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„Dunkel-Flaute“ – mit diesem Kunstwort beschwören die Skeptiker der „Erneuerbaren Energien“ immer mal wieder einen bevorstehenden „Black out“. Klar, an kurzen und bewölkten Wintertagen schwächeln die Solaranlagen, und bei Flaute dreht sich kaum ein Windrad.
„Dunkel-Flaute“ beschreibt aber auch treffend die gegenwärtige politische Großwetterlage. Verheerende Kriege breiten ein Leichentuch über ganze Völker und bedrohen den Weltfrieden. Hunderttausende kommen völlig sinnlos ums Leben. Als die größten Umweltverschmutzer befeuern Rüstung und Krieg auch die weltweite Klima-Katastrophe. Sie tragen ebenso die Hauptschuld für Kindersterblichkeit, Hunger und Elend in der Welt. - Und kaum ein Lüftchen regt sich, um eine solch verbrecherische Politik zu stoppen.
„Dunkel-Flaute“ liegt auch über vielen Gemütern. Lähmende Angst oder eine dumpfe Wut verdichten sich zu völkischem Nationalismus bin hin zu hasserfülltem Rassismus. Immer mehr Staaten driften nach rechts. Allenthalben übernehmen gewählte Despoten die Macht und verdunkeln die Aussicht auf ein friedliches Miteinander.
Bei den „Erneuerbaren Energien“ würde die „Dunkel-Flaute“ ihre Schrecken verlieren, könnte man Strom massenhaft speichern. Da sind wir als Menschen besser dran. Wir haben ein großes, weites Herz, das alles in sich aufnehmen kann, was uns Gutes widerfährt: Worte des Dankes und der Anerkennung und Momente des Glücks. Jeder Gruß, der von Herzen kommt, jede freundliche Geste, die Fröhlichkeit, das Lachen der Kinder sind aufgeladen mit enormer Energie. Sogar Tränen der Trauer und des Leids, erst recht Zuspruch und Trost wirken wie Generatoren. Es ist vor allem die Liebe. Im Geben und Nehmen verströmt sie eine geheimnisvolle Kraft.
Die spüre ich auch im Gebet, wenn ich jenes „Lade-Kabel“ einstöpsle, das mich mit Gott verbindet. Ich vertraue dabei auf die Zusage Jesu: „Bleibet in mir, dann bleibe ich in euch“ (Johannes-Evangelium 15,4).
Wenn wir all diese Energiequellen zusammenschalten, gehen die Lichter nicht aus. Mit diesem „Massenspeicher“ in unseren Herzen können wir jeder „Dunkel-Flaute“ trotzen, können aushalten und standhalten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41423Da stirbt mit gerade einmal 49 Jahren der Betriebsratsvorsitzende eines größeren Unternehmens bei einer Herzklappen-Operation. Er war sehr beliebt und geschätzt in der Belegschaft und bei der Geschäftsführung – ein Mann klarer Worte und im Umgang mit allen immer fair und verlässlich.
Bei einem Besuch auf der Palliativ-Station eines städtischen Krankenhauses erfahre ich von einer jungen Mutter, 33 Jahre alt, zwei Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren, ihr Mann derzeit arbeitslos. Sie hat eine nicht mehr therapierbare Krebs-Erkrankung und ihre Tage sind gezählt.
Seit Jahren begleite ich einen Vater, mit fürsorglichen Händen und einem Herz voller Liebe im Hinblick auf seinen kleinen Sohn. Er kann ihn seit fast zwei Jahren nicht mehr sehen. Behörden, Ämter, Juristen sind gut mit dem Fall beschäftigt. Fakt ist: Auch der Bub, noch im Kindergartenalter, vermisst seinen Papa. Gott sei Dank tut sich momentan was, und Treffen sind wieder möglich.
Solche Geschichten sind für mich als Seelsorger mein tägliches Brot, und ich kann sie nicht einfach in einer Schublade entsorgen. Die politische Großwetterlage, die Kriege und Krisen, die Nachrichten in der Zeitung, die Berichte von leidenden Tieren, ja, „die Seufzer der bedrängten Kreatur"– sie lassen mich nicht kalt. Und doch nützt es wenig, das eigene Mitleiden noch obendrauf zu packen.
Was hilft mir? – Wenn ich mich verstanden fühle. Wenn ich auf Worte stoße, die meine eigene Bedürftigkeit benennen und ernst nehmen. Worte, die nicht damit einverstanden sind, dass alles Schwere nur zu schlucken sei. Ich will das Bedrückende und Belastende nicht beiseiteschieben, nur manchmal loslassen können und von Zeit zu Zeit ganz kindlich um frischen Wind im Seelenhause beten, so wie Paul Gerhardt es getan hat inmitten aller Dramen des 30-jährigen Krieges:
Gott „gebe uns ein fröhlich Herz,
erfrische Geist und Sinn.
Und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz
in Meeres Tiefe hin."
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41422Am Eingang der Stuttgarter Eberhardskirche trifft man auf einen Stolperstein ganz eigener Art: Ein mächtiger Quader – aus der Kirchenmauer herausgebrochen – ragt quer in den Fußweg und gebietet Halt. Blickt man nun in die Mauernische hinein, steht man Aug in Aug dem früheren Staatspräsidenten und Widerstandskämpfer Eugen Bolz gegenüber. Die bronzene Büste lässt erkennen, was ihm Hitlers Folterknechte an Schmerz und Schmach zugefügt hatten, bevor er auf den Tag genau – heute vor 80 Jahren – in Berlin-Plötzensee ermordet wurde.
Im Jahr 1881 in Rottenburg geboren, trat Eugen Bolz als junger Jurist der christlichen Zentrumspartei bei, wurde Abgeordneter im Landtag von Württemberg, später Justiz- und Innenminister und Staatspräsident.
Mit der Machtübernahme 1933 drängten ihn die Nazis aus dem Amt. Im Juni desselben Jahres inszenierten faschistische Horden auf Geheiß von oben vor St. Eberhard in Stuttgart einen Volksauflauf. So konnte man den bekennenden Christen nach der Messe vor aller Augen verhaften und auf dem Hohenasperg in „Schutzhaft“ nehmen.
1941 kam Eugen Bolz mit dem Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler in Verbindung. Man hatte ihn nach dem Umsturz für ein Ministeramt vorgesehen. Als 1944 das Attentat auf Hitler missglückte, wurde Bolz als „Mitwisser“ verhaftet und vom tobenden Blutrichter Freisler zum Tode verurteilt.
Für mich ist das Denkmal vor St. Eberhard ein doppeltes Mahnmal: Da hat einer die Kirchenmauer von innen aufgesprengt. Der christliche Glaube lässt sich nicht in Domen und Kathedralen verwahren. Er drängt hinaus in die Gesellschaft. „Politik ist für mich nichts anderes als praktische Religion“, bekannte Eugen Bolz.
Und das zweite Vermächtnis: „Der Nationalsozialismus ist rein heidnisch und eine Zusammenarbeit mit diesem unmöglich“, so Eugen Bolz wörtlich.1) Das will ich den Christenmenschen ins Stammbuch schreiben, die heute mit rechtsradikalen Wiedergängern sympathisieren. Wer sie wählt, wird zum Steigbügelhalter.
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1) Bolz in einer Rede in Ehingen im Oktober 1923 lt. Kompetenzzentrum für geschichtliche Landeskunde im Unterricht (KM) www.landeskunde-bw.de
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41421In der Wertschöpfungskette der Wirtschaft rangiert die menschliche Arbeit an erster Stelle. Sie verwandelt das „tote Kapital“ der Anteilseigner in Güter und Dienstleistungen und erzeugt so den gewünschten „Mehrwert“. Solange es gut geht….
Was aber, wenn nun diese verdammten Kriege in der Welt die Lieferketten unterbrechen, die Energie verteuern, die Absatzmärkte ruinieren? Oder wenn ein brutaler kapitalistischer Vernichtungswettbewerb ganze Unternehmen zum Absturz bringt? Dann ist die Arbeit plötzlich nichts mehr wert, und man kann sich nicht schnell genug von ihr trennen.
Daher zittern und zagen viele Beschäftigte zurzeit wieder um ihre Arbeitsplätze. Massenhaft werden Stellen abgebaut, Betriebe umstrukturiert, geschlossen oder ins Ausland verlagert.
Hört die Wert-schätzung auf, wenn die Wert-schöpfung entfällt? Da haben sich Menschen oft jahrzehntelang eingebracht mit Mühe und Fleiß, mit ihrer Verantwortung und ihrem Können. Und nun werden Leistungserbringer über Nacht zu „Leistungsempfängern“ degradiert. Geraten auch in seelische Not, wie ich als Betriebsseelsorger immer wieder erfahre. Sich nicht mehr gebraucht zu fühlen, sondern nur noch zur Last zu fallen – das tut weh!.
Ich appelliere zuerst an die Arbeitenden selbst: Verkauft euch nicht unter Wert! Steht solidarisch zusammen und kämpft mit euren Gewerkschaften um jeden einzelnen Arbeitsplatz! Oft werden Stellen abgebaut, die Arbeit aber bleibt und wird auf noch weniger Schultern verteilt. Lasst euch ja nicht auseinanderdividieren! Wo kein Betriebsrat existiert, wird es höchste Zeit, einen solchen zu wählen. Sonst guckt man bei Konkurs auch noch ohne Abfindung in die Röhre.
Ich appelliere aber auch an die Arbeitgeber: Es geht nicht an, dass man Menschen entlässt und weiterhin fette Vorstandsgehälter bezieht und milliardenschwere Dividenden ausschüttet. Derweil Klein- und Mittelständler oft ihr eigenes Vermögen angreifen, um ja keine Kündigungen aussprechen zu müssen.
Wenn die Wertschöpfungskette reißt – warum auch immer – darf man die Wertschätzung nicht unterbrechen. Denn die menschliche Arbeit, betont die christliche Sozialethik eindringlich, ist allemal wertvoller als Kapital.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41420„Ich bin beschenkt worden mit der Gabe, glauben zu können. Gott nenne ich meinen Vater, Jesus seinen Sohn, und der Heilige Geist ist für mich eine wirkende Kraft. Ich glaube übrigens auch, dass es unheiligen Geist gibt, und dass der in unserer Welt wirkt – nichts Gutes, wie ich meine."
Es ist ein älterer Mann, der mich nach dem Gottesdienst anspricht und von seinen Glaubenserfahrungen erzählt: „Von manchen Zeitgenossen", sagt er, „werde ich betrachtet, als sei ich intellektuell ein wenig minderbemittelt. Sie bemitleiden mich als rückständig, irgendwie nicht ganz auf der Höhe der Zeit, weil Kirche mir noch immer wichtig ist.“
Ja, die Sprache der alten biblischen Texte sei oft ungewohnt, meint er, aber sie bedeuteten ihm mehr als zeitgeistige Floskeln. „Es gibt Freunde“, fährt er fort, „die das nicht verstehen können. Sie lehnen ab, was sie gar nicht kennen, und ihnen scheint lächerlich, woran ich glaube. Ich sei wohl hinter der Aufklärung stecken geblieben, meinte einer, obwohl ich doch ansonsten normal sei."
Manchmal habe er das Gefühl, meint mein Gesprächspartner, sich für seinen Glauben rechtfertigen zu müssen. Er sei kein besserer Mensch oder klüger als der Durchschnitt, aber er denke doch, dass er etwas habe, was andern abgeht: nämlich ein Gegenüber, das ihn über sich selbst hinausweist.
„Immer bloß sein eigener Herr sein zu müssen, immer selbst die Spitze der Weisheit und Erkenntnis darzustellen, das kommt mir eng vor", sagt der Mann und ergänzt: „Ich brauche etwas Größeres als mich, jemand der väterlich und wohlwollend über mir steht. Ein Gegenüber, dem ich mich rückhaltlos anvertrauen kann und das mich oft auch infrage stellt. Mir tut es auch gut, wenn ich an IHN abgeben kann, was für mich allein zu groß und zu schwer ist."
Solche Gespräche wie dieses, fordern und beschenken mich als Seelsorger. Ich stehe ja nicht drüber, weiß als Pfarrer nicht automatisch mehr als die andern Gotteskinder.
Aber gerne wiederhole ich die Worte, die meinem Gesprächspartner so wichtig waren: „Es ist ein Geschenk, glauben zu können. Das bringt Tiefe ins Leben, Geborgenheit, Liebe."
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41419Die Bibel erzählt im „Buch Daniel“ (Kap.5) eine gespenstische Geschichte: Der babylonische König Belsazar, ein kriegslüsterner Machtprotz im 6. Jahrhundert vor Christus, feiert mit seinen Vasallen eine Gala. Man besäuft sich mit Wein aus liturgischen Gefäßen, die man aus dem Jerusalemer Tempel geraubt hatte. Doch plötzlich erscheint an der Wand eine Geisterhand und kritzelt: „Mene-Tekel“. Auf Deutsch: Deine Tage, König, sind gezählt, du wurdest gewogen und zu leicht befunden. Der „entfärbt sich“, übersetzt Martin Luther, wird kreidebleich, so fährt ihm der Schreck in die Glieder. Die Party ging abrupt zu Ende, und um den König wars geschehen.
Eine grandiose Performance, finde ich. Ich wünschte mir eine solche Installation in Trumps „Oval Office“, in Putins Kreml und in allen Regierungszentralen: „Mene-Tekel“ an der Wand und auf allen Bildschirmen, wenn die Machthaber Krieg führen, statt zu verhandeln, die Welt zu Tode rüsten, statt Hunger und Elend zu bekämpfen und den Klima-Wandel zu stoppen. Wenn sie sich selber gottgleich produzieren, statt dem Gemeinwohl zu dienen.
Die Frage ist nur: Wer führt diese Geisterhand? Wer schreibt das „Mene-Tekel“ an die Wand? Das Volk natürlich, denn in der Demokratie sind wir der Souverän und haben das Sagen. Das passt machtbesoffenen Despoten gar nicht in den Kram. Doch auch demokratische Regierungen spuren nur dann, wenn sich die da unten immer wieder lautstark artikulieren, sonst regieren die da oben am Volk vorbei. Ja – Demokratie ist schrecklich anstrengend, aber nur so funktioniert sie.
Bitter, wie Jesus von Nazareth die politische Klasse seiner Zeit beschreibt: „Ihr wisst doch: Die Herrscher richten ihre Völker zugrunde. Bei euch soll es anders sein: Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht“ (Matthäus-Evangelium 21,26-27).
Dieser Geist qualifiziert für ein Regierungsamt. Wenn nun bald ein neuer Bundestag zu wählen ist, messe ich die Kandidatinnen und Kandidaten an ihrer Dienstbereitschaft. Abgeordnete müsste man an ihrer Demut und das heißt – alt-deutsch – an ihrem „Dien-Mut“ erkennen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41418Von bunten Magneten gehalten tummeln sie sich an meiner Kühlschranktür: Einkaufslisten, To-do Listen, das Blatt mit den guten Vorsätzen aus der Silvesternacht und der neue Abfallkalender mit den Terminen für die Müllabfuhr. Dazwischen die Postkarte mit der Jahreslosung. Auch die hält für dieses Jahr eine Aufgabe fest: „Prüft alles und behaltet das Gute“, steht in bunten Buchstaben drauf zu lesen. Lauter Sachen, die es früher oder später zu erledigen gilt. Zwischen Kühlschrank auf und Kühlschrank zu werde ich dauernd dran erinnert, was noch alles zu tun ist. Und manche Zettel hängen da mitunter ganz schön lange.
Meine Freundin, an deren Kühlschranktür es genauso aussieht, hat mir jetzt erzählt, dass sie jeden Samstag noch eine zusätzliche Liste anfertigt. Aber keine, die noch mehr Aufgaben formuliert, sondern eine, auf der sie notiert, was sie in der zurückliegenden Woche alles gemacht hat. Keine To do-Liste, sondern eine Have-done-Liste. Dafür nimmt sie ein buntes Papier und beklebt es an den Rändern mit Sachen, die sie irgendwo ausgeschnitten hat. Oder sie tunkt eine Lavendelblüte aus ihrem Garten in einen Topf mit Farbe und verschönert das Papier mit den Abdrücken. Und dann schreibt sie auf, was sie in dieser Woche alles schon erledigt hat. „Eingekauft“ steht da fast immer, aber jetzt auch Weihnachtsdekoration abgebaut und auf dem Dachboden verstaut, ein altes Regal entdeckt, gestrichen und verschenkt, zwei Mal für die Nachbarin in der Apotheke gewesen, fünf Mal Spülmaschine ausgeräumt, einen Spaziergang gemacht, in der Chorprobe ein neues Lied gelernt. Lauter ganz alltägliche Dinge; eigentlich sind sie nicht der Rede wert, und doch der Stoff, aus dem das Leben besteht. Die Listen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, aber, so sagt meine Freundin, sie tragen ganz erheblich zu ihrer inneren Zufriedenheit bei. Denn sie bilden ein starkes Gegengewicht zu dem, was immer noch zu tun übrigbleibt, und beweisen, dass zwischen Kühlschrank auf und Kühlschrank zu immer auch eine ganze Menge geschafft wird. Und ganz nebenbei entsteht auf diese Weise am Ende eines Jahres ein ganz besonderer Kalender mit 53 bunten Blättern. Eine gute Idee! Ich werde mal prüfen, ob ich sie für mich behalte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41382In einem wunderbaren kleinen Gedicht hat Christian Morgenstern das „Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst“ festgehalten. Diese Schnecke fragt sich: „Soll i aus meim Haus raus? Soll i aus meim Haus nit raus?“ Und sie räsoniert weiter: „Einen Schritt raus? Lieber nit raus?“ Im Folgenden verliert sich die Schnecke dann in einem lautmalerischen Kauderwelsch zwischen „Hauseraus“ und „Hausenitraus“, bis sie ihr Selbstgespräch in einem langen Seufzer aushaucht: „Rauserauserauserause.“ Ein Beobachter stellt lapidar fest: „Die Schnecke verfängt sich in ihren eigenen Gedanken oder vielmehr diese gehen mit ihr dermaßen durch, dass sie die weitere Entscheidung der Frage verschieben muss.“
Ich mag diese Hausschnecke sehr, denn ich fühle mich ihr sehr nahe. Gerade jetzt im Winter verkrieche ich mich gern mal in den eigenen vier Wänden. Und damit meine ich nicht nur mein großzügiges Zuhause mit viel mehr Räumen als jedes Schneckenhaus sie hat, sondern auch einen inneren Rückzug von dem, was von außen an mich herangetragen wird, einen Rückzug von Aufgaben, Streitfragen und Entscheidungsprozessen.
Manchmal würde ich jedenfalls einfach gerne einen langen Winterschlaf halten und erst im Frühling wieder zu mir kommen. Es gibt Schneckenarten, die das auch praktizieren. Noch vertrauter sind mir aber solche schneckenhauskreisenden Gedankengänge: Soll ich, soll ich nicht? Ich bin eine Meisterin im Abwägen unterschiedlicher Positionen. Lange Pro und Contra-Listen erstelle ich mit links. Eine Entscheidung zu treffen, mich für das eine oder andere auszusprechen, fällt mir dagegen oft schwer. Wie die Schnecke in ihrem Selbstgespräch verliere ich mich gerne im Für und Wider. Soll i aus meim Haus raus? Soll i aus meim Haus nit raus? Dabei weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich unbedingt raus muss, das bequeme Schneckenhaus verlassen, einfach mal die Fühler ausstrecken, um zu erfahren, was da draußen in der Welt so alles vor sich geht. Mein Glaube hilft mir übrigens dabei, mich nicht zurückzuziehen. Er lockt mich immer wieder gegen viele Widerstände hinaus ins Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41381„Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Dieses Lied singe ich gerne auch als Neujahrsgruß. Auch meiner Schwiegermutter habe ich es gerade vorgesungen. Sie ist vor vierzehn Tagen in ein Pflegeheim umgezogen. Mit zunehmender Demenz ist es für meine Schwägerin nämlich immer schwieriger geworden, die 24Stunden/7 Tage-Pflege alleine zu stemmen.
Mein Mann und ich wohnen viele hundert Kilometer weit weg und können den Alltag nur wenig entlasten. Aber ein letztes Weihnachtsfest wollten wir gerne noch zusammen feiern in dem Haus, in dem meine Schwiegermutter fast ihr ganzes Leben verbracht hat: Sie hat dort eine Schneiderwerkstatt betrieben, die eigenen Eltern gepflegt und ihre beiden Kinder großgezogen.
Ich bin erst spät in ihr Leben getreten; da hatte die Demenz schon angefangen. Deshalb hat es mich immer besonders gefreut, dass sie mich bei unseren Besuchen noch lange beim Namen genannt hat: „Martina, wie schön, dass du da bist!“ Viele und vieles andere war aus ihrem Gedächtnis schon lange verschwunden. Nur an zwei traumatische Erlebnisse aus ihrer Kindheit im Krieg hat sie sich immer und immer wieder erinnert und sie uns in stereotyper Art und Weise vorgetragen.
Aber mindestens genauso oft hat sie uns innerhalb einer Stunde gefragt, ob sie uns nicht etwas anbieten könnte, Kaffee kochen, Brote schmieren. Auch in der Demenz hat sich der zugewandte, liebenswürdige, fürsorgliche Mensch gezeigt, der sie ein Leben lang gewesen ist. Das ist jetzt anders geworden. Oft geht ihr Blick ins Leere; die Hände sind unruhig und suchen am Saum ihres Pullovers entlang nach einem Halt. Und sie durchlebt nun auch zunehmend Phasen von Angst und Verzweiflung, fühlt sich bestohlen und bedroht. Beruhigende Worte verfangen schon lange nicht mehr, und was mich besonders schmerzt, ist, dass sie nun auch liebevolle Gesten nicht mehr richtig einordnen kann. Wenn ich ihr behutsam über den Handrücken streichle, schlägt sie die Hand weg, die ihr zu nahegekommen ist. Wie kann ich ihr zeigen, dass sie nicht alleine ist, wenn sie selbst solche elementaren Gesten wie ein Streicheln nicht mehr versteht?
Ich wünsche ihr so sehr, dass sie die guten Mächte spüren kann, von denen sie zweifellos noch immer umgeben ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41380Die Stimme eines Menschen ist wie sein Fingerabdruck. Einzigartig. Bestimmt fallen Ihnen auch sofort ein paar unverwechselbare Sprechstimmen ein. Von Schauspielern oder Politikerinnen. Von Leuten, die in der Öffentlichkeit zu Wort kommen. Bei mir hat sich zum Beispiel von den Märchenschallplatten, die ich als Kind gehört habe, die Stimme von Hans Clarin ganz fest eingeprägt. Später hat er sie dem Pumuckl im Fernsehen geliehen. Auch heute höre ich noch gerne Hörbücher. Manches Buch hätte ich bestimmt nicht zu Ende gelesen, wenn es mir nicht Matthias Brandt oder die gerade erst verstorbene Hannelore Hoger bis zum Ende vorgelesen hätte. Und umgekehrt: Als der Pfarrer am Heiligabend sich gleich am Anfang des Gottesdienstes dafür entschuldigt hat, dass er leider ausgerechnet heute ziemlich heiser sei, da konnte ich gut mitfühlen. Ob ich an seiner Stelle allerdings den Mut gehabt hätte, meine Predigt von einer anderen Person vortragen zu lassen, die besser bei Stimme ist? Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ohne eine überzeugende Stimme auch die beste Botschaft nicht wirklich überzeugend wirkt.
Und wie wohl Gottes Stimme klingt? Das habe ich mich schon oft gefragt. Denn in der Bibel wird immer wieder davon erzählt, dass Gott direkt mit Menschen gesprochen hat. Mit Adam und Eva im Garten Eden, mit Abraham und Sara unterm Sternenzelt, mit Mose in der Wüste auf einem Berg, mit Jesus bei seiner Taufe. Ja, ohne dass Gott sich einzelnen Menschen persönlich mitteilt, ist die ganze jüdisch-christliche Überlieferung gar nicht vorstellbar. Hat Gott also einen sonoren Bass? Oder eine warme Altstimme? Die tiefen Stimmlagen vermitteln eine größere Autorität, weiß die Psychologie. Oder sollte ich mir Gottes Stimme überhaupt nicht als akustisches Phänomen vorstellen? Aber wie dann? Haben die Menschen, die Gottes Stimme hören konnten, eine innere Berufung erlebt? Oder eine bestimmte Aufgabe in ihrem Leben als gottgegeben interpretiert? Der Apostel Paulus ist überzeugt: Der Glaube kommt aus dem Hören. Braucht es also eine Begabung für bestimmte Zwischentöne, um so eine Gottesstimme ausmachen zu können? Ich hab übrigens auch die Bibel als Hörbuch. Gelesen von Ben Becker. Vielleicht hör ich da heut mal rein.
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