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„Hast du Durst?“, fragt mich mein Kollege. „Nein, danke“, antworte ich. Dabei habe ich den ganzen Vormittag gerade mal eine Tasse Kaffee getrunken. Das ist eigentlich viel zu wenig. Während der Nacht verliert man rund einen halben Liter Wasser. Und wer mit offenem Mund schläft oder nachts schwitzt, noch mehr. Leider habe ich in dieser Jahreszeit fast kein Durstgefühl. Und manchmal deute ich Durst fälschlicherweise als Hunger. Ich habe gelesen, dass ich spätestens ab 60 alle zwei Stunden etwas trinken soll, damit sich im Körper kein chronischer Wassermangel einstellt und mein Hirn keinen Schaden nimmt.
Es gibt auch eine Art geistlichen Wassermangel. Nicht nur unser Körper braucht Wasser. Der Prophet Jesaja aus dem Alten Testament preist wie ein Marktschreier göttliches Wasser an: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!“ (Jesaja 55,1) Er ist davon überzeugt, dass die Menschen nicht nur Wasser für ihren Körper brauchen, sondern auch geistliches Wasser für ihre Seele.
Und wie beim körperlichen Wassermangel auch, kann es passieren, dass spirituelle Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen werden. Jemand merkt zwar, dass ihm etwas fehlt, deutet es aber anders und versucht es dann irgendwie zu kompensieren.
Ich denke an den Witwer, der große Angst hat, eines Tages nach einer Herzattacke hilflos in der Wohnung zu liegen. Um das zu verhindern, sucht er krampfhaft eine Frau und fällt auf dubiose Offerten herein. Ich würde mir wünschen, dass er mit jemandem über seine Ängste sprechen kann.
Ich denke an die erfolgreiche Geschäftsfrau, die sonntags regelmäßig in ein Loch fällt, weil ihr ein persönliches Netzwerk fehlt. Sie versucht, der Leere durch Shoppingtouren am Rechner zu entgehen und fühlt sich doch nicht gut dabei. Ihr würde ich von Herzen eine liebevolle Gemeinde wünschen, wo man füreinander da ist.
Um zu verstehen, was mir fehlt, brauche ich Ruhe-Momente. Sonst komme ich gar nicht in meinem Inneren an, merke nicht, was los ist. Und ich brauche Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die mir zuhören und manchmal auch geistliches Wasser anbieten, das dem Leben einen tieferen Sinn gibt.
Ich schenke mir jetzt jedenfalls ein großes Glas Wasser ein. Und während ich trinke, denke ich darüber nach, was sonst noch so in meinem Inneren los ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38906Ich bin Slow Joggerin. Ich mag dieses langsame japanische Laufen mit seinen vielen kleinen Schritten. Beim Slow Jogging rennt man nur so schnell, dass man nebenher wunderbar reden, lachen oder singen kann. Oft bin ich daher zu zweit unterwegs, immer schön mit dem erwünschten Puls von 120 oder 130 Herzschlägen pro Minute. Meist habe ich dann interessante Gespräche und komme fröhlich und entspannt an.
Anders geht’s mir, wenn ich allein Slow jogge. Dann werde ich leicht zu schnell und verliere mein gutes Tempo. Und darüber ärgere ich mich. Denn ich bin ausgebildete Trainerin. Da sollte ich es doch im Griff haben. Doch mir fehlt dann ein Tempomacher, in dem Fall ein Bremser, um im gesunden Tempo zu bleiben.
Ich meine, Jesus hatte das mit dem Tempo damals besser im Griff, auch wenn ich nicht weiß, ob er Slow Jogger war.
Von ihm wird berichtet, dass er zwar sein Ziel stets vor Augen hatte und sich nicht geschont hat. Und doch bremste er immer wieder ab und suchte selbst in der größten Hektik seine Rückzugsorte. Dann hat er seine Jünger allein gelassen und ist in die freie Landschaft zum Beten gegangen. Ich denke, dass er dann alles mit seinem Gott besprochen hat.
Das habe ich mir von ihm abgeschaut. Wenn die Anforderungen zu viel werden und das Arbeitstempo zu hoch, dann muss ich raus. Sportklamotten an, Kopfhörer unter die Mütze, einen passenden Rhythmus und los geht es. Wenn ich dann gleichmäßig und nicht zu schnell unterwegs bin, versuche ich meine Gedanken einzufangen.
Ich konzentriere mich darauf, sie auf Jesus zu lenken. Ich vertraue darauf, dass er mit mir läuft und mir zuhört. Ich glaube fest, dass er sich meiner Fragen und Sorgen annimmt. Manchmal gibt es mehr Probleme als ich überblicken kann.
Dann denke ich: Gut, dass er da ist und mir beim Sortieren und Abstand gewinnen hilft. Schon Christen im ersten Jahrhundert, die oft verfolgt wurden, haben festgehalten: „Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.“
Ja, Laufen und dabei aufsehen zu Jesus. Das will ich tun. Mit meinen vielen kurzen Trippelschritten. Unterwegs mit ihm als meinem Tempomacher.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38905Jeden Morgen sehe ich die „Gang“. So nenne ich die 7 Zweitklässler, die kurz nach halb acht am Fenster meines Arbeitszimmers vorbeiziehen. Sie gehen zur Schule, reden, schubsen sich, lachen. Vier Jungs und drei Mädchen. Was sie wohl für sich erhoffen? Und was sie wohl erwartet?
Was sie wohl an diesem Tag erwartet? In der zweiten Klasse ist für viele die Welt auch in der Schule noch in Ordnung. Jeden Tag gibt es Neues zu entdecken, jeden Tag gibt es etwas zu lernen und jeden Tag wird gelacht und gespielt. Wenn ich die „Gang“ beobachte, bete ich manchmal für die Kinder. Ich kann von weitem schon sehen, dass sie sehr unterschiedlich aufwachsen. Die Schulranzen und die Jacken, die sie tragen, sind bei den einen funkelnagelneu. Andere tragen wohl die Sachen der älteren Geschwister auf und ein Mädchen hat einen Diddl-Schulranzen, der ist eindeutig aus den 90ern. Ist das Vintage oder aus der Kleiderkammer der Diakonie? So unterschiedlich wird auch das sein, was sie erwartet, wenn sie dann wieder nach Hause kommen. Die einen haben ihr eigenes Zimmer, wo sie die Hausaufgaben am höhenverstellbaren Schreibtisch machen, die anderen sind im Mehrbettzimmer mit den Geschwistern. Wenn sie Glück haben, haben sie etwas Ruhe und einen Platz am Wohnzimmertisch, um ihre Hausaufgaben zu machen. Was erwartet sie wohl, die „Gang“, an diesem Tag und darüber hinaus?
Wie wird das Leben dieser 7-jährigen aussehen, wenn sie erwachsen sind? Was werden sie bis dahin erleben? Was erhoffen sie sich? Welche Werte werden ihnen wichtig sein? In welcher Welt werden sie leben? Wird es wirklich immer heißer? Werden ganze Teile der Welt überschwemmt sein, weil wir den Klimawandel nicht aufgehalten haben? Wird das so sein, weil es uns, den Jetzt-schon-Erwachsenen, so wichtig war, unseren eigenen Wohlstand unverändert zu leben? Wenn ich die „Gang“ beobachte, bete ich manchmal für die Kinder. Und ich weiß doch, dass das nicht ausreicht.
Werden sie vertrauen können, wenn sie denen nicht vertrauen können, die jetzt verantwortlich für sie und ihre Zukunft sind? Werden sie an Werte glauben, oder nur an das Recht des Stärkeren?
Jesus stellt einmal ein Kind mitten unter alle Erwachsenen und warnt sie: Wer auch nur einen von diesen kleinen Menschen vom Vertrauen abhält, der hätte es verdient, mit einem Mühlstein am Hals ins Meer gestürzt zu werden. Manchmal denke ich daran, wenn ich die „Gang“ kurz nach halb acht an meinem Fenster vorbeiziehen sehe. Was sie wohl erhoffen? Was sie wohl erwartet? Und was ich für sie tun kann? Beten. Ja. Und ich weiß, dass das allein nicht ausreicht.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38904Es ist Nikolaustag! Hoffentlich war etwas in den Stiefeln vor der Tür und hoffentlich wird heute ein Tag, an dem viele sich gegenseitig eine kleine Freude machen. Und zum Glück gibt es vom Nikolaus heute keine Ohrfeige! Sie haben richtig gehört. Ohrfeige. Dafür steht Nikolaus von Myra, das historische Vorbild des Nikolauses, nämlich auch. Auf einer Kirchenversammlung im Jahr 325, soll er einem anderen Theologen tatsächlich eine krachende Ohrfeige gegeben haben.
Er wurde dafür verhaftet und erst am Ende der Versammlung, etwa zwei Monate später, durfte er wieder teilnehmen. Recht so.
Auch wenn der andere aus heutiger Sicht der Kirchen ein Irrlehrer war – so führt man keine Diskussionen, schon gar nicht in der Kirche, oder?
Und doch… Manchmal wünscht man sich ja schon etwas mehr Leidenschaft in der Kirche. Ich jedenfalls denke, dass nicht immer alles friedlich und höflich sein muss. Ein Kommunikationspsychologe (Friedemann Schulz von Thun) hat einmal gesagt: „Zu friedlich und zu höflich, das ist »friedhöflich«: Da ist keine wirkliche Lebendigkeit, keine Streitlust, keine Herzlichkeit.“*
Dabei werden Christinnen und Christen in der Bibel Epheser 4,25-26 aufgefordert: „Sagt zueinander die Wahrheit!“ Also: Seid ehrlich, seid beherzt, streitlustig, lebendig. Ja, seid auch einmal zornig! Nur: „Wenn ihr in Zorn geratet, versündigt euch nicht.“ Also ganz sicher keine Ohrfeigen. Das ist, wie gesagt, auch gut.
„Versündigt euch nicht“. Was das bedeutet, wenn man doch beherzt und sogar zornig sein kann, das wird in der Bibel dann zum Glück auch erklärt: Versündigt euch nicht, sondern „versöhnt euch wieder und lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“ Das ist gut. Sich intensiv, mit Herzblut auseinandersetzen, aber dann beieinanderbleiben, sich auch wieder versöhnen.
Schießen und dann wegrennen, Shoot and Run, das ist leider viel zu oft die einzige Art, wie Menschen miteinander streiten. Jemand schreibt einen bösen Kommentar und verschwindet dann, eine andere beschimpft beim Verlassen des Ladens noch die Verkäuferin und dampft dann ab. Mit Herzblut streiten heißt für mich: Du bist es mir wert, mich mit dir auseinanderzusetzen, damit wir beieinanderbleiben. Wenn ich das nicht will, kann ich mir den Streit auch sparen.
Der Bischof Nikolaus von Myra hat später, soweit wir wissen, niemanden mehr geohrfeigt. Er war aber auch weiterhin mit viel Herzblut an Auseinandersetzungen beteiligt. Recht so. Wir brauchen Leidenschaft. In diesem Sinne einen lebendigen, vielleicht sogar streitlustigen Nikolaustag, und, wenn es nötig ist, Versöhnung, und dann eine Nacht ohne Zorn.
*https://www.schulz-von-thun.de/files/Inhalte/PDF-Dateien/Interviews/Interview%20Wahrheit%20beginnt%20zu%20zweit.pdf
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38903Amir hat vor Kurzem seine Ausbildung abgeschlossen. 2016 ist er nach Deutschland gekommen. In Pakistan wurde er verfolgt, weil er nie der Ehemann einer Frau werden wird. Und jetzt hat er hier bei uns eine Berufsausbildung abgeschlossen! Für mich ist das eine gute Nachricht. Gute Nachrichten sind wie Lichtstrahlen im grauen Alltag. Amir hat Geld verdient in einem Restaurant, hat parallel dazu an der Sprache gearbeitet und schließlich ein Onlinestudium begonnen. Jetzt hat er seinen Abschluss und arbeitet für eine IT-Beratungsfirma. Die Geschichte von Amir ist für mich ein Lichtstrahl.
Ich brauche solche Lichtstrahlen im Alltag, gute Nachrichten, dass etwas klappt. „Das Licht der Sonne sehen zu können, bedeutet Glück und Freude“, so steht es in der Bibel einmal Sprüche 11,7.
Die Geschichte von Ilse ist auch so eine Geschichte, die Licht verbreitet. Sie muss um die 80 Jahre alt sein und ich sehe sie mit ihrem Stock langsam durch die Stadt gehen. Immer wieder bückt sie sich, hebt hier einen Schnipsel auf und dort eine Dose und verfrachtet alles in Mülleimer, dorthin, wo es hingehört. Ilse macht das nicht aus Wut über die Menschen, die ihren Müll einfach fallen lassen, egal, wo sie gerade sind. Ilse will einfach ihren Beitrag dazu leisten, dass die Stadt etwas sauberer ist. Und so zieht sie ihre Runden. – Wenn ich Ilses Geschichte erzähle, habe ich das Gefühl, Sonnenlicht zu verbreiten. Das will ich. Schwarze Löcher, die alles Gute in sich verschlucken, gibt es schon genug.
Wir alle brauchen gute Nachrichten, Kleinigkeiten und auch ganz großartige Geschichten. Vor Kurzem bin ich Stefan Lösler begegnet. Er ist ein Athlet, der bei Europameisterschaften, Weltmeisterschaften und den Paralympics in gleich zwei Disziplinen im Sommer und im Winter angetreten ist: Para-Triathlon und Para-Snowboarden. Seine Geschichte ist ein Lichtstrahl, denn er hat nicht aufgegeben, nachdem ein betrunkener Autofahrer mitten in der Nacht auf sein Auto aufgefahren ist. Stefan Lösler stand am offenen Kofferraum seines Wagens, wurde zwischen den Stoßstangen eingeklemmt und verlor so sein linkes Bein ab dem Knie. Ich bin so froh, dass ich seine Geschichte erzählen kann. Er hat nicht aufgegeben!
Wir alle können wählen, ob wir heute Sonne oder Schwarzes Loch sind. Sind Sie ein Mensch, der alles Gute in sich verschluckt, oder verbreiten Sie gute Nachrichten? „Das Licht der Sonne sehen zu können, bedeutet Glück und Freude.“ – Heute ist eine gute Gelegenheit, gute Nachrichten zu verbreiten. Licht. Das brauchen wir alle.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38902„Die Kirche muss sich immer überall einmischen, deshalb bin ich ausgetreten“. Der Mann, der das sagt, ist etwa so alt wie ich und Prokurist eines mittelständischen Unternehmens. Er spricht weiter: über die Linkslastigkeit der Kirche und über Stellungnahmen zur Asylpolitik. Ich höre ihm zu. Manchmal muss man einfach auch Dampf ablassen.
Und viele denken ja so wie er. Die Kirche soll einfach tun, wofür sie da ist: Sie soll im Verborgenen die wesentlichen Werte vermitteln. Auch mein Gegenüber sagt: „Ich habe meine Kinder damals in die Kinderkirche geschickt, damit sie dort die zehn Gebote kennenlernen. Ist ja auch wichtig.“ Aber die Kirche soll es dabei belassen und sich nicht weiter einmischen.
Ich sehe das ganz und gar anders. Jesus sagt den Menschen, die an ihn glauben: „Ihr seid das Salz der Erde!“ Matthäus 5,13 – Und Salz hat schon seit Urzeiten eine doppelte Funktion: Es ist Würze - und es macht haltbar. Ohne Bild gesprochen: Werte zu vermitteln und zu stärken, ist eine wesentliche Aufgabe der Kirche. Sie soll erhalten, was gut ist, soll konservieren, ist also konservativ im besten Sinne des Wortes. Christliche Glaubensgemeinschaften sollen zeigen, was gut ist. Und seien es die Zehn Gebote. - Man kennt doch meistens nur ein paar ausgewählte und weiß vor allem das erste Gebot nicht mehr: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Ja, Salz sein bedeutet, dass solche alten, bleibenden Werte erhalten und weitergegeben werden. Es lohnt sich, an dem einen Gott festzuhalten.
Aber Konservieren ist eben nur eine Funktion. Salz mischt sich ein und wirkt als Geschmacksverstärker. Salz verstärkt, betont, hebt hervor. Man merkt, wenn es da ist. Und man merkt, wenn Salz fehlt. Ohne Bild gesprochen: Es ist die Aufgabe von Kirche, das zu verstärken, was sie als richtig erkannt hat, und es ist Aufgabe der Kirche, das deutlich hervorzuheben, was schiefläuft.
Es ist ihr Auftrag, nicht nur die Kinder zu lehren, dass es heißt: „Du sollst nicht töten“. Sie muss auch den Erwachsenen sagen: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“
Und wenn das stimmt, was wir stärkend und bewahrend von Generation zu Generation weitergeben, dann können wir Kirchen und christlichen Glaubensgemeinschaften gar nicht anders als uns einzumischen. Denn wir glauben an den einen Gott, neben den wir nichts gleichberechtigt stellen. Und der sagt uns: Ihr seid das Salz der Erde. Dieses Salz soll nicht kraftlos sein, sondern bewahren und sich einmischen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38901Es war letztes Jahr, mitten im Advent. Ich stehe am Postschalter und rege mich auf, weil ich lange warten muss. Ich hab’s außerdem ziemlich eilig und die Päckchen sollen ja rechtzeitig vor Weihnachten ankommen. Ich bin gestresst, getrieben – und eigentlich sauer auf mich, dass ich so bin.
Jetzt ist wieder Advent. Morgen zünde ich die erste Kerze am Adventskranz an. Die Situation am Postschalter vom letzten Jahr fällt mir pünktlich zu Beginn der Adventszeit wieder ein. Vielleicht auch deshalb, weil mir das so oder ähnlich immer wieder passiert. Eigentlich wäre ich in solchen Stress-Momenten viel lieber gelassen. Weil ich sie ohnehin nicht ändern kann. Und weil sie mich Kraft kosten. Völlig unnötig. Damals habe ich mit einer Seelsorgerin darüber gesprochen, wie ich mich erlebt habe.
Ihre erste Frage war: „Sind Sie bereit für ein Experiment?“ Ich lasse mich darauf ein und bin überrascht. Ich soll die Situation zunächst genau so nehmen, wie sie war. In diesem Fall bedeutet das: bewusst erleben wie getrieben ich mich gefühlt habe und wie atemlos ich war. Ohne das zu bekämpfen und schrecklich zu finden. Das ist schwierig. Denn viel lieber will ich ja eben nicht fühlen, wie gestresst ich bin. Umso erstaunlicher, was ich dabei erlebe: Wenn ich zulassen kann, was ist, ohne das zu bewerten, werde ich schon ruhiger. Ich kann tief durchatmen und bei mir ankommen. Schon nach wenigen Minuten habe ich wieder fühlen können, dass ich mehr bin als diese Frau, die gerade gestresst und erschöpft am Postschalter steht. So als wäre ich aus einem engen, dunklen Raum durch eine Tür gegangen in einen anderen Raum, der grenzenlos ist, hell und still. Ich habe Abstand gewonnen zu der gestressten Frau. Und dieser kleine Abstand hat genügt, um ruhig zu werden und mich wieder lebendig zu fühlen.
Ich nenne diesen hellen Raum meine Mitte. Ich gelange zu ihm, wenn ich Situationen genau so nehme, wie sie sind. Es ist ein Raum in dem ich einverstanden bin mit mir. Es ist ein Raum, in dem ich erlebe, dass Gott in meinem Leben, in mir selbst da ist. Und dieses Ankommen bei mir selbst und bei Gott ist zutiefst adventlich.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38836Mein Adventskranz hat rote Kerzen. Jedes Jahr. Weil mir die Kombination aus Rot und Grün am besten gefällt. Der erste Adventskranz, den es jemals gab, sah ganz anders aus. Er ist auf einem alten Wagenrad entstanden und hatte nicht vier, sondern 24 Kerzen. Johann Hinrich Wichern hat ihn erfunden. Er war vor fast 200 Jahren evangelischer Pastor in Hamburg. Und hat dort für Kinder und Jugendliche aus den Armenvierteln Hamburgs eine Wohngemeinschaft gegründet. Er hat daran geglaubt, dass jeder Mensch von Gott gewollt und geliebt wird. Dass sich jedes dieser Kinder in seiner Wohngemeinschaft gut entwickeln wird, wenn es in einer liebevollen Umgebung aufwächst. Pastor Wichern hat Licht in das Leben von vielen Kindern gebracht. Dass er den Adventskranz sozusagen erfunden hat, ist einfach nur passend und eine echte Adventsgeschichte. Wie alle Kinder, bis heute, haben sich auch seine Kinder damals auf Weihnachten gefreut. Sie haben den Pastor oft gefragt, wie viele Tage es noch dauert bis zum Heiligen Abend. Deshalb ist er auf die Idee gekommen, ab dem 1. Dezember jeden Tag eine Kerze anzuzünden und den Kindern zu sagen: Weihnachten ist, wenn alle 24 Kerzen brennen.
Während es draußen immer dunkler wird, wird es drinnen mit jeder Kerze heller. Genau das passiert auch bei mir im Klassenzimmer. 24 Kerzenständer stehen ab dem 1. Dezember auf dem Tisch in der Mitte des Klassenzimmers. Aus Brandschutzgründen müssen es kleine LED Lichtlein sein. Morgens um acht zünden wir jeden Tag ein Licht mehr an und erleben, wie es im Klassenzimmer immer heller wird. Dazu darf immer ein Kind sein Adventssäckchen aufmachen. Dort findet es neben kleinen Leckereien ein Kompliment. Gute Worte, die dem Kind sagen, was wir an ihm schätzen und mögen. Alle Kinder sind gespannt, was da steht und immer leuchten die Augen. Denn da stehen Sätze wie: „Du hast eine gute Seele“ oder „Wir finden toll, dass du niemanden ausgrenzt“. Sätze, die davon erzählen, wie jedes Kind dazu beiträgt, dass unsere Gemeinschaft im Klassenzimmer gelingt. Es sind gute Worte, bei denen es den Kindern und mir warm um’s Herz wird. Und wir erleben, was mit dem inneren Licht gemeint ist, das in jedem Menschen wohnt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38835Putzen kann jeder. Sagt man so. Seitdem Frau Kara nicht mehr unser Klassenzimmer putzt, mache ich andere Erfahrungen. Frau Kara hat ihre Arbeit gerne gemacht. Sie hat gewusst, dass ihre Arbeit wichtig ist. Mindestens fünf verschiedene Männer und Frauen haben nach ihr den Job gemacht. Mehr oder weniger. Zuletzt ein Mann, mit dem ich mich kaum verständigen konnte. Er hat die Mülleimer geleert, die Papierhandtücher und den Seifenspender aufgefüllt. Hat sich bemüht. Das habe ich gesehen. Er hat den Boden nass gewischt aber dabei den Dreck eigentlich nur verteilt. Der junge Mann hat unglücklich auf mich gewirkt. Ich habe mich gefragt, wie er wohl lebt? Ob seine Familie in der Nähe ist? Was er in seiner Heimat gemacht hat? Gleichzeitig war ich stinksauer. Soll ich jetzt auch noch selber das Klassenzimmer putzen? Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Stadt keine Reinigungskräfte findet, die ihre Schulen ordentlich putzen. Leider ist es so. Weil kaum jemand diese Arbeit gerne macht. Sie ist hart, nicht gut bezahlt und, gesellschaftlich wenig anerkannt.
Dass es auch anders geht, zeigt eine Initiative in Berlin. Katharina Florian hat eine „Kehr-Revolution“ gestartet. Wertschätzung für Reinigungsarbeiten ist ihr Motto. Das wirkt sich auf die Bedingungen aus, unter denen die Frauen und Männer bei kehrwork1 arbeiten. Reinigungskräfte werden fest und sozialversichert angestellt. Sie erhalten einen fairen Lohn. Kehrwork als Firma ist zudem Teil eines politischen Netzwerks. Mitarbeiter*innen werden unterstützt, wenn sie einen Sprachkurs brauchen, psychosoziale Beratung oder eine Rechtsberatung. Katharina Florian ist eine Vorreiterin wenn es um soziale Nachhaltigkeit geht. Sie sagt: „Ich will versuchen herauszufinden, wie bereit wir als Gesellschaft sind, sozial nachhaltige Arbeitsverhältnisse zu schaffen in Bereichen, die wenig anerkannt und doch so wichtig sind.“
Tübingen ist weit weg von Berlin. Und ganz sicher arbeitet die Stadt Tübingen mit Reinigungsfirmen, die ihre Arbeitskräfte sozial versichert und fest angestellt haben. Aber das reicht nicht. Mir gefällt das Modell von Frau Florian: Menschen brauchen Anerkennung für das, was sie tun. Und sie haben Bedürfnisse, für die sie manchmal die Hilfe anderer brauchen. Wenn wir Reinigungskräfte auch so wahrnehmen, dann wäre es am Ende ein Gewinn für beide Seiten: Die Reinigungskräfte und die Klassenzimmer in unseren Schulen.
1 Kehrwork.de/bist-du-bereit-für-die-kehrrevolution
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38834Der Krieg im Nahen Osten beschäftigt mich. Jeden Tag. Ich war vor 18 Jahren zu einer Studienreise in Israel. Und habe hautnah erlebt, wie verhärtet der Konflikt ist. Sowohl im Gespräch mit Juden als auch im Gespräch mit Palästinensern habe ich so viel Schmerz und Trauer erlebt. In Tel Aviv habe ich einen Mann getroffen der durch einen Selbstmordattentäter der Hamas seine ganze Familie verloren hat. In Ostjerusalem habe ich eine palästinensische Familie kennen gelernt, deren Haus von Israelis platt gewalzt wurde. Es war schrecklich. Dass es trotz allem immer noch viele Juden und Palästinenser gibt, die friedlich miteinander leben, ist bemerkenswert.
Auf dieser Studienreise damals habe ich Jehuda Bacon kennengelernt. Er hat den Holocaust überlebt, ist inzwischen 94 Jahre alt und lebt noch immer in Jerusalem. Nie wieder hat mich eine Begegnung mehr beeindruckt. Er war 13 als seine ganze Familie in deutschen Konzentrationslagern umgebracht worden ist. Bis heute erinnert er sich an alles, was er erlebt hat und spricht darüber. Ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe, ohne Hass. Wie er das geschafft hat? Er sagt, dass er damals begriffen hat: Unrecht geschieht immer an Menschen. Ganz gleich ob Israeli oder Palästinenser. Außerdem: Hass bringt uns nicht vorwärts und gibt auch keinen Sinn im Leben. Ein Buch über die Geschichte von Jehuda Bacon trägt den Titel: „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“ Als Christin und geboren als Deutsche nach 1945 habe ich mich längst entschieden: Mit Gewalt, Hass und Rache will ich keine Konflikte lösen. Das leitet mich bis heute. Auch bei meiner Arbeit in der Schule. Jeden Tag arbeite ich mit Kindern daran, wie wir Konflikte lösen können. Dass wir einen Streit verstehen und schauen, wer welchen Anteil daran hat. Wer wen um Entschuldigung bitten muss und gegebenenfalls für eine Wiedergutmachung sorgen muss. Dabei erlebe ich, wie viel Zeit und Energie wir auch für kleine Konflikte brauchen, wenn z.B. jemand ein anderes Kind beleidigt hat. Weil er dessen Namen veräppelt hat. Und sehr oft erlebe ich, dass die Kinder merken und spüren: Es ist befreiend, sich eben nicht zu rächen und zu hassen.
Jehuda Bacon, Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Gütersloher Verlagshaus 2016
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