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19APR2024
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Wer von Gott und der Welt verlassen, also Gott los-geworden ist und sich in der Welt nicht recht beheimatet fühlt, den beneide ich nicht. Es lebt sich meines Erachtens schwer mit solchen Leerstellen. Ich beobachte, dass Menschen sich oftmals mit Ersatz begnügen, mit sogenannten Glücksbringern zum Beispiel. 39 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer in Deutschland bezeichnen sich selbst als abergläubisch. Sie erhoffen sich Gutes von vierblättrigen Kleeblättern, tragen ihr Sternzeichen um den Hals oder führen einen Talisman mit sich.

Dadurch fühlen sie sich beschützt und weniger allein. „Ja, er soll mir Glück bringen", sagte mir eine Schülerin, mit Blick auf den kleinen Teddybär, der sie zu ihren schriftlichen Abiturprüfungen begleiten soll, die am Montag beginnen.  

Meinem eigenen, ziemlich nüchternen Weltbild sind solche Vorstellungen eher fremd. Wenn ich mich bewahrt und behütet fühle, ist kein Schlüsselanhänger daran beteiligt. Und wenn der 13. Tag eines Monats auf einen Freitag fällt, denke ich allenfalls an den Spruch meines alten Lehrers, der uns versicherte, für ihn sei das immer ein Glückstag, weil er einst an einem solchen Tag seine Frau kennengelernt habe. Ich bedaure nur, dass mir ansonsten vom Unterricht nicht mehr viel im Gedächtnis hängen geblieben ist. Bis auf einen anderen Spruch, den ich auch ihm verdanke. Es ist ein Zitat des Dichters Emanuel Geibel – um die Mitte des 19. Jahrhunderts der erfolgreichste Dichter seiner Zeit:

"Glaube, dem die Tür versagt,

steigt als Aberglaub' ins Fenster.

Wenn die Götter ihr verjagt,

kommen die Gespenster."

Es genügt offenbar nicht, die Seelenfenster einfach offen stehen zu lassen, wenn man die Kirchentür endgültig hinter sich zugeschlagen hat. Wahrsager, Gurus und Sterndeuter, die  versprechen, die Zukunft vorauszusagen, können Menschen in Abhängigkeiten bringen und Ängste verstärken. Angeblich sind gerade die Menschen, die sich für besonders aufgeklärt halten, anfällig für Seelenfänger und ihre Heilsversprechen.

Dagegen ist der Teddy in der Abi-Klausur harmlos. Falls er nichts nützt, so schadet er wenigstens nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.

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18APR2024
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„Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!", lese ich im Alten Testament beim Propheten Jesaja (5,20).

Es sind so viel böse Worte im Umlauf. Und damit meine ich als Schwabe nicht in erster Linie den Moschdkobf, dia Beisszang oder an Endaglemmr. Solche Worte haben ja meist noch etwas von der Restwärme des Dialekts an sich. Ich meine die kleinen Worte, die Adjektive, die eine Eigenschaft, ein Attribut bezeichnen. Man schreibt sie normalerweise klein –, aber sie haben große Wirkung: Gute Absichten, Sachverhalte, Tatsachen und Verhaltensweisen lassen sich durch ein einziges böses Beiwort zerstören.

Man kann eine vernünftige Forderung als populistisch abtun und dem, der sie sagt damit unredliche Absichten unterstellen. Man kann das Verhalten einer fürsorglichen Mutter als übergriffig abwerten und einen sprachlich gewandten Redner manipulativ nennen. Man kann dem Papst einen primitiven Pazifismus unterstellen und die Forderung nach Gesprächen statt Geschützen zynisch nennen. Die Beispiele lassen sich fortsetzen.

Jesaja und andere biblische Botschafter warnen davor. „Es gibt Menschen, die ruhen nicht, ehe sie jemanden zu Fall gebracht haben", heißt es da (Sprüche 4,17), und Jesaja meint, wer solche Worte benutzt, „sinnt auf Tücke, um Menschen zu verderben mit falschen Worten". Der Edle, so  schreibt er, „hat edle Gedanken und beharrt bei Edlem" (32,7-8).

Edel ist es, beim Urteilen und Verurteilen sachlich zu bleiben und nicht in die Kiste der Bösartigkeit zu greifen. Schenken Sie den kleinen Worten Ihre Aufmerksamkeit. Achten Sie darauf, wer sie wann und wie benutzt. Und wenn Sie solche selbst verwenden, wählen Sie lieber die edlen, statt solche, die nur verurteilen, vernichten und entwerten.

Hinweise:

David Rivkin and Peter Berkowitz: “The Primitive Pacifism of Pope Francis'  Wall Street Journal, vom 13. Dezember 2023

Franz-Josef Bormann, Jahresbericht 2022/23: Kath. Erwachsenenbildung Diözese Rottenburg-Stuttgart,

  1. V. , Seite 32:

https://taz.de/Boris-Palmer-und-die-Coronakrise/!5682102/

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17APR2024
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Es ging um einen Bleistift. Genauer gesagt um einen Hotel-Bleistift, der auf dem Zimmer lag. Diesen Bleistift durften die drei Geschwister im Grundschulalter nach Rückfrage an der Rezeption mit nach Hause nehmen. Es war irgendwie ein ganz besonderer Bleistift, aber er hat den sechs kleinen Kinderhänden nicht lange genug standgehalten, ging kaputt und war die Ursache dicker Tränen, zumal auch noch Grippe im Hause herrschte und alle Kinder krank.

Ersatz war zu beschaffen. Man suchte daraufhin zwar nicht nach einer Stecknadel im Heuhaufen, sondern nach einem Stift im Internet. Da gab es so viele Schreibgeräte wie es Strohhalme gibt auf einem gut gefüllten Heuboden. Nur: Der gesuchte Bleistift war nicht darunter.

Aber fündig wurde man schließlich doch. Nächster Schritt: Kontaktaufnahme mit dem Hotel. Dort hat man in der Direktion und an der Rezeption bekanntlich eine Menge an Problemen und Aufgaben zu bewältigen. Das große Tagungshaus und der anstehende Erweiterungsbau fordern alle Kräfte.

Doch zwei besondere Menschen kümmerten sich dort um einen besonderen Stift. Ob sie wohl geahnt haben, dass es ganz große Kümmernisse gibt, die tief in die Seele einschneiden – und die mit einem Bleistift zu lindern sind? Und so ging ein kleines Paket auf die Reise zu den Kindern.

„Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht …" - so überliefert der Evangelist Lukas Worte von Jesus (Lukas 18,16).

Wer sich ein wenig auskennt mit den Nöten von Kinderseelen – Großeltern oder auch Kindergärtnerinnen und Hotel-Fachleute zum Beispiel –, der kann sich, ganz jesusähnlich,  seinen Mitmenschen zuwenden und ist dienstbar aus Liebe, einer Liebe, die sich hinunterbeugt auf die Augenhöhe von Kindern.

Ich glaube, wer zu einem solchen Blick fähig ist, der erkennt die Kinderseele auch dann in den Menschen, wenn diese schon ganz groß und erwachsen geworden sind. 

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16APR2024
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Kriege morden nicht nur Menschen, sie schänden auch die Schöpfung im Übermaß. Im ersten Kriegsjahr in der Ukraine wurden um die 150 Millionen Tonnen Co2 ausgestoßen – so viel wie in ganz Belgien im selben Zeitraum.[1]) Rüstung und Militär sind für sechs Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Dabei sind die Kriegsfolgen mit ihren katastrophalen Zerstörungen, verheerenden Bränden oder berstenden Staudämmen gar nicht miteingerechnet. Von den kolossalen Umweltbelastungen des Wiederaufbaus ganz zu schweigen. Kriege zerstören ganze Öko-Systeme – die Lebensgrundlage auch für zukünftige Generationen. Sie machen alle Bemühungen um eine intakte Umwelt zunichte und geben die Klima-Ziele der Lächerlichkeit preis.

Geradezu pervers die Bemühungen der Rüstungsindustrie um mehr Nachhaltigkeit: Kampfjets mit tödlichen Waffen an Bord, aber Bio-Sprit im Tank. Panzer – volles Rohr, aber solarbetrieben, Haubitzen mit Öko-Plakette oder was? Mensch und Schöpfung überleben nur, wenn dieses ganze Teufelszeug vom Erdboden verschwindet.

An dieser Stelle schalte ich eine Vermissten-Anzeige: Wo bleiben sie denn, die Umwelt-Schützer und die Aktivisten der „letzten Generation“? Wann endlich demonstrieren sie vor Kasernen und Truppenübungsplätzen? Wann haken sie sich bei den Friedensbewegten unter und machen mit ihnen gemeinsame Sache? Krieg darf um Gottes, um der Menschen und um der Schöpfung willen einfach nicht sein!

Als Christ bewahre ich mir die biblische Vision und bete darum, dass wir „Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln umschmieden“. „Rüstungskonversion“ sozusagen. Davon träumt der Prophet Micha (Micha 4,3) im Alten Testament. Nur so wird am Ende, wie er meint, „ein jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum wohnen können“

Ein Bild des Friedens – für Mensch und Natur.

 

[1]  https://table.media/climate/analyse/russlands-ukraine-krieg-hat-gravierende-klimaauswirkungen/

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15APR2024
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Ich höre die alte Geschichte von Kain und Abel. Manchmal ist mir Kain näher als Abel, weil mir die biblische Erzählung aus dem Alten Testament mehr von seinen Gefühlen mitteilt als von jenen seines Bruders Abel. Ihn erschlägt er aus Neid, weil er sich von Gott weniger gesehen fühlt als Abel, den er bevorzugt glaubt.

Menschen sagen mir, es ist so verdammt schwer auszuhalten, dass es andern fortwährend so gut geht und sie – selbst bei Gott – eine Vorzugsstellung inne zu haben scheinen. Ihnen gelingt alles; ihr Leben ist eine Abfolge bereichernder Erlebnisse, glücklicher Begegnungen, schöner Reisen. –

Ja, das gibt es, und es kann einen bitter werden lassen, wenn man selbst nicht auf der Erfolgsspur unterwegs ist. Muss man sich nicht zu allem Übel auch noch von Gott persönlich benachteiligt fühlen wie Kain? Hat ER die Glücklosen unter uns weniger lieb? – Menschen, von denen das Alte Testament berichtet, mag es so vorgekommen sein.

Aber dann blättern wir weiter in der Bibel und schlagen das Neue Testament auf. Fast jede Seite dort erzählt von Jesus, und seine Lieblinge sind eindeutig: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen“, lese ich im Matthäus-Evangelium (11,28). Unmissverständlich gibt Jesus zu erkennen: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ (Markus-Evangelium 2,17).

Ins Heute übertragen heißt das: Ihr seid eindeutig meine Lieblingsmenschen. Ihr seid mir besonders ans Herz gewachsen. Ich will Eure Belastungen mittragen!

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13APR2024
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Jetzt – nach fast zwei Wochen – habe ich mich so langsam an die Zeitumstellung gewöhnt. Mich nervt die Umstellung von Normal- auf Sommerzeit zwar jedes Mal – aber ich liebe es auch, wenn es abends lange hell ist.

Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, da konnte die Abenddämmerung für mich gar nicht spät genug anbrechen. Denn wenn es dunkel geworden ist, dann ist auch meine Seele immer wieder mal in die Dunkelheit abgetaucht. Und ich bin sicher, das geht vielen Menschen ähnlich: Anstatt zur Ruhe zu kommen, fangen die Gedanken an, zu kreisen: Was ist liegen geblieben? Was ist morgen zu tun? Wo weiß ich nicht weiter? Abends stapeln sich ihre Sorgen im Kopf und manche begleitet das sogar bis unter die Bettdecke. Wer nachts nicht schlafen kann, weil die Gedanken kreisen, der hat wirklich eine finstere Nacht.

Am nächsten Morgen ist das Gefühl meistens wieder verflogen. Es wird hell, und bei eine Tasse Kaffee oder Tee sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich bin immer froh, wenn mir ein neuer Tag auch neuen Schwung gibt. Bei Licht betrachtet sind meine Probleme auch nicht größer als die, anderer Leute, und ich fürchte, ich nehme sie manchmal einfach zu wichtig. Und trotzdem: Abends sitze ich wieder da und grüble.

Ich ärgere mich darüber, denn eigentlich weiß ich es ja besser. Anstatt auf das zu starren, was liegen geblieben ist, sollte ich lieber an das denken, was mir gelungen ist. Vielleicht ist das gar nicht viel. Vielleicht habe ich nur den Müll rausgebracht oder ein bisschen aufgeräumt - aber immerhin. Und warum sollte morgen nicht etwas Gutes auf mich warten? Morgen ist ein neuer Tag. Und ganz sicher geht die Sonne wieder auf.

Es gibt ein Lied im evangelischen Gesangbuch, das nimmt den Abend und den Morgen zusammen in den Blick: „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen“ und darin heißt es:

„Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben den Menschen überm Meer das Licht: und immer wird ein Mund sich üben, der Dank für Gottes Taten spricht.“

Das ist doch ein schöner Gedanke: Wenn es hier langsam auf den Abend zugeht, dann geht irgendwo anders auf der Welt gerade die Sonne auf. Ich stelle mir vor, wie die Menschen aus ihren Betten kommen und sich erst einmal recken und strecken. Bestimmt kocht gerade irgendjemand Kaffee - oder was auch immer dort zu einem Frühstück gehören mag. Irgendwo auf der Welt fängt gerade jemand neu an. Und hier bei mir? - Hier kommt nach einer langen Nacht auch wieder der nächste Morgen. Und ich bin gespannt, was der neue Tag bringen wird.

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12APR2024
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Und ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag. Vielleicht haben Sie heute viel vor. Und vielleicht auch schon Pläne für heute Abend – oder sogar heute Nacht. Ich selbst verziehe mich nach Feierabend aufs Sofa. Aber manchmal, da hat der Tag auch einfach nicht genug Stunden. Und es gibt Leute, die können gar nicht genug unternehmen und sind von früh bis spät auf Achse.

Je älter ich werde merke ich, dass es kein Fehler ist, nach einem langen Tag ein bisschen früher ins Bett zu gehen, um mich richtig zu erholen. Der Start in den kommenden Tag fällt dann viel leichter – und deshalb nehme ich mir das auch immer wieder vor. Allerdings klappt das fast nie. Abends überkommt mich nämlich doch wieder das Gefühl, ich könnte irgendetwas verpassen. Oder ich habe tagsüber etwas vor mir hergeschoben, dass ich abends dann noch erledigen muss. Wäre es nicht doch besser, noch eine Weile am Schreibtisch zu sitzen und eine Aufgabe abzuschließen? Schon heute Morgen fürchte ich, dass mir das wieder passieren wird – und ich abends wieder da sitzen werde – vor dem Computer oder vor dem Fernseher – und es später und später wird und der Mond scheint zum Fenster herein.

Der Mond erinnert mich dann hoffentlich an eins meiner Lieblingslieder: Das berühmte Abendlied von Matthias Claudius: Der Mond ist aufgegangen. Da heißt es in einer Strophe:

„Wie ist die Welt so stille und in der Dämm‘rung Hülle so traulich und so hold / als eine Stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.“

Matthias Claudius vergleicht die Nacht und ihre Dunkelheit mit einer stillen Kammer, einem ruhigen Zimmer. Da drinnen ist es ruhig und friedlich. Ich bin in Sicherheit und darf ganz beruhigt einschlafen. Und den ganzen Trubel der vergangenen Woche, alles, was liegen geblieben ist, das darf ich einfach einmal verschlafen und vergessen. Ich darf mich erholen.

Das sind doch eigentlich schöne Aussichten – auch jetzt schon frühmorgens, wenn der Tag noch jung ist. Er könnte wieder ziemlich voll werden. Und hoffentlich auch spannend und erfolgreich. Meine Arbeit ist mir wichtig und abends will ich auch noch etwas erleben. Aber irgendwann darf dann auch Schluss sein, auch wenn noch nicht alles erledigt ist und nicht alles erlebt habe, was die Nacht zu bieten hat. Die Nacht ist eben auch zum Schlafen da, und die Dunkelheit hüllt mich ein wie eine ruhige und sichere Kammer. Hier kann ich mich beruhigt erholen.

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11APR2024
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Ostern ist noch nicht lange her – das christliche Fest, dass Jesus den Tod besiegt hat und auferstanden ist. Können Sie das glauben? Oder auch andere Glaubenssätze, dass zum Beispiel Jesus Kranke wieder gesund gemacht hat. Können Sie damit etwas anfangen oder solche Erzählung für ihr eigenes Leben deuten?  

Zweifel und auch handfeste Kritik an der Kirche und dem, was sie verkündigt, gibt es nicht erst seit gestern. Eigentlich gibt es die schon immer, von Anfang an, seit es Christen gibt. Und ganz besonders elegant und gekonnt hat Johann Wolfgang von Goethe den Glauben aufs Korn genommen, wie ich finde. Goethe ist einer der berühmtesten deutschen Dichter. Und in seiner Tragödie „Faust“ gibt es eine Szene, in der seine Hauptfigur, Heinrich Faust, zusammen mit einem Gehilfen einen Spaziergang machen. Und zwar im Frühling am Ostersonntag.

Faust ist in dieser Szene allerbeste Laune. Er sieht von einer Anhöhe aus zu, wie die Menschen fröhlich aus der Stadt hinausdrängen – in den farbenfrohen Frühling. Denn – findet Faust – sie haben genug vom dunklen Winter, ihren engen Häusern und von den Zwängen des Arbeitsalltags. Als wären sie selbst auferstanden. Und dann sagt er noch: „aus der Kirchen ehrwürd’ger Nacht / sind sie alle ans Licht gebracht.“

Wie böse! Und wie scharfzüngig: In den Kirchen ist es also zappenduster, und er meint damit: Zappenduster für den eigenen Verstand. Also lieber raus aus den Kirchen, hinein in die Natur, wo es hell ist. Da kann der Mensch selbst denken, seinen eigenen Verstand benutzen und erkennen, wie’s im Leben läuft. So sieht Goethe das also – und reibt es mir als Vertreterin meiner Kirche so ganz nebenbei mal so richtig rein.

Hat er recht? Ja – und nein, wie ich finde. Ja, denn die Kirchen waren im Laufe der Zeit immer wieder wissenschaftsfeindlich. Und nein. Denn in den vergangenen Jahrhunderten haben sie selbst die Wissenschaften auch vorangebracht. Sie haben mit dafür gesorgt, dass alle zur Schule gehen können und selbst nachlesen, was so alles in der Bibel steht.

Mir gefällt die scharfzüngige Kritik von Goethe deshalb gut. Er piekt mich und die Kirchen ein bisschen, damit wir nicht aufhören, nachzufragen und darüber nachzudenken, was der Glaube für unser Leben bedeutet.

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10APR2024
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Vor einigen Jahren habe ich einen jungen Mann kennengelernt – der hatte es wahrlich nicht leicht. Der junge Mann, kaum 19 Jahre alt, musste in eine psychosomatische Klinik eingewiesen werden, weil er magersüchtig war. Magersüchtig war er, weil er kaum etwas essen konnte. Und essen konnte er kaum, weil er sich mit allem, was lebt, auf das engste verbunden gefühlt hat.

Im Gespräch hatte er eine spröde Art. Es mit ihm auszuhalten war nicht leicht einfach, weil man immer das Gefühl hatte, von ihm beurteilt zu werden. Oder besser: als würde man von ihm verurteilt werden: Beim Blumenpflücken als sinnloser Zerstörer von Pflanzen. Bei einem unachtsamen Schritt als Mörder von Schmetterlingen und Ameisen. Und mit jedem Brotkrümel, den man auf dem Teller zurückließ, hatte man Ackerboden um sonst gepflügt, mit Dünger und Pestiziden malträtiert und sowieso die Weizenhalme fürs eigene Überleben ausgebeutet.

Es war nicht leicht mit dem jungen Mann. Aber am aller schwersten war es für ihn selbst. Denn er war ja nicht dumm. Er war auch nicht wirklich arrogant oder besserwisserisch. Er wusste genau, dass das völlig übertrieben war, und dass er ein Recht hatte zu leben und zu essen – auch lebendige Pflanzen. Aber seine übergroße Empathie und sein Mitfühlen mit jeder Kreatur konnte er trotzdem nicht unterdrücken – er konnte einfach nicht anders – aus welchen Gründen auch immer.

Einmal, als er etwas Vertrauen gefasst hatte, sagte er zu mir: „Weißt Du, ich sehe eine Art Kraft um alles, was lebendig ist.“ „Du siehst das wirklich?“, frage ich. „Ja – wie eine Aura, eine Art Leuchten um alles, was lebendig ist.“

Ich habe die große Not und das Leid dieses jungen Menschen niemals vergessen. Ich hoffe und bete, dass es ihm heute gut geht – oder wenigstens besser. Und obwohl sein Mitgefühl und seine Empathie für ihn selbst zerstörend gewesen sind – mir hat er eine heilsame Dosis davon mitgegeben. Und ich denke gern an ihn - an seinen Blick auf die Welt und auf alles, was darin lebendig ist und fühlt und wächst - jedes Mal, wenn ich eine Blume pflücke und dann zu meiner Freude in die Vase stecke oder ein paar Brotkrümel mit der Fingerspitze vom Teller sammle und auf der Zunge schmecke.

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09APR2024
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Vor ein paar Jahren war ich Teilnehmerin bei einer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern. Wir haben uns über das Bild von uns selbst ausgetauscht – über unser Selbstverständnis in unserem Beruf. Und kaum hatten wir angefangen, ging es auch schon los, und die eine hat berichtet, wie unzufrieden sie mit ihren Predigten im Gottesdienst ist. Der nächste: wie er bei Beerdigungen manchmal einfach nicht die richtigen Worte findet. Und der wieder der nächste, wie sehr er unter Zeitdruck steht… Der Leiter unserer Runde hat sich das leise lächelnd eine Weile angehört. Und dann gesagt: „Aber verehrte Kolleginnen und Kollegen – wir sind doch als Christen alle gerechtfertigt.

Ich habe das nie vergessen – auch nicht, wie mich dieser Satz damals aus meinen fest eingefahrenen Gedanken herausgerissen hat. Eine der zentralen Aussagen des christlichen Glaubens: Ich bin gerechtfertigt.

Damit ist nicht gemeint: Wenn ich Mist gebaut habe, dass ich dann eine Rechtfertigung parat habe wie: „Mein Wecker hat nicht geklingelt“ oder „Bus verpasst. Selbst wenn es stimmt und mir wirklich etwas in die Quere gekommen ist und ich deshalb eine Sache nicht ordnungsgemäß erledigen konnte. „Ich bin gerechtfertigt“ meint nicht, dass es einen Grund dafür gibt. Sondern gemeint ist: Ich habe Christus an meiner Seite – und der rechtfertigt mich.

Diesen zentralen Glaubenssatz hat der Leiter unserer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern mitten hineingestellt in unser Nachdenken über uns selbst – und man konnte förmlich spüren, wie fast augenblicklich die Atmosphäre eine andere geworden ist. Als hätte jemand das Fenster geöffnet und frische Frühlingsluft hereingelassen. Als wäre der Druck auf der Schulter eines jeden einzelnen von uns auf einmal weniger geworden.

Ich bin gerechtfertigt. Weil ich getauft bin und zu Christus gehöre. Und der ist mein Fürsprecher vor Gott und lässt mich Mensch bleiben – mit allen meinen Fehlern und Unzulänglichkeiten. Es wird mir trotzdem immer zu schaffen machen und niemals egal sein, wenn ich wieder einmal einen Termin vergesse, eine Aufgabe nicht pünktlich erledige oder sonst hinter dem zurückbleibe, was andere zu Recht von mir erwarten können. Aber gerade dann tut es mir gut, wenn ich mich an die Stimme meines Kollegen von damals erinnere: „Frau Wurz, vergessen Sie nicht: Sie sind gerechtfertigt.“

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