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Was wäre, wenn wir uns für das Ende des Lebens genauso interessieren würden wie für den Anfang? Diese Frage hat mich neugierig gemacht. Der Palliativmediziner Steffen Eychmüller hat sie gestellt. Der Beginn eines Lebens hat unsere volle Aufmerksamkeit. Das habe ich bei der Geburt meines Enkels noch intensiver erlebt als damals bei der Geburt meines Kindes. Mein Sohn und seine Frau haben sich umfassend informiert. Was man während einer Schwangerschaft essen darf. Welcher Kinderwagen am besten ist, welcher Kindersitz fürs Auto. Die Hebamme haben sie sorgfältig gewählt. Und sie haben viel darüber gesprochen, was ihnen bei der Erziehung ihres Sohnes wichtig ist. Auch, wie sich ihre Beziehung als Paar verändern wird. Das ist so geblieben, seitdem der Junge auf der Welt ist. Was braucht er, dass er gut aufwachsen kann? Dass er lernt, was für das Leben wirklich wichtig ist? Ich finde richtig, wenn Kinder heute mit so viel Aufmerksamkeit ins Leben begleitet werden. Denn jedes Leben ist kostbar.
Umso mehr hat mich die Frage aufgerüttelt, was wäre, wenn wir uns für das Ende eines Lebens ebenso interessieren würden. Wenn wir selbstverständlich damit umgingen, dass unser Leben endlich ist. Dass wir uns von unseren Kräften und Fähigkeiten verabschieden müssen. Dass wir öfter krank werden können. Mein Vater ist 90 und mit ihm erlebe ich nach dem Tod meiner Mutter zum zweiten Mal, dass es mehrere Jahre dauert, um sich vom Leben wieder zu verabschieden. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die zeigen, wie ignorant unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die ihre letzten Jahre erleben. Zum Beispiel, wenn plötzlich nur noch per E-Mail kommuniziert werden kann obwohl alte Leute nicht selbstverständlich über digitale Medien verfügen. Oder wenn die Frau im Finanzamt nicht bereit ist, einem alten Mann die Vordrucke für die Steuererklärung zuzuschicken, sondern von ihm verlangt, sie selbst abzuholen. Mich überzeugt, was Steffen Eychmüller sagt: Es ist wichtig den Wert des Lebensendes neu zu definieren. Dass wir alte Menschen nicht als Last sehen. Sie haben ein Recht darauf, dass wir würdevoll mit ihnen umgehen in den letzten Jahren ihres Lebens. Lernen können wir dabei von den Kindern. Mich fasziniert jedes Mal, wenn mein Enkelsohn auf seinen Uropa trifft. Er begegnet ihm automatisch so andächtig und respektvoll, dass jeder sehen kann, wie wertvoll der alte Mann ist. Mit allem, was er in 90 Jahren erlebt hat.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41005„Und ich bin gut so.“ Das steht auf einer Tasse in meinem Geschirrschrank. Sie ist eine meiner Lieblingstassen und sie erinnert mich daran, dass Gott mich so liebt und annimmt wie ich bin. Das klingt vielleicht kitschig und flach. So wie der Satz: „Jesus liebt dich“, der manchmal in Bahnhöfen auf riesigen Plakaten steht. Sozusagen als Werbung für den christlichen Glauben. Ich mag diese Plakate nicht. Aber der Gedanke, dass es eine Instanz gibt, die mich gut so findet, wie ich bin, lässt mich jedes Mal tief durchatmen. Ich muss nichts tun, ich muss mich nicht anstrengen, ich muss mich nicht verhalten, wie andere das gerne hätten – da ist einer, der mich lieb hat ohne Wenn und Aber. Ich nenne diese Instanz Gott. Und ich bin dankbar, dass ich Ihm glauben kann. Denn es gibt genügend Menschen, mich selbst eingeschlossen, die gar nicht finden, dass ich uneingeschränkt gut so bin. Den einen lache ich zu laut. Andere finden, ich bin zu emotional. Ich selbst ärgere mich, wenn ich im Klassenzimmer mit einem Kind zu schnell die Geduld verliere. Oder wenn ich was esse, das mir nicht gut tut.
Die Sehnsucht, dass mich jemand liebt, genauso wie ich bin, teile ich mit vielen Menschen. Wer Glück hat, erlebt dieses bedingungslose Angenommensein in einer Liebesbeziehung. Zumindest am Anfang, wenn beide verliebt sind. Manchmal haben auch Kinder das Glück, dass sie sich von ihren Eltern grenzenlos geliebt fühlen. Und jeder Mensch kann selbst daran arbeiten sich zu mögen, einverstanden zu sein mit sich und sich anzunehmen trotz aller Unvollkommenheit. Realistisch betrachtet ist das natürlich kein Dauerzustand. Als Mensch in dieser Welt bin ich unvollkommen, mache Fehler und ich verändere mich. Manchmal kann ich mich so mögen wie ich bin. Manchmal auch nicht. An manchen Tagen fühle ich mich von den Menschen um mich herum geliebt, so wie ich bin. An anderen Tagen merke ich, was sie an mir nervt. Dann spüre ich die Sehnsucht danach, dass ich für immer und ewig uneingeschränkt geliebt bin. Diese Sehnsucht erinnert mich an das Paradies. Ich glaube, dass ich dort ankomme nach meinem Tod. Dass meine Sehnsucht ein Hinweis ist auf die Wirklichkeit, die auf mich wartet. Diese Wirklichkeit, die ich Gott nenne. Bis dahin reicht es mir, von Zeit zu Zeit tief durchzuatmen, wenn ich daran denke, dass es eine Instanz gibt, die mich gut findet, genauso wie ich bin.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41004Überraschend. Erstaunlich. Unfassbar. So kann das Leben manchmal sein. Wie das Leben von Johanna. Sie ist eine Kollegin. Mit 40, unverheiratet und kinderlos, hatte sie mit dem Thema Familie abgeschlossen. Und dann ist sie umgezogen in ein anderes Dorf, hat sich verliebt und wurde unerwartet schwanger. Ich weiß noch, wie sehr ich mich mit ihr gefreut habe. Johanna ist Grundschullehrerin und geht mit Kindern großartig um. Sie würde eine tolle Mutter sein. Und dann der Schock. Das Baby von Johanna und ihrem Mann ist kurz nach der Geburt gestorben. Das war nur schrecklich. Es war ein Moment, in dem ich mich wieder einmal gefragt habe, warum solche Schicksalsschläge sein müssen. Darauf gibt es keine Antwort. Ich weiß. Aber wenn es so hart kommt, stellt sich die Frage einfach. Die Beerdigung war trotz allem tröstlich. Getragen hat die Vorstellung, dass das kleine Mädchen als Sternenkind im Himmel einen Platz gefunden hat. Glauben zu können, dass sie bei Gott aufgehoben ist. Getragen hat auch die Gemeinschaft. Viele Menschen sind auf den Friedhof gekommen. Die Eltern waren nicht allein mit ihrem Kummer.
Wenige Monate später wurde Johanna wieder schwanger. Ich habe ihren Mut bewundert. Wieder ist ein kleines Mädchen auf die Welt gekommen. Sie ist inzwischen zwei Jahre alt, quicklebendig und große Schwester von Brüdern, die als Zwillinge geboren sind. Für Johanna und ihren Mann gehört selbstverständlich auch ihr verstorbenes Kind zur Familie. Ihr Geburtstag wird gefeiert, ihr Todestag bedacht und ihr Grab sorgfältig gepflegt.
Wenn ich an Johanna denke, fällt mir immer die Liedzeile ein: „Wunder gibt es immer wieder…“. Unglaublich, wie sich ihr Leben gewendet hat. Was mich beeindruckt: Johanna hat das Leben immer genommen, wie es sich ihr gezeigt hat. Schmerzhaft, niederschmetternd, beglückend und wundervoll. Sie ist nicht stecken geblieben im Schmerz. Hat auch nicht damit gehadert, warum gerade ihr das passieren muss. Und sie hat mit zwei anderen Müttern einen Stammtisch gegründet, um ihre Erfahrungen mit Eltern teilen zu können, die auch ein Kind verloren haben. Nicht jeder Mensch ist so gesegnet. Und ich verstehe sehr gut, wenn Schicksalsschläge einen auch für lange Zeit aus der Bahn werfen. Aber ich wünsche jedem Menschen, möglichst nicht müde zu werden und daran zu glauben, dass Wunder immer wieder geschehen.
Stammtisch für verwaiste Eltern und Angehörige jeden ersten Dienstag im Monat um 20 Uhr im LTT-LOKAL Eberhardstr. 6 72072 Tübingen
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41003Ich habe gelernt, um Hilfe zu bitten. Das ist mir schwer gefallen. Wenn ich für etwas Hilfe gebraucht habe, war mir das immer unangenehm. Zum Beispiel als Schülerin in Mathe. Da habe ich Nachhilfe gebraucht, weil ich Mathe nicht kapiert habe. Auch als ich anfing, ein Smartphone zu nutzen, hab ich das nicht alleine hingekriegt.
„Ich brauche Hilfe.“ Es hat gedauert, um diesen kleinen Satz offen aussprechen zu können. Unterstützt hat mich dabei eine Predigt, die ich vor vielen Jahren gehört habe. Das war während eines Gottesdienstes am 11. November zu St. Martin. Die Geschichte vom Heiligen Martin erzählen wir uns ja bis heute, weil er gerne geteilt hat und hilfsbereit war. Der Prediger damals hat sich interessanterweise mehr mit dem Bettler beschäftigt als mit dem Heiligen Martin. Und wortwörtlich gesagt: „Martin konnte nur helfen und etwas Gutes tun, weil da jemand war, der seine Hilfe gebraucht hat.“ Ich war baff. Das war ein außergewöhnlicher Perspektivwechsel. Der Gedanke war völlig neu für mich. Der arme Mann am Straßenrand, der Hilfe gebraucht hat, war wichtig und wertvoll. Weil Martin ohne ihn gar nicht hätte zeigen können, dass er hilfsbereit ist und gerne teilt.
Damals ist mir noch tiefer bewusst geworden, wie wir Menschen aufeinander angewiesen sind. Manchmal bin ich diejenige, die hilft und teilt. Manchmal brauche ich jemanden, der für mich da ist. Ich mag es noch immer nicht, wenn ich auf Hilfe angewiesen bin. Und ich schaffe es auch nicht immer, darum zu bitten. Wie vor Jahren als ich mit einem gebrochenen Zeh zu einer Untersuchung in die Klinik musste. Mit der Plastikschiene konnte ich zwar laufen, aber halt mehr schlecht als recht. Trotzdem habe ich mich entschieden lieber den Bus zu nehmen als jemanden zu fragen, der mich mit dem Auto fährt. Dann hat mich meine Nachbarin gefragt, wie ich in die Klinik komme. Auf meine Antwort hat sie liebevoll gesagt: „Nein, nein ich fahre dich. Ich steh um viertel vor 9 vor deiner Tür.“ Ich hab mich so gefreut und das Angebot gerne angenommen. Es ist wundervoll, wenn Menschen wie der Heilige Martin oder meine Nachbarin merken, dass jemand Hilfe braucht. Trotzdem übe ich weiter auch um Hilfe zu bitten, weil es menschlich ist, nicht alles alleine zu schaffen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41002Stellen Sie sich mal folgende Schlagzeile in unseren Tagen vor.
Straffälliger mit Migrationshintergrund wird in hohes Ministeramt berufen –
Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Hasskommentare auf Social-Media sie nach sich ziehen würde. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde die Frage gestellt, ob solche Posten nicht mehr mit unbescholtenen Fachleuten deutscher Herkunft besetzt werden können.
In einer Geschichte aus der Bibel, die vor ungefähr 3000 Jahren spielt, war das wahrscheinlich auch so. Sie handelt von einem jungen Mann namens Josef. Josef ist von seinen Brüdern aus Rache als Sklave nach Ägypten verkauft worden. Er ist jetzt ein Ausländer ohne Rechte und landet dann auch noch wegen eines ihm angedichteten Sexualdelikts im Gefängnis. Dort bleibt er aber nicht lange, denn er tut sich nicht nur durch gute Führung, sondern auch durch offenkundige Weisheit hervor. Der Pharao, der König von Ägypten, wird auf ihn aufmerksam, und nachdem Josef dem Regierungschef auch desen dunklen Träume erklären kann – in ihnen hatte sich eine Hungernot angedeutet - , legt er ihm ein äußerst schlüssiges Haushaltskonzept vor. Daraufhin wird Josef kurzerhand zum Superminister ernannt. Mit seinen Vorschlägen geht Ägypten gut aufgestellt in bevorstehende Krisenzeiten. Josef setzt durch, was ganz sicher auch damals nicht besonders populär war: In wirtschaftlichen Blütezeiten wird ein Teil des Bruttoinlandsprodukts für Phasen der Rezession zurückgelegt. In der Bibel hört sich das so an: „Sorge in den 7 guten Jahren dafür, dass für Nahrung gesorgt sei in den 7 Jahren des Hungers…
Der Pharao hat die Freiheit und die Weisheit, seine Personalentscheidungen nicht nach Herkunft oder Lebenslauf, sondern nach Kompetenz und Persönlichkeit zu treffen.
Respekt! Solche Entscheidungen wünsche ich mir auch heute. Es braucht Verantwortungsträger, die Menschen aufgrund ihrer Kompetenz eine Chance geben, auch wenn sie, wie Josef, einen scheinbaren Makel in ihrem Lebenslauf haben.
Dass es das gibt und immer wieder gab, ist unbestritten. Aber es gibt eben auch das Andere. Ja, ich kenne Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder Ihrer Vorgeschichte gar keine Chance bekommen haben.
Und noch schlimmer: dass Menschen aufgrund ihrer Religion und Herkunft 86 Jahre nach der Reichspogromnacht wieder vermehrt Angst um ihr Leben haben müssen, ist schlicht beschämend.
Die Volkswirtschaft in Ägypten hat aufgrund von Josefs Weisheit überlebt. Weil er eine Chance bekam. Ich glaube, nur als Chancengeberland haben wir auf Dauer eine Zukunft. Die sollten wir nicht leichtfertig verspielen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40917Frisch zurück aus dem Urlaub wartet eine Flut von E-Mails in meinem Postfach Eine Nachricht sticht mir beim Überfliegen sofort ins Auge: Harmonium. Anders als die anderen öffne ich diese sofort.
Ein Verwandter schreibt mir, dass er wegen eines bevorstehenden Umzugs keinen Platz mehr für das bei ihm stehende altehrwürdige Instrument aus dem Familienbesitz hat und fragt, ob ich oder meine Geschwister vielleicht Interesse hätten. .
Harmonium.
Sofort treten Bilder vor mein inneres Auge. Das Wohnzimmer meiner Großmutter. In einer Nische das Harmonium, ein inzwischen mindestens 150 Jahre altes Instrument. Eine Art Heimorgel mit einem kunstvoll gestalteten Gehäuse aus Eichenholz. Darüber eine Holztafel. Dort steht in großen, geschwungenen Buchstaben: „Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“
Und auf einmal höre ich die altgewordene, zarte Stimme der Urgroßmutter, die zum etwas müden Klang des Harmoniums singt: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude.“ Oder auch: „Wenn dein Aug’ ob meinem wacht, wenn dein Trost mir frommt, weiß ich, dass auf gute Nacht guter Morgen folgt.“
Für sie war das Harmonium viel mehr als ein Instrument. Das Harmonium und die davor stehende Bank, das war ein Zufluchtsort. Dann, wenn das Leben schwer wurde, manchmal zu schwer in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, weil sieben hungrige Mäuler zu stopfen waren und kein Vater mehr da , der Geld nach Hause brachte.
Dann, wenn das Herz voller Trauer war, weil das Leben zweier Söhne viel zu früh zu Ende ging und die Hoffnung immer kleiner wurde, dass der geliebte Ehemann und Schwiegersohn doch noch aus dem Krieg zurückkehrt.
Dann, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen und kaum mehr etwas zu hoffen gab, dann war da das Harmonium und die Melodien, die ihren Weg aus ihm heraus fanden. Dann war da der Blick auf diese Tafel:
„Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“
Auch wegen all dem muss das Harmonium jetzt einen neuen Platz finden. Weil es noch heute davon erzählt, dass es Hoffnung gibt, wenn alles verloren scheint, und Melodien, die tragen, wo alle Worte versagen.
Weil wir Hoffnungsinstrumente brauchen, auf denen Lieder vom Leben gespielt und gesungen werden angesichts von Verzweiflung und dem Gefühl nicht mehr weiter zu wissen.
„Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“
Als ich nach einem langen Tag hungrig nach Hause komme und die Tür öffne, steigt mir ein wunderbarer Duft in die Nase: Gefüllte Paprika! Herrlich!
Seit Kindertagen liebe ich diesen Geruch und dieses Gericht. Und als ich am Herd in den Bräter schaue, da strahlen sie mich an, die bunten Schoten. Tiefrot, gelb, orange und grün.
Und die Füllung aus Reis, Hackfleisch, Zwiebeln, Knoblauch und Petersilie… Das Ganze scharf angebraten. Wunderbar. Ich könnte mich reinlegen.
Wenn jetzt als Beilage noch der schwäbische Kartoffelsalat serviert wird …
Schwäbischer Kartoffelsalat?
Ja, Sie haben richtig gehört. Schwäbischer Kartoffelsalat zu gefüllter Paprika. Was sich zumindest mal verwegen anhört, ist in unserer Familie ganz normal. Und dazu gibt es eine Geschichte:
Als bei meinen Großeltern ins relativ neu gebaute Häusle nach dem Krieg eine Familie einquartiert wurde, die aus Bessarabien ins Schwabenland fliehen musste, war man zunächst mehr als skeptisch. "Flichtleng ins oigene Haus ond no au no glei so viel. Acht Leit en drei Zemmer."
Doch mit der Zeit näherte man sich an. Meine Großeltern und die Hausleute aus Bessarabien. Irgendwann war so viel Vertrauen da, dass auch zusammen gekocht wurde. Die Neckarschwäbin zeigte der Donauschwäbin, wie sie den weltbesten Kartoffelsalat macht, und die Donauschwäbin der Neckarschwäbin, worin das Geheimnis ihrer Paprika liegt und wie es gelingt, im ganzen Haus einen so wunderbaren süßlich-scharfen Duft zu verbreiten.
Und dann wurde gemeinsam gegessen. Gefüllte Paprika mit Kartoffelsalat. Um den Tisch herum in der großen Küche saßen zwölf Menschen. Und man aß und trank und erzählte sich vom Leben. Und weil es so gut schmeckte, saß man lange und erzählte viel.
So kam es, dass dieses Gericht bis heute einen festen Platz in der Rezeptsammlung unserer Familie hat.
Und wenn ich heute, mindestens 70 Jahre nach der Entstehung dieser Tradition, zu meiner Mutter komme und mir etwas zu Essen wünschen darf, dann wünsche ich mir gefüllte Paprika mit Kartoffelsalat. Weil dieses Gericht nach Heimat riecht und auch so schmeckt.
Heimat ist nicht nur ein geographischer Begriff. Sie entsteht auch da, wo sich Menschen öffnen und etwas voneinander zeigen. Wie die beiden Hausfrauen.
Und sowieso: Essen und Trinken hält nicht nur Leib und Seele zusammen, sondern verbindet auch Menschen miteinander.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40915Alles war so gut vorbereitet für den Sommerurlaub. Die Koffer gepackt, die Urlaubsliteratur ausgewählt, alle Buchungsunterlagen bereit.
Der Wecker klingelt um 4 Uhr morgens. Um 6:10 Uhr geht der Flieger ab Stuttgart nach Rom. So der Plan. Ich freue mich riesig. Es war viel los in diesem Jahr. Nach Dusche und Kaffee trage ich die Koffer ins Auto. Dann der Griff an die rechte hintere Hosentasche. Mein Geldbeutel. Wo ist der?
Zunächst bleibe ich noch ganz ruhig. Der muss an der Garderobe liegen. Leider Fehlanzeige. Nachttisch, Jackentaschen, Rucksack, Auto – ich werde hektisch. Der gut gemeinte Hinweis meiner Frau, ich solle jetzt doch mal ganz in Ruhe überlegen, wann und vor allem wo ich ihn zum letzten Mal in Händen hatte, ist nur wenig hilfreich. Es ist jetzt 5:05 Uhr, und mir wird immer klarer, dass das Flugzeug nicht warten wird, weil ich meinen Geldbeutel nicht finde.
Bitte, bitte, lieber Gott, das darf doch jetzt einfach nicht wahr sein. Mir fällt ein, dass ich ja noch einen Reisepass habe. Wenigstens das. Und meine Frau ja auch eine Kreditkarte. Um 5:15 Uhr treffen wir die Entscheidung, dass ich ohne Geldbeutel den Urlaub antrete.
Eigentlich ein No-go. Zumal für mich, der ich so gerne alles im Griff habe.
Während der Fahrt zum Flughafen, wo wir gerade noch rechtzeitig ankommen, sitze ich schweigend und kopfschüttelnd im Auto.
Nach dem Start der Maschine löst sich langsam die Anspannung. Ich bin froh, dass wir im Flugzeug sitzen und ich nicht immer noch wie ein Irrer durchs Pfarrhaus rase.
Dass ich im Urlaub, selbst wenn ich mir eine Kugel Eis kaufen möchte, meine Frau fragen muss, tut mir – der ich mich sonst immer für alles zuständig fühle – ganz gut.
Was ich seit diesem Morgen im Sommer 2024 weiß: Wenn es weitergehen soll, muss man zuweilen ziemlich unvorstellbare Entscheidungen treffen. Wie ohne Geldbeutel samt höchst wichtigen Inhalten in den Urlaub zu fliegen. Und ich weiß seither auch dass ich zur Not auch ohne all die scheinbar lebensnotwendigen Dinge klarkomme. Vorausgesetzt, es ist einer da der bereit ist, mir zu helfen.
Denn es wurde trotzdem ein wunderbarer Urlaub, auch dank meiner Frau und ihrer Kreditkarte.
"Suchet, so werdet ihr finden," sagt Jesus. Und: "Bittet, so wird euch gegeben." Das sagt er auch. Dass wir immer das finden, was wir zunächst suchen, das sagt er nicht. Und auch nicht, dass er uns immer das gibt, worum wir bitten. Die Bitten meiner Stoßgebete, die ich halb flehend, halb fluchend zwischen 4 und 5 Uhr morgens durchs Pfarrhaus gefaucht habe, wurden nicht erfüllt. Und doch hat er mich gehört. Ganz sicher. .
Mein Geldbeutel, der lag übrigens die ganze Zeit auf meinem Schreibtisch. Ich hatte ihn einfach übersehen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40914Auf den heutigen Abend freue ich mich granatenmässig. Ich habe Karten für ein BAP-Konzert mit Wolfgang Niedecken.
Ein Abend wie ein Fenster, aus dem warmes Licht herausscheint, wenn es draußen nasskalt ist und man genau weiß: Da drinnen wartet jemand auf mich. Ein Abend wie Heimkommen.
Auch, weil ich die Lieder des Sängers aus Köln jetzt schon über 40 Jahre lang im Gepäck habe. Auch, weil ich beim Konzert einen meiner besten Freunde treffen werde.
Heimkommen.
Wie gut, dass es Heimatorte auf Erden gibt. Nicht nur geografisch. Orte, an denen Vieles vertraut ist.
So wie es heute Abend sein wird, wenn als eine der Zugaben ziemlich sicher „Verdammt lang her“ durch die Halle schallen wird.
„Verdammt lang her“ hat Wolfgang Niedecken übrigens in Erinnerung an seinen Vater geschrieben. .
„Verdammt lang her, dass ich bei dir am Grab war“, so eine der Textzeilen.
Kürzlich war ich auf einem Friedhof und bin auch an einem Grabstein stehengeblieben. Gestaltet wie ein kleiner klassischer Tempel. Am First des baldachinartigen Daches nur ein Wort, geschrieben in großen, von Grünspan gezeichneten Jugendstil-Lettern: „Heimgegangen“.
Obwohl ich noch immer sehr gerne lebe: Ich glaube, das soll auch mal auf meinem Grabstein stehen. „Heimgegangen“. Das hat nämlich was Warmes. Das klingt nach warmem Licht aus einem Fenster an einem kalten Novemberabend.
Heinrich Böll fällt mir dazu ein. Auch ein Kölner wie Wolfgang Niedecken. Er hat die Frage, warum er an Gott glaubt, so beantwortet:
„Ich glaube wegen der Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir’s zugeben – dass wir hier auf der Erde nicht ganz zu Hause sind.“
Ich stimme ihm zu, dem großen Erzähler und Nobelpreisträger. Und ich glaube: Weil wir hier nicht ganz zuhause sind, gerade deshalb sind wir auf der Suche nach Heimat.
Deshalb sehnen wir uns alle danach, irgendwie und irgendwo anzukommen. Und deshalb sind viele Wege in unserem Leben, Versuche nach Hause zu finden. Also Heimwege.
Dass wir Heimatorte finden und Heimatklänge – wie ich hoffentlich heute Abend im Konzert, und dass es Orte gibt, an denen Menschen auf uns warten und dass wir unser Leben lang unterwegs sind zu einem Heimatort, einem Haus, aus dem warmes Licht herausscheint – das ist mein Wunsch für uns alle heute Morgen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40913Mir gegenüber sitzt ein Mann, Ende 50. Graumeliertes Haar, leuchtende Augen. Er spricht mit klarer, aber bewegter Stimme.
Vor ein paar Tagen ist sein Vater gestorben. Mit 92 Jahren. Gemeinsam bereiten wir nun die Beerdigung vor.
Es ist eines dieser Trauergespräche, das mir in Erinnerung bleiben wird. Weil offen geredet wird. Vom Leben des Verstorbenen, in dem es durchaus auch sehr schwierige Zeiten gab: den Krieg, die Flucht, den Neustart im Schwabenland auf einem Gutshof, der mit viel Misstrauen dem Fremden gegenüber verbunden war.
Auch die Schwächen des Vaters wurden benannt. Und da gab es einige.
Aber dann dieser eine Satz:
„Aber wenn ih mir nomal an Vaddr aussucha dürft, ich würde genau den nomal nemma.“
Ich kann mir keine schönere, keine versöhnlichere Aussage vorstellen, die ein Kind gegenüber einem Elternteil formuliert.
Wie kam es dazu?
Ich glaube, da wusste ein Vater, dass das Wichtigste, was Eltern ihren Kindern entgegenbringen können, das Vertrauen ist und die Großzügigkeit
Nicht schimpfen und enttäuscht sein, wenn eines der vom Vater liebevoll zusammengebauten Modellflugzeuge mal wieder in einem Baum hing. Nein, dann vielmehr gemeinsam alles geben, um das Malheur zu beheben, sich zuhause in der Werkstatt an die Reparatur machen.
Dem Sohn dabei zeigen, wie es geht, und es ihn dann auch selber machen lassen.
Um es dann wieder fliegen zu lassen, bis zum nächsten Sturzflug.
Ja, weil er Abstürze akzeptiert hat, nicht nur beim Modellfliegen, und weil er gemeinsam mit dem Sohn immer Wege gesucht und gefunden hat, wie es weitergehen kann.
Ich glaube, deshalb würde der Sohn sich genau diesen Vater nochmal aussuchen.
Ich frage mich, ob meine Kinder das von mir auch sagen würden. Ganz sicher bin ich mir nicht.
Weil auch zwischen uns nicht alles immer gut gelaufen ist und es manche Abstürze gegeben hat.
Aber auch wir haben miteinander erlebt, dass man Dinge reparieren kann. Ja, sogar, dass Vertrauen wieder wächst.
Auch weil das so ist, kann ich heute sagen, auch mit klarer und etwas bewegter Stimme:
„Wenn ich mir mein Leben nochmal aussuchen könnte, ich glaube, ich würde genau dieses nochmal nehmen.“ Weil ich dankbar bin.
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