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SWR2 Wort zum Tag

12JUN2020
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Es ist Winter. Irgendwo in Schweden liegt mitten im Wald ein tiefverschneiter Hof. Es ist bitterkalt. Nachts träumen die Tiere in den Ställen vom Sommer. Die Kühe freuen sich auf ihre Weide, die Pferde träumen davon über die Wiesen zu traben. Da schlüpft ein Wichtel zu ihnen in den Stall Tomte Tummetot ist sein Name. Er geht zu den Tieren und spricht zu ihnen. „Geduld nur Geduld, der Frühling ist nah.“

Bei uns ist der Frühling schon lange da und trotzdem geht es mir wie den Tieren in diesem Kinderbuch von Astrid Lindgren. Ich träume von einer anderen Zeit. Viele Corona-Beschränkungen sind inzwischen wieder gelockert worden. Aber trotzdem, je länger es geht, umso ungeduldiger werde ich. Ich sehne mich danach, viele alltägliche Dinge wieder unbeschwerter zu tun. Ich möchte Menschen wieder begegnen ohne ständig auf Abstandsregeln und Hygienevorschriften achten zu müssen. Das ist der Frühling, auf den ich warte.

Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern bis er kommt. Aber dass er kommt, darauf vertraue ich. Und dafür gibt es gute Gründe. In der Geschichte erinnert der Wichtel die Tiere Nacht für Nacht daran, dass der Frühling kommt. Er verspricht ihnen: Das, worauf ihr wartet, wird kommen. Das soll ihnen helfen, geduldig zu sein. Ich brauche auch immer wieder die Perspektive, dass es nicht ewig so bleiben wird. Auch wenn ich nicht genau weiß, wann es soweit sein wird.

Aber der Wichtel macht noch etwas anderes. Er weist die Tiere darauf hin, was sie haben, obwohl ihnen die Freiheit, das Licht und die Sonne des Sommers fehlen. Er sagt ihnen: Ihr steht in einem warmen Stall und habt genug zu essen. Freut euch darüber. Er will ihnen damit nicht die Sehnsucht nach dem Frühling oder dem Sommer nehmen. Aber sie sollen auch nicht vergessen, dass es ihnen trotz allem gut geht. Ich muss mir das ab und zu wieder klar machen.

Auf dem Bauernhof gibt es natürlich auch Menschen. Auch sie besucht der Wichtel bei Nacht. Keiner von ihnen hat ihn je gesehen. Die Kinder wünschen es sich sehr. Aber er kommt erst wenn sie schlafen und wenn sie am Morgen aufwachen, sehen sie nur noch seine Spuren im Schnee. Das Bild gefällt mir und ganz besonders gefällt mir auch, was im Buch noch über die Menschen steht. „In dieser Zeit geben die Menschen Acht, dass das Feuer im Herd nicht ausgeht.“

Im übertragenen Sinn nehme ich mir genau das zu Herzen. Ich werde achtgeben, dass die Beziehungen zu meinen Mitmenschen nicht erlöschen, auch wenn noch eine Weile Abstand geboten ist. Ich halte die Sehnsucht nach Nähe wach und sage mir immer wieder selbst: „Geduld nur Geduld, es kommen wieder andere Zeiten.“

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SWR2 Wort zum Tag

04MRZ2020
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„Vielen Dank“, ruft meine Tochter auf dem Fahrrad. Gerade hat ihr eine ältere Dame auf dem Gehweg Platz gemacht, damit sie sie überholen konnte. Ich sehe wie überrascht die Dame ist und wie sehr sie sich freut. Mit einem so freundlichen Dankeschön hat sie wohl nicht gerechnet. Als Vater freue ich mich, dass sich meine Tochter so höflich bedankt hat. Ich habe es ihr ja auch oft genug gesagt. Gut zu wissen, dass das nicht umsonst war. Aber noch mehr freue ich mich, über die Freude der älteren Dame. Ich stelle mir vor, dass sie etwas glücklicher und zufriedener weitergeht als zuvor. Mir geht das jedenfalls so, wenn Menschen freundlich zu mir sind und mich damit vielleicht sogar überraschen.

Der Soziologe Harald Welzer behauptet: „Es gibt eine Welt, in der die Menschen freundlich miteinander umgehen.“ Der Satz stammt aus seinem Buch „Alles könnte anders sein.“ Darin macht er sich Gedanken, wie eine gute Zukunft aussehen kann. Er hält diese gute Zukunft für durchaus realistisch, trotz der vielen Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen. Er ist davon überzeugt, dass wir Menschen eigentlich über alle Bausteine verfügen. Es liegt an uns, sie richtig zusammenzusetzen.

Einer dieser Bausteine ist, freundlich miteinander umzugehen. Das überrascht vielleicht, weil es erstmal so unbedeutend klingt. Aber ich glaube, er hat Recht. Ich kann mir keine gute Zukunft vorstellen, in der Menschen ständig unfreundlich zueinander sind.

Deshalb beunruhigt mich auch, was ich gegenwärtig wahrnehme. Hass-Kommentare in den Sozialen Medien scheinen normal zu sein, Rettungskräfte werden beschimpft, wenn sie anderen Menschen helfen, mit diskriminierenden Parolen wird erfolgreich Wahlkampf gemacht.

Darüber kann ich lamentieren, weil ich mich machtlos fühle. Dabei kann ich all dem etwas entgegensetzen. Meiner kleinen Tochter ist es auf ihrem Fahrrad gelungen, ein kleines Stück Welt zu erschaffen, in der Menschen freundlich miteinander umgehen. Das kann jede und jeder andere auch.

Wie groß diese freundliche und menschliche Welt heute ist und in Zukunft sein wird, kann ich jeden Tag, in jeder Situation ein kleines bisschen mitentscheiden.

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SWR2 Wort zum Tag

03MRZ2020
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Mit meinem Daumen zeichne ich ein Kreuz auf die Unterseite des frischen Brotes. Das mache ich immer, wenn ich einen neuen Laib anschneide. Ich habe dieses Ritual von meiner Mutter übernommen. Sie hat es von ihrer Mutter und meine Oma vermutlich von ihrer und so weiter.

Es ist nur eine kleine Geste, aber sie lässt mich jedes Mal kurz innehalten.

Das Kreuz als Segenszeichen. Es macht mir bewusst, was ich da in den Händen halte. Brot, das mich und meine Familie ernährt. Das würde es natürlich auch tun, wenn ich das Kreuzzeichen weglasse. Es würde genauso gut schmecken und ebenso satt machen wie ohne diesen kleinen Segen. Aber mir würde etwas fehlen.

Zum einen denke ich in diesem Moment kurz an meine Mutter. Sie ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. In diesem Augenblick erinnere ich mich an ihre Liebe für unsere Familie. Die vielen Brote, die sie für uns geschnitten und geschmiert hat, stehen symbolisch für all das, was sie uns Kindern für unser Leben mitgegeben hat. Ich weiß, dass ich ohne sie nicht der Mensch wäre, der ich bin.

Aber es ist nicht nur die Erinnerung. Das Brot bekommt dadurch einen anderen Wert. Vielleicht verändert der Segen nicht so sehr das Brot, sondern eher mich. Ich bitte um den Segen für das Brot, aber denke dabei an die Menschen, mit denen ich es teile. Meistens ist das meine Familie, manchmal sind es auch Gäste. Immer sind es Menschen, die mir am Herzen liegen. Ich möchte, dass es ihnen gut geht und tue dafür, was ich kann. Aber ich weiß auch, dass vieles nicht in meinen Händen liegt. Wenn ich Gott um seinen Segen bitte, dann geht es darum, mir das bewusst zu machen. Es macht mich bescheidener und demütig.

Und es gibt noch einen weiteren Aspekt. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich mir jederzeit ein Brot leisten kann. Trotzdem möchte ich es wertschätzen; mir klar machen, dass es nicht selbstverständlich ist, genug zum Essen zu haben. Dieser kurze Moment hilft mir, dankbar dafür zu sein.

Nach dem Kreuz, schneide ich die ersten Scheiben ab. Ich atme den Duft des frischgeschnitten Brots ein und freu mich auf eine leckere Mahlzeit.

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SWR2 Wort zum Tag

02MRZ2020
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Seit zweieinhalb Jahren wohnen wir in einem Haus mit Garten. Davor habe ich mich nie viel mit Gartenarbeit beschäftigt. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig. Aber ich mache es gern. Während ich an der frischen Luft bin, habe ich Zeit nachzudenken.

In den letzten Wochen mussten die Sträucher zurückgeschnitten werden. Wie gesagt, ich bin Anfänger. Daher recherchiere ich erstmal im Internet, wie und wann welcher Strauch geschnitten werden muss. Dann geht’s raus in den Garten. Dort stelle ich fest, dass es einfacher geklungen hat als es jetzt aussieht.

Trotzdem lege ich los. Mal beherzter, mal zaghafter, schneide ich die alten Triebe ab, kürze junge um die Hälfte bis ein Drittel, lichte aus und versuche, dem Strauch die richtige Form zu geben. Manchmal habe ich Angst zu viel abzuschneiden. Aber was ab ist, ist ab. Da kann ich nur hoffen, dass wieder genug nachwachsen wird. Letztes Jahr ist es ja auch gut gegangen.

Und während ich das so mache, fange ich an nachzudenken. Ob so ein Garten nicht ein gutes Bild für mein Leben ist. Wenn bestimmte Sträucher über Jahre nicht geschnitten werden, dann verholzen sie mehr und mehr. Es kommen weniger junge Triebe nach. Blätter, Blüten und Früchte werden mit den Jahren immer weniger. Der richtige Schnitt dagegen regt sie zu neuem Wachstum an. Daher sollte man regelmäßig schneiden.

Trifft das nicht auch auf verschiedenen Bereiche in meinen Leben zu? Vielleicht sollte ich da an einigen Stellen auch bewusst die Heckenschere ansetzen und manches Alte abscheiden, damit Neues Platz hat. Ein wenig auslichten, damit ich wieder mehr Luft und Licht habe, um wachsen zu können. Manches wieder in Form bringen, wo sich Wildwuchs und unnötige Seitentriebe gebildet haben. Nicht unüberlegt, aber mutig und konsequent.

Bei der Arbeit gibt es einige Projekte, die auch ohne mich gut weiterlaufen. Wenn ich mich daraus zurückziehe, habe ich wieder mehr Freiraum. Zwanzig Minuten Zeit für einen Spaziergang sollte ich doch irgendwo rausschneiden können. Schön wäre es, die freie Zeit mit meiner Familie bewusster zu gestalten.

In der Theorie klingt das gut. Wie beim Sträucher schneiden, kommt es aber darauf an, auch wirklich loszulegen. Jetzt, im Frühling, damit ich im Sommer die Früchte ernten kann

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SWR2 Wort zum Tag

14DEZ2019
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Jeden Tag eine Viertelstunde Warten. Das habe ich mir für den Advent vorgenommen.

Klar warte ich im Advent auf Weihnachten, aber in dieser Viertelstunde nicht: da warte ich auf Gott.

Die Idee dazu kam mir als ich ein Gebet wieder gelesen habe, das mir lange Zeit sehr wichtig war.[1]Darin heißt es an einer Stelle an Gott gerichtet: „Ich warte auf dich - erwartungsvoll. Dukommstauf mich zu, und ich lasse mich von dir tragen.” Das Gebet wird Dag Hammerskjöld zugeschrieben, der Generalsekretär der Vereinten Nationen war.

Das Gebet ist wie eine Anleitung an mich selbst geschrieben. Ich lese es Zeile für Zeile und versuche es umzusetzen. Ich folge dem Text und setze mich zu Beginn aufrecht und entspannt hin und nehme meinen eigenen Körper wahr. Dann bemühe ich mich mit meiner Aufmerksamkeit ganz da zu sein. In der Regel fallen mir dann alle möglichen Sachen ein, vor allem, was ich noch zu erledigen habe. Dann lese ich die nächsten Zeilen des Gebets: „In diesem gegenwärtigen Augenblick lasse ich alle meine Pläne, Sorgen und Ängste los. Ich lege sie jetzt in deine Hände, Herr. Ich lockere den Griff, mit dem ich sie halte, und lasse sie dir. Für den Augenblick überlasse ich sie dir.“

Manchmal gelingt es mir dann tatsächlich meine Pläne, Sorgen und Ängste loszulassen. Manchmal aber auch nicht. Aber ich mache Fortschritte. Es scheint auch eine Frage der Übung zu sein. Tatsächlich gelingt es mir inzwischen oft besser als am Anfang.

Und dann, wenn ich diesen Schritt geschafft habe, warte ich auf Gott - erwartungsvoll.

Das Gebet schickt mich dazu auf eine Reise nach innen, „zum innersten Kern meines Seins“. Für mich ist das der Punkt, an dem ich ganz bei mir selbst bin, nur dasitze und atme. Dort wohnt Gott, sagt das Gebet mit folgenden Worten: „An diesem tiefsten Punkt meines Wesens bist du, Gott, immer schon vor mir da, schaffst, belebst und stärkst ohne Unterlass meine ganze Person.“

Und dann bin ich einfach für ein paar Minuten still. Ich frage mich, was dann passiert. Kommt Gott tatsächlich auf mich zu? Ich weiß es nicht. Ich erkenne ihn selbst nicht, sondern nur die Wirkung. Wenn es mir gelingt, wirklich zu mir selbst zu kommen, fühle ich mich getragen.

An dieser Stelle könnte das Gebet enden. Aber es geht weiter: Es spricht davon, dass ich wieder die Reise nach draußen antrete und meine Sorgen, Ängste und Pläne wieder aufnehme. Ich übernehme wieder die Verantwortung für meine Zukunft.

Aber es hat sich etwas verändert. Ich bin vertraue darauf, dass Gott mit dabei ist.

 

[1]Der Text des Gebets findet sich in z.T. unterschiedlichen Versionen im Internet z.B. unter https://meditationwestfalen.de/ich-sitze-hier-vor-dir-gott/

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SWR2 Wort zum Tag

13DEZ2019
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Ein junges Paar ist zu Fuß unterwegs. Sie ist hochschwanger. Die beiden haben nur das Nötigste dabei. Gerade so viel, wie sie eben tragen können. Am Zielort angekommen finden sie keine angemessene Bleibe. Irgendwo in einem Unterschlupf kommt das Kind zur Welt. Nur wenig später muss die junge Familie fliehen. Soldaten suchen genau ihr Kind und ziehen durch die Dörfer und töten alle Kleinkinder. Aus Angst um das Leben ihres Babys brechen sie mitten in der Nacht auf. Sie hoffen im Nachbarland sicher zu sein.

So schildern das Lukas- und Matthäusevangelium, was sich rund um die Geburt Jesu ereignet hat. Alle Jahre wieder höre ich diese Geschichte. Ich habe mich an sie gewöhnt. Es ist die Weihnachtsgeschichte, nicht die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Kind unter unwürdigen Umständen zur Welt bringen muss. Der Stall ist mir vertraut aus vielen Krippendarstellungen. Da wirkt er immer warm und gemütlich und das Kind scheint geborgen. Das lässt mich schnell vergessen, dass ein Kind eigentlich nicht in einem Stall zur Welt kommen soll. Und die Geschichte von der anschließenden Flucht. Eher eine Randnotiz, die an Weihnachten keine Rolle spielt.

Bald ist es wieder soweit. Ich freue mich darauf. Noch mehr als ich freuen sich meine Kinder. Sie proben schon fürs Krippenspiel. Auch für sie ist es eine schöne Geschichte und ich glaube, das ist gut so. Mich beschäftigt aber immer mehr, dass sich ganz ähnliche Geschichten täglich in unserer Welt abspielen. Geschichten, in denen es alles andere als schön, warm und geborgen zugeht.

Während ich mich auf Weihnachten vorbereite, geht es Menschen genauso wie Maria und Josef. Sie suchen nach einem Platz zum Leben oder wenigstens zum Schlafen und können keinen finden. Zu vielen Kindern geht es wie dem Kind in der Krippe: Sie kommen an Orten zur Welt, die nicht dafür geeignet sind. Menschen fliehen aus Angst um ihr Leben oder weil sie ein besseres Leben für sich und ihre Kinder suchen. Manche von ihnen sterben auf der Flucht, andere stranden in Flüchtlingslagern. Dort leben sie dann unter katastrophalen Bedingungen und ohne Perspektive.

Ich weiß, dass ich die Welt nicht retten kann und doch will ich es nicht einfach hinnehmen. Ich wehre mich dagegen, mich damit abzufinden. Aber was kann ich tun? Ich spende einen Teil von dem, was ich habe an Hilfsorganisationen. Ich engagiere mich für Menschen, die zu uns geflüchtet sind. Vor kurzem haben wir in einem Requiem der Toten an den EU-Grenzen gedacht, damit ihre Schicksale nicht vergessen werden.

Es sind nur kleine Schritte, manchmal scheinen sie mir viel zu klein. Reicht etwas Kleines aus, um wirklich etwas zu verändern? Ich werde an Weihnachten das kleine Kind in der Krippe fragen.

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SWR2 Wort zum Tag

Ich habe bisher noch keinen Promi beerdigt, aber trotzdem schon viele bedeutende Menschen. In der Regel kenne ich die Verstorbenen nicht und erfahre erst im Trauergespräch von ihren Angehörigen, was für Menschen sie gewesen sind. Mit allem, was die Familie erzählt, entsteht nach und nach ein Bild.

In vielen Fällen spüre ich, wie sehr es die Angehörigen schmerzt, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Im Moment des Abschieds wird ihnen besonders bewusst, was sie ihr oder ihm alles verdanken. Es gibt Gespräche, die vor allem von diesem Schmerz und der Dankbarkeit geprägt sind. Die Konflikte, die es bestimmt auch gegeben hat, spielen keine Rolle mehr. Sie treten in den Hintergrund, werden unwichtig.

Aber es gibt auch ganz andere Gespräche. Da sprechen die Angehörigen manchmal erst zögerlich dann aber auch ganz offen darüber, was schwierig war. Sie berichten, wer sich mit wem in der Familie überworfen hat. Warum es Zeiten gab, in denen der Kontakt schwierig oder sogar zeitweise ganz abgebrochen gewesen ist. Sie sprechen davon, was sie oder andere verletzt und gekränkt hat.

Erstaunlicher Weise tun sie das meistens behutsam, zumindest, was die Rolle des Verstorbenen angeht. Sie bemühen sich zu verstehen, warum die eigene Mutter in manchem anders war, als sie sich das vielleicht gewünscht haben. Weshalb der Vater seine Eigenheiten hatte, die in der Familie regelmäßig für Spannungen gesorgt haben. Sie klagen nicht wütend an und rechnen nicht eiskalt ab. Sie formulieren das sorgsam: „er konnte halt schlecht Gefühle zeigen“, „das war halt ihre Art, mit den Dingen umzugehen.“

Ein lateinisches Sprichwort mahnt: „Über die Toten soll man nur Gutes reden.“ Ich halte das für falsch, wenn es nicht ehrlich ist.

Daher beeindruckt es mich, wenn Angehörige auch über das sprechen, was nicht gut war. Meistens machen sie es vorsichtig und wertschätzend. Das liegt vielleicht daran, dass der Tod den Blick auf das ganze Leben lenkt. Manches Verhalten, über das sie sich in der konkreten Situation maßlos aufgeregt haben, wird auf einmal verständlicher. Manches bleibt vielleicht auch unverständlich, aber irgendwie scheint sich die Perspektive darauf geändert zu haben. Es ist eine Perspektive, in der es ein bisschen besser gelingt zu akzeptieren, dass Fehler, Schwächen und Konflikte zum Leben eines Menschen dazugehören.

Am Ende der Beerdigung verneige ich mich vor dem offenen Grab und verneige mich damit zugleich vor dem Leben dieses Menschen. Ich empfinde dabei großen Respekt und hoffe, dass einer mit mir auf dieses Menschenleben schaut, der alles versteht.

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SWR2 Wort zum Tag

Manchmal, wenn ich nachts wachliege, frage ich mich, ob es Gott wirklich gibt. Ich kenne viele Argumente dafür oder dagegen. Aber all diese Begründungen helfen mir in solchen Momenten nicht weiter. Sie haben ihre Berechtigung, aber ich glaube, die Antwort auf diese Frage liegt auf einer anderen Ebene. Sie kann nicht theoretisch beantwortet werden. Ich muss einen Standpunkt wählen, ohne eine letzte Sicherheit zu haben.

Wenn ich so wach liege und meine Gedanken kreisen, dann komme ich immer wieder an den Punkt, dass letztlich nur Gott mir sagen kann, ob es ihn gibt. Er muss sich mir so zeigen, dass ich vertrauen kann, dass er da ist. Und ich glaube, das habe ich in meinem Leben auch schon erfahren. Manchmal spüre ich eine Kraft, die nicht aus mir selbst zu kommen scheint, oder mir wird ein guter Gedanke geschenkt, der mich in einer wichtigen Frage weiterbringt. In einer Begegnung zeigt sich mir etwas, das mich berührt und verändert. Dann habe ich das Gefühl, dass Gott auf diese Weise zu mir spricht. Aber manchmal scheint er eben auch zu schweigen. Dazu habe ich eine kleine Geschichte geschrieben:

Ein junger Mann fragte den Alten: „Kannst du mir sagen, wie Gott zu dir spricht?“

Da antwortete der Alte: „Gott spricht nicht mit mir, er schweigt.“

„Immer?“

„Immer.“

Dann schwieg der Alte. Und auch der junge Mann schwieg.

Nach einer Weile schien der Alte zu merken, dass der junge Mann ihn etwas fragen wollte, ihm aber die passenden Worte fehlten.

„Willst du wissen warum?“

Der junge Mann nickte.

„Ich weiß nicht warum“, sagte der Alte mit brüchiger Stimme, „der Einzige, der es mir sagen könnte, ist er. Und er schweigt.“

Er machte eine Pause. Der junge Mann sah ihn fragend an.

„Vielleicht“, fuhr er fort, „aber nur vielleicht schweigt er, weil wir uns so vertraut sind. Wenn dir jemand vertraut ist, dann ist seine Gegenwart kostbar, auch wenn er schweigt.“

Der junge Mann schien zu verstehen, was der Alte meinte. Und doch drängte sich ihm eine Frage auf.

„Aber wenn er immer schweigt, zweifelst du dann nicht manchmal, ob es ihn überhaupt gibt?“

„Nein“, sagte der Alte und lächelte. „Wenn es ihn nicht gibt, wer ist es dann, der mit mir schweigt?“

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SWR2 Wort zum Tag

Vom Journalisten und Schriftsteller Carl von Ossietzky stammt folgendes Zitat: „Wir leben inmitten einer großen Evolution: es kehrt so etwas wie ein europäisches Bewußtsein wieder. Man schämt sich nicht länger, öffentlich auszusprechen, daß die Menschheit weiter reicht als die Fahnen des Landes.“ [1] Heute jährt sich Ossietzkys Todestag. Der Träger des Friedensnobelpreises ist von den Nationalsozialisten früh festgenommen und in verschiedenen Konzentrationslagern interniert worden. Er starb am 4. Mai 1938.

Das Zitat stammt aus einem Artikel, den er im bereits im Juli 1918 veröffentlicht hat. Der Erste Weltkrieg mit all seinen unzähligen Opfern neigt sich dem Ende entgegen. In dieser Zeit spürt der Pazifist Ossietzky, dass sich die geistige Atmosphäre im Land wandelt. „Schüchtern durch die Hintertüre tritt die Menschlichkeit wieder ein“[2], so schreibt er. Hellsichtig erkennt er aber auch: Frieden hängt nicht allein von ein paar Staatsverträgen ab. Es braucht Menschen, die Frieden und Verständigung wollen und sich aktiv dafür einsetzen. Er hofft, dass diese Überzeugung sich in Europa durchsetzen wird. Damals kann er noch nicht ahnen, dass noch ein Zweiter Weltkrieg – ausgehend von Deutschland - Europa heimsuchen wird. Erst nach diesem verheerenderen Krieg beginnt tatsächlich ein tragfähiges europäisches Bewusstsein zu wachsen und wirksam zu werden.

Ossietzky hat diese Zeilen vor über hundert Jahren geschrieben. Wenn ich heute auf Europa blicke, beschleicht mich die Angst, dass sich inmitten des europäischen Bewusstseins gerade wieder eine Evolution vollzieht. Sie weist in die entgegengesetzte Richtung. Denn in ganz Europa werden die Stimmen lauter, für die das Wohl und die Interessen der eigenen Nation an erster Stelle stehen. Sie glauben, dass nur dadurch Frieden und Sicherheit zu gewährleisten ist. Menschlichkeit, die weiter als die eigene Fahne reicht, wird dabei entweder stillschweigend durch die Hintertüre verabschiedet oder lautstark über Bord geworfen. Die europäische Idee beschränkt sich darauf, Europa als eine Festung auszubauen.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sie erhielt den Preis 2012, weil sie sich über Jahrzehnte für Frieden und Versöhnung eingesetzt hat.

Ich habe das Glück zu einer Generation zu gehören, für die der Slogan „Nie wieder Krieg zwischen europäischen Staaten!“ nicht nach einer fernen Utopie klingt, sondern normal ist. Wie Ossietzkys bin ich zutiefst überzeugt: Dieses Gut kann nicht allein durch Staatsverträge gesichert werden. Es hat nur Bestand, wenn es ausreichend Menschen gibt, die sich aktiv für diese europäische Friedensidee einsetzen



 

[1]Carl von Ossietzky, Wandlung der geistigen Atmosphäre in: Monatliche Mitteilung des Deutschen Monistenbundes, Juli 1918. Online abrufbar: https://gutenberg.spiegel.de/buch/ein-lesebuch-fur-unsere-zeit-6370/6
[2]Ebd.

 

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SWR2 Wort zum Tag

Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, ein Kinderzimmer dazu ein winziges Bad und eine schmale Küche. Nicht viel Platz für eine sechsköpfige Familie. Immer wenn ich für längere Zeit in Syrien war, habe ich die Familie meines Freundes Boulos in Aleppo besucht. Bashar, sein kleiner Bruder, war damals ein stiller, schüchterner Junge, vielleicht 10 oder 12 Jahre alt. Oft hat er auf dem Sofa neben mir gesessen und mich, den Fremden, mit großen interessierten Augen angeschaut. Wenn ich ihn angesprochen habe, hat er verlegen gelächelt, ohne viel zu reden. Von Zeit zu Zeit ist er dann auf den Balkon verschwunden, um nach einigen Minuten wiederzukommen. Ich weiß nicht genau, was er dort gemacht hat – vermutlich nichts. Ich glaube, es war einfach nur sein Rückzugsort. Der Balkon war wie die Wohnung. Winzig. Vielleicht vier Meter lang und nicht mehr als einen halben Meter breit. Über die ganze Länge gespannt die Leinen voller Wäsche. Durch sie hindurch blickte man auf die Front des gegenüberliegenden Hauses. Von unten hörte man den Lärm der kleinen Seitenstraße. Eigentlich nicht gerade ein idyllisches Refugium.

Ich musste vor kurzem wieder an Bashar denken, als ich abends auf meinem Balkon gestanden bin. Vor dem Schlafengehen war ich noch einmal kurz nach draußen gegangen, um Abstand von meinem Tag zu bekommen. Meine Tage sind zurzeit voll, zu voll. Ich sehne mich nach Rückzugsorten; nach Unterbrechungen, um Atem zu holen und Kraft zu tanken.

Ich glaube, dass diese Unterbrechungen nötig sind, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen, ohne ausgelaugt zu sein. Notwendig sind sie aber auch, um Abstand von den Dingen zu gewinnen und manches nicht ganz so wichtig zu nehmen. Wenn ich an Bashar und seinen Bruder Boulos denken, dann werden meine Sorgen relativiert. Beide haben die Wohnung ihrer Eltern in Aleppo schon lange nicht mehr gesehen. Sie sind aus Syrien geflohen und leben seitdem im Libanon. Dort kämpfen sie ums Überleben und um eine Perspektive für ihre Zukunft. Es erschreckt mich manchmal, wie schnell ich ihr Schicksal vergesse, wenn meine Alltagssorgen mich zu sehr in Beschlag nehmen. Auch wenn ich ihnen von hier aus wenig helfen kann, will ich zumindest an sie denken. Aber dazu brauche ich eben manchmal eine Unterbrechung.

Von Bashar kann ich lernen, dass ein paar Schritte auf einen engen Balkon ausreichen können. Es braucht nicht immer den perfekten Ort. Es muss nicht mal ein Balkon sein. Das Einzige, was nötig ist, ist die Entscheidung, mir diese paar Minuten Zeit zu gönnen. Ein paar Schritte Abstand gewinnen. Den Alltagstrott für einen Moment unterbrechen, um mich wieder neu den Dingen des Lebens zuzuwenden.

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