller Regel wollen sie auch selbst was daran ändern.
Stattdessen will ich versuchen, die Emotionen und Gefühle meiner Kinder mit ihnen auszuhalten und mitzufühlen. Ich freue mich mit ihnen, wenn eine Klassenarbeit gelungen ist. Also statt: „Das hast du gut gemacht!“ sage ich: „Ich freu‘ mich mit dir!“ und strahle mit. Und wenn es nicht so gut läuft, bin ich gemeinsam mit ihnen sauer und grummle mit über die doofen Aufgaben. Ich glaube, dann merken meine Kinder: Da sieht mich jemand. Und ich bin ernst genommen mit dem, was einen großen Teil meines Alltags ausmacht.
Gleichzeitig finde ich es auch wichtig, ernst zu nehmen, dass meine Gefühle nochmal anders sind als die meiner Kinder. Ich habe mehr Abstand, weil es ja nicht meine Noten sind. Auch mehr Lebenserfahrung, was den Umgang mit Emotionen angeht. Und als Elternteil ist es natürlich auch meine Aufgabe, mit zu überlegen, was sich vielleicht wie verändern lässt. Also auch mal den Finger in die Wunde zu legen und einzufordern, dass die Vokabeln vernünftig gelernt werden. Aber auch das geht ja leichter, wenn ich die Gefühlslagen meiner Kinder an mich herangelassen habe.
Und genauso will ich meinen Kindern mitgeben, dass Noten und Leistungen längst nicht alles sind. Das Leben ist noch so viel mehr Gott sei Dank. Auch jetzt im Zeugnis-Endspurt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42439„Ah, Sie sind der Klinikseelsorger. Was genau machen Sie da eigentlich, was ist Ihre Aufgabe?“
Im Krankenhaus, wo ich arbeite, fragen mich das immer wieder Leute – Patienten, Angehörige oder auch mal Mitarbeitende. Von außen ist es gar nicht so einfach einzuordnen, was ich tue. Und tatsächlich bin ich auch ein Spezialfall im Krankenhaussystem. Ich bin auf den Stationen unterwegs und in den Krankenzimmern, so wie viele andere auch. Ich bringe mich in die Behandlungs- und Heilungsprozesse mit ein. Aber ich gehöre nicht zum medizinischen Team der Ärztinnen oder Pfleger oder Physiotherapeutinnen. Klinikseelsorge, das ist nochmal etwas anderes.
Beim Versuch, das noch genauer zu beschreiben, bin ich auf Momo gestoßen. Momo ist das Mädchen aus Michael Endes gleichnamigem Roman. Sie hat einen dunklen Lockenkopf, pechschwarze Augen, läuft meistens barfuß und trägt alte Kleidung. Vor allem aber heißt es von ihr: „Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. […] [S]ie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. […] Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wußten, was sie wollten. Oder daß Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder daß Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.“ [Ende, Michael, Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, Stuttgart 1973, 15f.]
Weil Momo Zeit hat und zuhört, finden Menschen einen neuen persönlichen Weg. Für mich ist das ein gutes Bild, wie ich versuche, meine Arbeit als Klinikseelsorger zu machen. Ich bin sicher, dass Menschen dort, wo ihnen jemand wirklich zuhört und sie zu verstehen versucht, weiterkommen. Menschen spüren ganz gut, was sie gerade brauchen und wie sie den nächsten Schritt gehen können – wenn jemand anderes sich für sie Zeit nimmt, ganz da ist und zuhört. Und da ist die kleine Momo aus dem Buch ein eindrückliches Vorbild für mich.
„Was genau machen Sie als Klinikseelsorger?“ Wenn Leute mich das fragen, antworte ich jetzt manchmal: „Ich habe Zeit – und bin ganz Ohr.“ Und hoffentlich gelingt mir das auch immer wieder. Damit Menschen weiterkommen und ihren persönlichen Weg finden. Im Krankenhaus – und überhaupt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42438Willkommen in der zweiten Halbzeit! Heute, am 1. Juli, geht das Kalenderjahr in seine zweite Hälfte. Sicher, erst mal ist das nur ein äußerlicher Übergang, der an sich nicht viel verändert. Aber innerlich ist es für mich die Möglichkeit, kurz innezuhalten und über meinen Weg nachzudenken.
Ein bisschen ist das wie zum Jahresbeginn. Aber nur ein bisschen. Zum Jahresbeginn schaue ich meistens nur nach vorne. Und wenn ich mir dann Dinge vornehme, sind die oft arg hochgegriffen und unrealistisch. Entsprechend lang oder kurz halten diese Vorsätze dann auch nur.
In der Jahresmitte ist es anders. Da kann ich gut auch zurückschauen, überlegen, wie die erste Hälfte so lief. Und davon ausgehend kann ich dann realistisch die zweite Hälfte in den Blick nehmen. So wie ein Fußballteam in der Halbzeitpause vielleicht. Da wird ja meistens auch nicht das gesamte Konzept über den Haufen geworfen, eine völlig neue Taktik abgesprochen, sondern eben gezielt nachjustiert.
Was genau ist überhaupt nochmal passiert im letzten halben Jahr? So präsent habe ich das gar nicht mehr, merke ich. Da hilft es mir, schlicht in den Kalender zu schauen. Schnell ist dann einiges wieder da. Der chaotische Januar, die kaputte Waschmaschine das gesamte Frühjahr über, unsere erste kleine Städtetour mit den Kindern nach Ostern. Manches davon habe ich auch in einem Tagebuch aufgeschrieben, zusammen mit meinen Gedanken und Gefühlen dazu. Auch da gucke ich nochmal rein. Mit was ging es mir gut? Was soll gerne so weitergehen? Und wo sind Dinge an die Wand gefahren? Was hat mir gefehlt? Was möchte ich ändern? Diese Fragen helfen mir bei meinen Zielen für die zweite Jahreshälfte. Und ich versuche, mir möglichst konkret etwas vorzunehmen. Zum Beispiel bin ich beim Rückblick auf alte Freundinnen und Freunde gestoßen, mit denen ich gerne und lange telefoniere alle paar Monate. Diese Gespräche tun mir gut, und trotz der großen Entfernungen spüre ich dann viel Verbundenheit. Es gibt Menschen, mit denen ich das schon länger nicht mehr gemacht habe. Die habe ich mir jetzt aufgeschrieben – und ich verabrede mich mit ihnen.
Das war’s auch schon mit der Kabinenpredigt in der Halbzeitpause. Raus geht’s in den Juli, die zweite Halbzeit steht an. Viel Erfolg Ihnen dafür – und Gottes Segen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42437Work-Life-Balance – ich halte das für Unsinn. Nicht, weil ich wie mancher Politiker derzeit der Meinung bin, wir arbeiten zu wenig. Oder gar, dass die jungen Leute völlig verweichlicht sind und nicht mehr wissen, was Arbeit heißt. Im Gegenteil. Ich habe selbst eine Zeit erlebt, wo mein Leben und Arbeiten nicht im Gleichgewicht waren. Da hat die Arbeit fast alles umfasst, es gab kaum noch einen Bereich ohne sie. Und damit ging es mir schlecht. Ich bin froh, dass es sich heute wieder anders anfühlt.
Und trotzdem: „Work-Life-Balance” – an diesem Wort stört mich etwas. Ich glaube, die Vorstellung, dass das Verhältnis von Leben und Arbeit ausgewogen sein muss, ist nicht die Lösung. Diese Vorstellung ist ein Teil des Problems. Denn – da werden ja Arbeit und Leben als Gegensätze verstanden. Also: Die Arbeit ist stressig, anstrengend, Pflicht. Und das Leben bedeutet demgegenüber: Entspannen, frei sein, Seele baumeln lassen.
Das ist eine sehr negative Sicht auf die Arbeit, finde ich. Natürlich erfordert Arbeit meinen Einsatz. Aber das ist doch auch sonst im Leben so. Und – zum Leben gehört ja auch ganz viel nicht bezahlte Arbeit. Menschen, die Kinder großziehen, Geschwister unterstützen oder Eltern pflegen, arbeiten ganz genauso. Und an den Stellen ist die Arbeit ganz eng und selbstverständlich verbunden mit dem Leben.
Ganz vorne in der Bibel wird erzählt, wie Gott die Welt erschafft und dem Menschen das Leben schenkt. Und interessanterweise bekommt der Mensch dann gleich … Arbeit. Er hat die Aufgabe, Gottes Garten zu bearbeiten [vgl. 1. Mose 2,15]. Die Arbeit gehört hier also ganz selbstverständlich zum Leben mit dazu, ohne jede Trennung. Sie macht den Menschen mit aus und hat Bedeutung für das Leben.
Vielleicht liegt darin ja auch ein Schlüssel für meinen Umgang mit meiner Arbeit heute: Entscheidend ist, dass ich Sinn sehe in dem, was ich tue, – ob für Geld oder unbezahlt. Dass meine Arbeit mir einen guten Platz gibt im Leben, meine Interessen und Fähigkeiten zur Geltung kommen lässt. Dann darf die Arbeit auch mal anstrengend sein, ohne dass sie mich damit vom Leben trennt. Weil sie Teil vom Leben ist. Und umgekehrt geht das Leben auch dann weiter, wenn die Arbeit mal ein Ende hat.
Arbeit und Leben gehören zusammen. Vielleicht ist das ja echte Work-Life-Balance.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42436„Ich liebe Bars, weil man dort im Stehen einen sitzen haben kann …" Ein cooler Spruch! Zugegeben: Ja, ich liebe Bars, verfüge allerdings nur über einen sehr begrenzten Erfahrungsschatz. Was mir da am besten gefällt, sind nicht die vielen Flaschen, die da herumstehen, sondern die Menschen, die dort arbeiten. Sie sind, das behaupte ich jetzt einfach mal, meistens Seelsorger und Experten des Zuhörens.
Vom Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen stammt der Satz: „Das Gehörtwerden ist eine der beglückendsten Erfahrungen des Menschen überhaupt. Darin erfährt er eine tiefe Würdigung der eigenen Geschichte und der eigenen Person." 1)
Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen in der Seelsorge: Hört man jemanden aufmerksam zu, kann sich innerhalb weniger Minuten Nähe und Tiefe einstellen. Da entwickelt sich eine freundliche Verbundenheit, die die Zunge sicher besser löst als die Wirkungen, die man dem hochprozentigen Inhalt eines Glases zuschreiben mag.
Ich würde mir wünschen, dass auch in anderen Räumen so miteinander gesprochen werden kann, dass sich die Zunge löst und Steine vom Herzen fallen. Dass man dort auf Menschen trifft, die – wie Barkeeper durch ihre Erfahrung geschult – vorurteilsfrei zuhören. Dann suchen und finden Verwundungen plötzlich Worte, die sonst nur schwer über die Lippen kommen.
Wo die Zeit nicht drängt, bekommt auch das Miteinander-Schweigen seinen Raum. In einer Bar darf man verweilen, wird ein wenig umsorgt, ja fast verwöhnt. – Der junge Mann, der uns beim letzten Mal bediente und uns sein Lieblingsrezept verraten hat, den wünschte ich mir als Lehrer in der Ausbildung all jener Berufe, die mit Menschen zu tun haben.
Sollten auch Sie mal in einer Bar landen, schauen Sie nicht nur nach der Getränkekarte. Beobachten Sie die Person hinter dem Tresen. Nicht nur beim Schwenken des Cocktail-Shakers, sondern beim einfühlsamem Schweigen, beim sparsamen Kommentieren, beim behutsamen Nachfragen.
Wohl bekomms!
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1) Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (55, Uni Tübingen) in der ZEIT (Wissen) Nr. 04 - 2025
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