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Die Bibel erzählt im „Buch Daniel“ (Kap.5) eine gespenstische Geschichte: Der babylonische König Belsazar, ein kriegslüsterner Machtprotz im 6. Jahrhundert vor Christus, feiert mit seinen Vasallen eine Gala. Man besäuft sich mit Wein aus liturgischen Gefäßen, die man aus dem Jerusalemer Tempel geraubt hatte. Doch plötzlich erscheint an der Wand eine Geisterhand und kritzelt: „Mene-Tekel“. Auf Deutsch: Deine Tage, König, sind gezählt, du wurdest gewogen und zu leicht befunden. Der „entfärbt sich“, übersetzt Martin Luther, wird kreidebleich, so fährt ihm der Schreck in die Glieder. Die Party ging abrupt zu Ende, und um den König wars geschehen.
Eine grandiose Performance, finde ich. Ich wünschte mir eine solche Installation in Trumps „Oval Office“, in Putins Kreml und in allen Regierungszentralen: „Mene-Tekel“ an der Wand und auf allen Bildschirmen, wenn die Machthaber Krieg führen, statt zu verhandeln, die Welt zu Tode rüsten, statt Hunger und Elend zu bekämpfen und den Klima-Wandel zu stoppen. Wenn sie sich selber gottgleich produzieren, statt dem Gemeinwohl zu dienen.
Die Frage ist nur: Wer führt diese Geisterhand? Wer schreibt das „Mene-Tekel“ an die Wand? Das Volk natürlich, denn in der Demokratie sind wir der Souverän und haben das Sagen. Das passt machtbesoffenen Despoten gar nicht in den Kram. Doch auch demokratische Regierungen spuren nur dann, wenn sich die da unten immer wieder lautstark artikulieren, sonst regieren die da oben am Volk vorbei. Ja – Demokratie ist schrecklich anstrengend, aber nur so funktioniert sie.
Bitter, wie Jesus von Nazareth die politische Klasse seiner Zeit beschreibt: „Ihr wisst doch: Die Herrscher richten ihre Völker zugrunde. Bei euch soll es anders sein: Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht“ (Matthäus-Evangelium 21,26-27).
Dieser Geist qualifiziert für ein Regierungsamt. Wenn nun bald ein neuer Bundestag zu wählen ist, messe ich die Kandidatinnen und Kandidaten an ihrer Dienstbereitschaft. Abgeordnete müsste man an ihrer Demut und das heißt – alt-deutsch – an ihrem „Dien-Mut“ erkennen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41418Von bunten Magneten gehalten tummeln sie sich an meiner Kühlschranktür: Einkaufslisten, To-do Listen, das Blatt mit den guten Vorsätzen aus der Silvesternacht und der neue Abfallkalender mit den Terminen für die Müllabfuhr. Dazwischen die Postkarte mit der Jahreslosung. Auch die hält für dieses Jahr eine Aufgabe fest: „Prüft alles und behaltet das Gute“, steht in bunten Buchstaben drauf zu lesen. Lauter Sachen, die es früher oder später zu erledigen gilt. Zwischen Kühlschrank auf und Kühlschrank zu werde ich dauernd dran erinnert, was noch alles zu tun ist. Und manche Zettel hängen da mitunter ganz schön lange.
Meine Freundin, an deren Kühlschranktür es genauso aussieht, hat mir jetzt erzählt, dass sie jeden Samstag noch eine zusätzliche Liste anfertigt. Aber keine, die noch mehr Aufgaben formuliert, sondern eine, auf der sie notiert, was sie in der zurückliegenden Woche alles gemacht hat. Keine To do-Liste, sondern eine Have-done-Liste. Dafür nimmt sie ein buntes Papier und beklebt es an den Rändern mit Sachen, die sie irgendwo ausgeschnitten hat. Oder sie tunkt eine Lavendelblüte aus ihrem Garten in einen Topf mit Farbe und verschönert das Papier mit den Abdrücken. Und dann schreibt sie auf, was sie in dieser Woche alles schon erledigt hat. „Eingekauft“ steht da fast immer, aber jetzt auch Weihnachtsdekoration abgebaut und auf dem Dachboden verstaut, ein altes Regal entdeckt, gestrichen und verschenkt, zwei Mal für die Nachbarin in der Apotheke gewesen, fünf Mal Spülmaschine ausgeräumt, einen Spaziergang gemacht, in der Chorprobe ein neues Lied gelernt. Lauter ganz alltägliche Dinge; eigentlich sind sie nicht der Rede wert, und doch der Stoff, aus dem das Leben besteht. Die Listen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, aber, so sagt meine Freundin, sie tragen ganz erheblich zu ihrer inneren Zufriedenheit bei. Denn sie bilden ein starkes Gegengewicht zu dem, was immer noch zu tun übrigbleibt, und beweisen, dass zwischen Kühlschrank auf und Kühlschrank zu immer auch eine ganze Menge geschafft wird. Und ganz nebenbei entsteht auf diese Weise am Ende eines Jahres ein ganz besonderer Kalender mit 53 bunten Blättern. Eine gute Idee! Ich werde mal prüfen, ob ich sie für mich behalte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41382In einem wunderbaren kleinen Gedicht hat Christian Morgenstern das „Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst“ festgehalten. Diese Schnecke fragt sich: „Soll i aus meim Haus raus? Soll i aus meim Haus nit raus?“ Und sie räsoniert weiter: „Einen Schritt raus? Lieber nit raus?“ Im Folgenden verliert sich die Schnecke dann in einem lautmalerischen Kauderwelsch zwischen „Hauseraus“ und „Hausenitraus“, bis sie ihr Selbstgespräch in einem langen Seufzer aushaucht: „Rauserauserauserause.“ Ein Beobachter stellt lapidar fest: „Die Schnecke verfängt sich in ihren eigenen Gedanken oder vielmehr diese gehen mit ihr dermaßen durch, dass sie die weitere Entscheidung der Frage verschieben muss.“
Ich mag diese Hausschnecke sehr, denn ich fühle mich ihr sehr nahe. Gerade jetzt im Winter verkrieche ich mich gern mal in den eigenen vier Wänden. Und damit meine ich nicht nur mein großzügiges Zuhause mit viel mehr Räumen als jedes Schneckenhaus sie hat, sondern auch einen inneren Rückzug von dem, was von außen an mich herangetragen wird, einen Rückzug von Aufgaben, Streitfragen und Entscheidungsprozessen.
Manchmal würde ich jedenfalls einfach gerne einen langen Winterschlaf halten und erst im Frühling wieder zu mir kommen. Es gibt Schneckenarten, die das auch praktizieren. Noch vertrauter sind mir aber solche schneckenhauskreisenden Gedankengänge: Soll ich, soll ich nicht? Ich bin eine Meisterin im Abwägen unterschiedlicher Positionen. Lange Pro und Contra-Listen erstelle ich mit links. Eine Entscheidung zu treffen, mich für das eine oder andere auszusprechen, fällt mir dagegen oft schwer. Wie die Schnecke in ihrem Selbstgespräch verliere ich mich gerne im Für und Wider. Soll i aus meim Haus raus? Soll i aus meim Haus nit raus? Dabei weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich unbedingt raus muss, das bequeme Schneckenhaus verlassen, einfach mal die Fühler ausstrecken, um zu erfahren, was da draußen in der Welt so alles vor sich geht. Mein Glaube hilft mir übrigens dabei, mich nicht zurückzuziehen. Er lockt mich immer wieder gegen viele Widerstände hinaus ins Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41381„Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Dieses Lied singe ich gerne auch als Neujahrsgruß. Auch meiner Schwiegermutter habe ich es gerade vorgesungen. Sie ist vor vierzehn Tagen in ein Pflegeheim umgezogen. Mit zunehmender Demenz ist es für meine Schwägerin nämlich immer schwieriger geworden, die 24Stunden/7 Tage-Pflege alleine zu stemmen.
Mein Mann und ich wohnen viele hundert Kilometer weit weg und können den Alltag nur wenig entlasten. Aber ein letztes Weihnachtsfest wollten wir gerne noch zusammen feiern in dem Haus, in dem meine Schwiegermutter fast ihr ganzes Leben verbracht hat: Sie hat dort eine Schneiderwerkstatt betrieben, die eigenen Eltern gepflegt und ihre beiden Kinder großgezogen.
Ich bin erst spät in ihr Leben getreten; da hatte die Demenz schon angefangen. Deshalb hat es mich immer besonders gefreut, dass sie mich bei unseren Besuchen noch lange beim Namen genannt hat: „Martina, wie schön, dass du da bist!“ Viele und vieles andere war aus ihrem Gedächtnis schon lange verschwunden. Nur an zwei traumatische Erlebnisse aus ihrer Kindheit im Krieg hat sie sich immer und immer wieder erinnert und sie uns in stereotyper Art und Weise vorgetragen.
Aber mindestens genauso oft hat sie uns innerhalb einer Stunde gefragt, ob sie uns nicht etwas anbieten könnte, Kaffee kochen, Brote schmieren. Auch in der Demenz hat sich der zugewandte, liebenswürdige, fürsorgliche Mensch gezeigt, der sie ein Leben lang gewesen ist. Das ist jetzt anders geworden. Oft geht ihr Blick ins Leere; die Hände sind unruhig und suchen am Saum ihres Pullovers entlang nach einem Halt. Und sie durchlebt nun auch zunehmend Phasen von Angst und Verzweiflung, fühlt sich bestohlen und bedroht. Beruhigende Worte verfangen schon lange nicht mehr, und was mich besonders schmerzt, ist, dass sie nun auch liebevolle Gesten nicht mehr richtig einordnen kann. Wenn ich ihr behutsam über den Handrücken streichle, schlägt sie die Hand weg, die ihr zu nahegekommen ist. Wie kann ich ihr zeigen, dass sie nicht alleine ist, wenn sie selbst solche elementaren Gesten wie ein Streicheln nicht mehr versteht?
Ich wünsche ihr so sehr, dass sie die guten Mächte spüren kann, von denen sie zweifellos noch immer umgeben ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41380Die Stimme eines Menschen ist wie sein Fingerabdruck. Einzigartig. Bestimmt fallen Ihnen auch sofort ein paar unverwechselbare Sprechstimmen ein. Von Schauspielern oder Politikerinnen. Von Leuten, die in der Öffentlichkeit zu Wort kommen. Bei mir hat sich zum Beispiel von den Märchenschallplatten, die ich als Kind gehört habe, die Stimme von Hans Clarin ganz fest eingeprägt. Später hat er sie dem Pumuckl im Fernsehen geliehen. Auch heute höre ich noch gerne Hörbücher. Manches Buch hätte ich bestimmt nicht zu Ende gelesen, wenn es mir nicht Matthias Brandt oder die gerade erst verstorbene Hannelore Hoger bis zum Ende vorgelesen hätte. Und umgekehrt: Als der Pfarrer am Heiligabend sich gleich am Anfang des Gottesdienstes dafür entschuldigt hat, dass er leider ausgerechnet heute ziemlich heiser sei, da konnte ich gut mitfühlen. Ob ich an seiner Stelle allerdings den Mut gehabt hätte, meine Predigt von einer anderen Person vortragen zu lassen, die besser bei Stimme ist? Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ohne eine überzeugende Stimme auch die beste Botschaft nicht wirklich überzeugend wirkt.
Und wie wohl Gottes Stimme klingt? Das habe ich mich schon oft gefragt. Denn in der Bibel wird immer wieder davon erzählt, dass Gott direkt mit Menschen gesprochen hat. Mit Adam und Eva im Garten Eden, mit Abraham und Sara unterm Sternenzelt, mit Mose in der Wüste auf einem Berg, mit Jesus bei seiner Taufe. Ja, ohne dass Gott sich einzelnen Menschen persönlich mitteilt, ist die ganze jüdisch-christliche Überlieferung gar nicht vorstellbar. Hat Gott also einen sonoren Bass? Oder eine warme Altstimme? Die tiefen Stimmlagen vermitteln eine größere Autorität, weiß die Psychologie. Oder sollte ich mir Gottes Stimme überhaupt nicht als akustisches Phänomen vorstellen? Aber wie dann? Haben die Menschen, die Gottes Stimme hören konnten, eine innere Berufung erlebt? Oder eine bestimmte Aufgabe in ihrem Leben als gottgegeben interpretiert? Der Apostel Paulus ist überzeugt: Der Glaube kommt aus dem Hören. Braucht es also eine Begabung für bestimmte Zwischentöne, um so eine Gottesstimme ausmachen zu können? Ich hab übrigens auch die Bibel als Hörbuch. Gelesen von Ben Becker. Vielleicht hör ich da heut mal rein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41379Als Urwalddoktor würde ihn heute wohl niemand mehr bezeichnen. Da sind wir im Jahr 2025 sprachsensibel geworden. Tatsache bleibt, dass der Arzt Albert Schweitzer viele Jahre seines Lebens im afrikanischen Gabun verbracht hat, einem Land am Äquator, das von tropischem Regenwald durchzogen ist.
Heute vor 150 Jahren wurde er geboren. Nicht in Afrika, sondern in dem elsässischen Städtchen Kaysersberg. Das hat 1875 zum deutschen Kaiserreich gehört. Der Pfarrerssohn entwickelt sich zu einem Ausnahmetalent mit vielen unterschiedlichen Begabungen. Er studiert Theologie und Philosophie, brilliert aber auch als Orgelspieler und auf dem Gebiet der Kirchenmusik. Als er nach einer erfolgreichen Promotion schon selbst Dozent für Theologie geworden ist, fängt er noch ein weiteres Studium an. Er studiert Medizin. Auch das bringt er mit einer Doktorarbeit zum Abschluss. Und hat endlich alle persönlichen Voraussetzungen, um als Missionsarzt tätig zu werden.
Mit 38 Jahren gründet er mit seiner Frau Helene das erste Krankenhaus in Lambarene, und baut es in den folgenden Jahrzehnten mit Unterbrechungen immer weiter aus und um, so dass es zu einer zentralen Anlaufstelle für die Behandlung von Leprakranken wird. Eine umfassende „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist der Schlüsselbegriff, nach dem Albert Schweitzer sein Denken und Handeln ausrichtet. Dieses Leitmotiv steht im krassen Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie von Volk und Rasse, die inzwischen in Nazideutschland vorherrscht. Trotzdem möchte man sich dort gerne mit dem berühmten Urwalddoktor brüsten. Aber eine von Joseph Goebbels mit deutschem Gruß unterzeichnete Einladung lehnt Albert Schweitzer dankend ab und antwortet „mit zentralafrikanischem Gruß“. Und nach dem Krieg – seine elsässische Heimat gehört inzwischen zu Frankreich - nimmt er die französische Staatsbürgerschaft an.
Was mir an diesem Mann imponiert, ist die für ihn unauflösliche Verbindung von Lehre und Leben. Er ist ein Christ mit Lust am Forschen und mit Leidenschaft für die Menschen und die Schöpfung. Und mit einer großen Begabung für beides. Bestimmt wird es in diesem Jahr seines 150. Geburtstags und seines 60. Todestages auch viel Neues über ihn zu erfahren geben. Ich freu mich drauf!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41378Bis zu sechs Blaumeisen auf einmal zähle ich am XXL-Meisenknödel, den ich vor ein paar Tagen in die kahlen Weinreben auf dem Balkon gehängt habe. Das Rotkehlchen ist eher scheu und nutzt den Schutz des Vogelhäuschens. Die dicken Amseln picken vom Boden auf, was runterfällt, und freuen sich auch mal über ein paar Apfelschnitze. Das absolute Highlight stellt der Buntspecht dar, wenn er sich kopfüber an die Futterstation hängt. In seiner Nähe regt sich dann für ein Weilchen kein anderes Geflatter. Besser als Fernsehen, denke ich, wenn ich von meinem Platz am Esstisch aus die Wintervögel im Garten beobachte. „Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ So hat es Jesus formuliert und uns die Vögel als leuchtende Beispiele für ein sorgloses Leben voller Gottvertrauen und Leichtigkeit hingestellt.
Die Vögel in meinem Garten aber ernährt gar nicht der Vater im Himmel. Für die sorge ich. Und zwar nicht nur im Winter. Der NABU empfiehlt inzwischen die ganzjährige Fütterung, damit alte und schwache Vögel ohne große Anstrengung an Futter kommen, und zum Selber suchen dann mehr für die kräftigeren Jungvögel übrigbleibt. Dieses Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur soll dann insgesamt den gefährdeten Bestand an heimischen Singvögeln sichern.
Auch für mein eigenes Leben sorge ich in erster Linie selbst. Ich habe einen Beruf, ein auskömmliches Einkommen, ein Dach über dem Kopf, eine Kranken- und Pflegeversicherung. Ich habe im besten Sinn des Wortes ausgesorgt. Und möchte trotzdem den intensiven Blick auf die Vögel unter dem Himmel nicht missen. Auf meine Blaumeisenbande, das scheue Rotkehlchen, die frechen Amseln und den majestätischen Buntspecht. Sie säen nicht, sie ernten nicht und sie sammeln keine Vorräte in Scheunen. Sie leben einfach so in den Tag hinein. Von dem, was die Schöpfung ihnen schenkt. Und von der Stütze, die ich ihnen in Form von ausgewähltem Vogelfutter angedeihen lasse. Sie leben vom Zusammenspiel von menschlicher und göttlicher Fürsorge. So wie ich. Sie beflügeln mein Gottvertrauen. Und schenken meinen Tagen Leichtigkeit.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41377Wann habe ich zuletzt meine Meinung geändert? Also bei etwas, von dem ich wirklich überzeugt war? Die Politikaktivistin Claudine Nierth stellt genau diese Frage in den Raum. „Wann ändern wir unsere Meinung?“ Ihre Antwort: Sehr, sehr selten. Wenn wir mal von etwas überzeugt sind, dann ändern wir fast nie unsere Meinung. Sie sagt das auch von sich selbst. Obwohl sie sehr offen wirkt und viel über politische Meinungsbildung redet.
In der Regel wollen wir gar keine andere Meinung hören, sondern meist nur unsere eigene bestätigt sehen. Sich wirklich mit anderen Gedanken auseinanderzusetzen, ist erstens anstrengend und könnte zweitens ja am eigenen Weltbild rütteln.
Wie ist das bei mir? Wenn mich Menschen zum Beispiel in eine Diskussion über Kirche verwickeln, merke ich nach zwei Sätzen, ob sie wirklich eine andere Meinung hören wollen oder ob sie nur ihre eigene bestätigt haben wollen. Meistens ist es letzteres. Und wer weiß, wie oft ich selbst unbewusst auch so agiere.
Auf einmal verstehe ich besser, warum gesellschaftliche und politische Debatten aktuell oft ablaufen, wie sie ablaufen. Sie bilden mehr Fronten, als dass sie in einen offenen Dialog führen. Und diese Erkenntnis sorgt mich im Blick auf die anstehende Bundestagswahl. Wie sollen wir uns als Bürger in unserem Land auf etwas einigen, wenn Meinungsbildung so unbequem ist? Da ist es auch nicht verwunderlich, dass die Parteien scheinbar alle dasselbe sagen.
Die große Politik kann ich nicht ändern, aber Politik fängt, wie so oft, in meinem persönlichen Umfeld an. Ich muss erst die Argumente meines Gegenübers anhören und sie mit meinen eigenen Gedanken konfrontieren. Erst dann entscheiden und reden. Denn ein wirklicher Dialog kann nur geschehen, wenn ich die Möglichkeit offenhalte, dass der andere auch Recht haben könnte. Demokratie lebt davon, dass sich Menschen informieren und sich ihre Meinung bilden. Sie auch mal ändern. Nicht darauf beharren.
Mir persönlich fällt das auch nicht immer leicht. Ein Satz aus der Bibel hilft mir dabei. Mich jeden Tag daran zu erinnern. Er hängt bei mir zuhause eingerahmt an der Wand und ist mein persönliches Programm für die anstehende Bundestagswahl. Er heißt: Sei stets bereit zum Hören, aber bedächtig bei der Antwort[1]!
[1] Jesus Sirach 5,11
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41313Manche Menschen denken ja, die Kirche sollte beim Thema Sexualität einfach mal die Klappe halten. Nach all den Missbrauchsfällen, den ewigen Diskussionen über den Zölibat oder die veraltete Sexualmoral.
Das Einzige, was wirklich niemand mehr braucht, ist, dass man vorschreibt, wen man lieben darf und wen nicht. Andererseits glaube ich, wir als Kirche hätten in den Bereichen Körperlichkeit und Sexualität sehr wohl was zu sagen. Doch hier zeigt sich noch ein anderes Problem. Viele Menschen, gerade in der Kirche, tun sich sehr schwer, über ihre Sexualität zu reden.
Ich denke zum Beispiel an die Klosterschwester, die noch in ihrer Ausbildung beigebracht bekommen hat, dass alles im Bereich Sexualität eine Sünde ist. Sie glaubt das inzwischen zwar nicht mehr. Aber niemand möchte mit ihr darüber reden. Sie würde es aber gerne, weil es einfach ein Teil ihres Lebens ist. Und das Schweigen ihrer Gemeinschaft darüber sie so bedrückt. Oder ich denke dabei auch an die Theologiestudentin, die in einer Gesprächsrunde erwähnt, dass sie noch nie mit irgendjemand über Selbstbefriedigung gesprochen hat.
Ich glaube, diese Sprachlosigkeit ist kein speziell kirchliches Problem, sondern ein gesellschaftliches.
Natürlich. Sexualität ist etwas sehr Privates und das soll auch so bleiben. Wenn ich über so etwas Privates rede, mache ich mich angreifbar. Vielleicht ist auch immer die Angst dabei: Was denkt der andere jetzt über mich?
Es wäre fatal, allen alles zu erzählen. Aber ich glaube, es ist wichtig mindestens einen Menschen zu haben mit dem man über alles frei reden kann.
Ich selbst habe mich auch lange Zeit sehr schwergetan, über meine Körperlichkeit, über Selbstbefriedigung oder meine sexuellen Bedürfnisse zu sprechen. Aber ich habe, Gott sei Dank, einen guten Freund gefunden, bei dem ich es gelernt habe. Und ich merke, wie gut mir das tut. Weil es mir die Angst genommen hat, irgendetwas an meiner Sexualität komisch oder schlimm zu finden. Weil daran nichts Schlimmes ist. Ganz im Gegenteil. Es gehört zu mir, wie es zu jedem Menschen gehört. Ja, ist sehr privat, aber auch ganz wunderbar. Sexualität ist ein Geschenk. Und das dürfen wir beim Namen nennen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41312Ich bin bei einem Improtheater-Workshop. Der Referent erzählt uns zuerst ein paar grundsätzliche Dinge zum Improvisieren und fängt dann an mit uns zu üben.
Eine der Übungen soll uns ins Erzählen bringen. Sie geht so: Wir sind jeweils zu dritt zusammen und sollen eine Geschichte entwickeln. Das Thema: Wohin wollen wir verreisen. Der erste sagt einen Ort, an den er gerne reisen würde und der nächste soll einfach erzählt, wohin und wie die Reise von dort aus weitergeht. Egal, wie absurd es wird. Es gibt nur eine klare Vorgabe. Wir dürfen nie „Ja, aber“ im Weitererzählen sagen, sondern immer nur „Ja, und“.
Zum Beispiel sagt der erste: Wir fahren mit dem Fahrrad nach Afrika. Dann darf ich als nächster nicht sagen: „Ja, aber, mit dem Fahrrad dauert das ewig.“ Ich könnte stattdessen sagen: „Ja, und auf dem Weg halten wir in Ägypten und klettern auf eine Pyramide.“
Was erstmal ziemlich albern klingt, ist eine ziemlich coole Übung. Zum einen um mal ohne Hemmungen draufloszureden. Zum anderen aber, ist mir beim Erzählen aufgefallen, was dieses „Ja, und“ an Möglichkeiten bietet und nicht immer gleich alles in Frage stellt.
Ein praktisches Beispiel aus meiner Arbeit: Eine junge Frau kommt ins Pfarrbüro. Sie kommt nicht aus dieser Kirchengemeinde, möchte aber ihr Kind hier taufen lassen. Als nächstes erzählt sie, dass sie aus der Kirche ausgetreten ist und demnächst ihre Partnerin heiraten wird. Klingt konstruiert? Ist mir genau so geschehen. Die junge Frau hätte drei Mal „Ja, aber“ hören können. Ja, aber sie wohnen nicht auf unserem Pfarrgebiet. Ja, aber sie müssten erst Mitglied dieser Kirche sein. Ja, aber das entspricht nicht unserer Sexualmoral.
Ich würde allem widersprechen und sage: Ja, und? Sollten wir nicht froh sein, dass diese Frau, trotz allem ihr Kind hier taufen lassen möchte? Obwohl sie einige Gründe hätte mit der katholischen Kirche nichts zu tun haben zu wollen. Ich sage zu ihr: Ja, und hier ist die Anmeldung. Herzlich willkommen. Das heißt nicht, dass man immer alles möglich machen kann. Und ich wünsche mir von meiner Kirche, dass darin weniger „Ja, aber“ und mehr „Ja, und“ gesagt wird.
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