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SWR2 Wort zum Tag

04APR2022
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„Wenn das mein Vater und meine Mutter noch einmal erleben müssten“, sagt eine über 85jährige alte Frau zu mir. Und dann erzählt sie mir, wie sie als kleines Kind den zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung erlebt hat, und dass nun auf einmal all das wieder da ist: Wie sie mit Pferd und Wagen über die zugefrorene Weichsel sind, während andere einbrechen und immer wieder Tiefflieger kommen.

Auch wer diese Zeit nicht selbst erlebt hat: die Geschehnisse in der Ukraine machen betroffen. Erschüttert sehen wir die Bilder von Krieg, Zerstörung und Gewalt. Menschen in Kellern, auf der Flucht. Die Frau, die weinend vor den Trümmern ihres zerbombten Hauses steht, ihr kleines Kind an der Hand.

Und das, weil ein Diktator einem Land, einem Staat und seinen Menschen das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur abspricht, sondern mit Gewalt nehmen will. Brutal und herzlos.

Von einem Tag auf den anderen hat sich die Welt verändert. Wer hätte das vor kurzem je gedacht? Es ist Krieg. Mitten in Europa. Und wir sind davon betroffen. In jeder Hinsicht: Von dem ungeheuren Leid, das wir sehen und hören. Von der unsäglichen Ohnmacht, die wir dabei spüren. Vielleicht auch von der eigenen Leichtgläubigkeit und Blindheit, die uns nicht hat sehen lassen, dass so etwas möglich sein könnte. Und der wir uns, seien wir ehrlich, nur allzu gern hingegeben haben. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ja, wir sind betroffen.

Doch allein unsere Betroffenheit zu äußern, das reicht nicht. Nicht im Blick auf die Gefahr, dass dieser Krieg zum Flächenbrand werden kann. Und auch nicht im Angesicht der Flüchtlinge, der vielen Mütter und Kinder, die ihre Heimat verlassen müssen und nicht wissen, wo sie unterkommen sollen und wie es überhaupt weitergehen soll mit ihnen und ihren Kindern.

 „Mich würde es nicht mehr geben, wenn wir damals nicht so viel Hilfe und Unterstützung bekommen hätten“, sagt die alte Frau. „Dafür bin ich Gott dankbar. Und auch den Menschen, die uns damals geholfen haben. Darum spende ich für die Flüchtlinge. Viel mehr kann ich in

Jesus hat einmal gesagt: Was ihr andern tut, das habt ihr mir getan. Ihr habt mich besucht, mir Nahrung und Kleidung gegeben, ihr habt mir Unterschlupf gewährt.“ Das erlebe ich gerade in überwältigender Weise im Land. Da sind so viele, die spenden, helfen, Unterkunft bieten, beistehen, trösten. So dass Menschen in ihrer Not auch sagen können: Gottseidank, dass wir das erleben dürfen.

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SWR2 Wort zum Tag

09FEB2022
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Ich habe jetzt gerade überhaupt keine Zeit, sagt Stefan. Lass uns einen Termin ausmachen. Dann haben wir ein Zeitfenster dafür. Ruf mich an! Und schon ist er weg. Eigentlich wollte ich ihn nur kurz fragen, ob er am nächsten Donnerstag nach der Sitzung noch Zeit hätte, um ein paar Organisationsfragen zu besprechen.

Ich stelle fest, es ist gar nicht so einfach mit den Terminen und dem Umgang mit der Zeit. Und wenn ich ehrlich bin, ist es bei mir nicht viel anders. Wenn ich in meinen Outlook-Kalender sehe, ist er voll von Terminen, Projekten, Seelsorgegesprächen und Besprechungen. Lauter Balken, die eng aneinander gereiht sind.

Ein Blick in die Bibel zeigt mir, dass offensichtlich auch Gott einen Kalender gehabt hat, als er sein Megaprojekt „die Erschaffung der Welt“ durchgeführt hat. Wenigstens haben es sich jene Menschen so vorgestellt, die es vor über zweieinhalbtausend Jahren so aufgeschrieben haben. Sieben Zeitfenster für 7 Tage. Alles genau getaktet.

Aber nicht nur im Blick auf die Arbeit. Am Ende eines jeden Tages hat Gott innegehalten: und sah, dass es gut war. Ein kleines, aber wichtiges Zeitfenster für eine Evaluation. Und ganz am Ende der Woche steht ein dickes Zeitfenster nur für Ruhe und Erholung in diesem Kalender: Und Gott ruhte am siebten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.

Ich stelle fest, da hat sich einer etwas dabei gedacht. Alles braucht seine Ordnung. Auch Arbeit. Und auch Erholung. Und dafür braucht es festgelegte Zeitfenster. Sonst ist und wird es im wahrsten Sinne des Wortes nicht gut. Für die Arbeit nicht und für einen selbst auch nicht.

Das ist das eine. Das andere ist, dass man klärt, welche Termine wann wichtig sind und welche nicht. Jemand hat einmal gesagt: ein Termin ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage der Entscheidung.

In diesem Sinne gestalte ich jetzt meinen Outlook-Kalender. Mit verschiedenfarbigen Arbeitsbalken. Und vor allem mit grünen Zeitfenstern für Pausen, Innehalten, einen freien Abend, privaten Terminen mit Familie und Freunden. Damit habe ich im Blick auf meine Work-Life-Balance doch eine gute Aussicht. Das ist auch die deutsche Übersetzung von outlook.

Und mit Stefan werde ich nicht nur einen Besprechungstermin vereinbaren, sondern ein weiteres Zeitfenster, an dem wir einfach mal ein gutes Glas Wein zusammentrinken.

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SWR2 Wort zum Tag

08FEB2022
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Ich sehe ihn noch vor mir, wir er mir am Tisch gegenüber sitzt. Ein alter Mann mit weißen Haaren, der seinen 85. Geburtstag feiert. Immer noch erstaunlich rüstig. Mit wachen Augen und regem Geist. Wir unterhalten uns über das hohe Alter und die vielen Jahrzehnte, auf die er nun zurückblicken kann. Und dann sagt er diesen Satz: Als ich ein junger Mann war, dachte ich, das Leben wäre ein langer Marathon. Heute weiß ich, es war ein kurzer Sprint.

Seitdem, ich war Anfang 20 und Zivi in seinem Seniorenheim, habe ich diesen Satz im Gedächtnis behalten. Damals lag das, was dieser alte Mann mir an seinem Geburtstag gesagt hat, weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Heute, mit Mitte fünfzig, muss ich feststellen, es ist so. Auch für mich. Gestern noch Vater eines kleinen Jungen, heute ist er schon erwachsen. Diese Erfahrung gehört wohl zum Älterwerden dazu. Die Zeit vergeht, wie im Flug, von Jahr zu Jahr und immer schneller. Und mit ihr auch die Lebenszeit.

In Psalm 31 habe ich gelesen: „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Da schreibt einer in Gedichtform über sein Leben. Über die Zeit und die Zeiten, die er erlebt. Und breitet vor Gott aus, was ihm zu schaffen macht und ihm zusetzt, was ihn in Rage oder zu schierer Verzweiflung bringt, was ihm hilft, Zuversicht und Hoffnung gibt.

Und in der Mitte von all dem steht, wie ein Fels, der Satz: Meine Zeit steht in deinen Händen. Wenn ich es richtig verstehe, heißt das, dass Gott jede Minute und jede Stunde, jedes Jahr und jedes Jahrzehnt meines Lebens in seinen Händen hält. Und dass Zeit nicht einfach nur verfließt und vergeht. Sondern dass sie irgendwie in Gottes Händen aufgehoben ist und bleibt. Wertvoll und kostbar. Zu jeder Sekunde und Minute meines Lebens. Nicht nur an guten Tagen, sondern auch an denen, die schwer sind, und ich sagen kann, hilf mir durchhalten, Gott. Meine Zeit steht in deinen Händen.

In dem Gespräch damals hat mir der 85jährige Mann auch erzählt, wie viele Stationen, Orte, Menschen, Begegnungen seinen Lebensweg prägten. Und dass für ihn, bei allem Vergehen, mit den vielen Erinnerungen, die damit verbunden sind, doch auch etwas von der Fülle des Lebens spürbar ist. Und dafür ist er dankbar.

Das habe ich damals für mich mitgenommen: Dankbarsein für die mir geschenkte Zeit. Und die Zeit, die ich habe, nutzen. Jede Stunde, jeden Tag.

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SWR2 Wort zum Tag

07FEB2022
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Jeden Tag von 7 bis 22 Uhr ertönen sie. Die großen Glocken der Gedächtniskirche hier in Speyer. Voll und rund sind sie weithin zu hören. Erst recht bei uns im Pfarrhaus, das nicht weit von der Kirche entfernt ist. Mit ihrem Klang beginnt mein Tag. Und wenn sie einmal nicht läuten, weil die Zeitschaltuhr oder der Knüppelschlag defekt ist, vermisse ich etwas. Bei anderen ist es genau anders herum. Sie stört das Glockengeläut. Religion ist Privatsache, sagen sie. Man sollte das Glockenläuten abschaffen.

Mich stören die Glocken nicht. Im Gegenteil. Mit ihrem Stundenschlag bringen sie für mich die Zeit zum Klingen. Erinnern mich, dass der Tag seinen Lauf hat. Und die Dinge ihren Gang. So lassen sie mich die Zeit hören. Begleiten und geleiten mich durch den Tag bis in den Beginn der Nacht. Markieren mit ihren besonderen Glockenschlägen den Morgen, den Mittag, den Abend und am Ende der Woche den Sonnabend.

Das Stundengeläut der Gedächtniskirche ist dem Westminsterschlag des Big Ben in London nachempfunden. Dieser besteht aus den 4 Tönen: E-gis-fis-h. Sie erklingen zu jeder vollen Viertelstunde in einer anderen Abfolge. Zur vollen Stunde ertönen dann zwei volle Durchläufe dieser Sequenzen und ergeben eine eindrückliche Melodie.

Es gibt die These, dass diese Melodie eine Variation der vier Noten aus den Takten 5 und 6 der Sopran-Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ aus dem Oratorium „Der Messias“ von G.F.Händel ist.

Wie auch immer, mit der Melodie des Westminsterschlages ist traditionell folgender Text in England verbunden:

O Lord our God
Be Thou our guide
So by thy help
No foot may slide.

O Herr unser Gott
Sei Du unser Begleiter
Dass durch deine Hilfe
Kein Fuß ausgleiten möge.

Seit ich das weiß, höre ich diese Botschaft mit dem Klang der Glocken. Jeden Tag. Und jeden Tag neu. Im Klein-klein eines jeden Tages. Im Alltag meines Lebens.

Und ich höre sie mit, wenn Kinder getauft, Jugendliche konfirmiert, Paare getraut und Gestorbene bestattet werden. Wenn das Geläut der Glocken sie und ihre Angehörigen an Schwellen und Übergängen des Lebens begleiten. Mit ihrer Bitte um Geleit im Laufe der Zeit.

Übrigens haben auch die meisten Stand- und Pendeluhren in den Wohnzimmern diesen Westminsterschlag. Vielleicht ja auch bei Ihnen zu Hause!

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SWR2 Wort zum Tag

15DEZ2021
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Der Schauspieler Edgar Selge hat einmal auf die Frage, ob er religiös sei, geantwortet:
„Meine eigene Religiosität ist mir verlorengegangen. Sie ist gewissermaßen durch Nichtachtung im Laufe der Jahre verwildert. Als Kind war sie noch da und deutlich spürbar. Da war die Sehnsucht nach Gott der schönste Garten, in den ich mich zurückziehen konnte. Erstaunlich, wie man so etwas vergessen kann. Und eigentlich auch schade!“[1]

Ich kann das gut nachvollziehen, wenn ich mich an meine eigene Kinderzeit erinnere: Wie leicht war es als Kind zu glauben. Und wie groß das Vertrauen. Zum Beispiel wenn ich von einem hohen Baum in die Arme meines Vaters sprang. Ich staunte über jeden kleinen Käfer. War voller Sehnsucht nach dem Wunderbaren, das sich gerade im Advent so spürbar gespiegelt hat, im warmen Lichterglanz der Adventskerzen, dem gespannten Öffnen der Türen des Adventskalenders, im andächtigen Hören der mit dieser Zeit verbundenen Geschichten, kredenzt mit Mandarinen, Nüssen, Marzipan und leckerem Gebäck.

Ich vermute, viele haben ähnliche Erinnerungen. Auch an die Zeit der Pubertät, in der dieser Glaube Brüche bekommen hat, weil sich Zweifel eingestellt haben. Und womöglich geblieben sind, so dass Glaube und Religiosität verloren gegangen sind und, wie Edgar Selge es ausdrückt, „durch Nichtachtung im Laufe der Jahre verwildert“ sind. Es berührt mich, dass Edgar Selge diesen Verlust nicht als gegeben hinnimmt, sondern bedauert.

Ich finde, die Adventszeit bietet die große Chance, dieser Sehnsucht nach Gott wieder neu nachzuspüren. Wieder aufleben zu lassen, was erstickt ist. Das, was verwildert ist, wieder frei zu legen durch eine besondere Achtsamkeit auf das, was sich hinter den einzelnen Bräuchen verbirgt. Durch Zeit für anderes, als hektisches und geschäftiges Treiben.

Da kann die Adventszeit zu einem schönen Garten werden, in dem die Sehnsucht nach Gott wieder aufblüht, weil sie gepflegt wird und Nahrung findet. Da sind so viele Blüten und Düfte, denen zu begegnen sich lohnt. Beim Schmücken der Wohnung mit Tannenzweigen, dem Backen von Gebäck, den leuchtenden Fensterbildern, Advents- und Weihnachtssternen. Da sind so viele Orte und Wege. In Ruhe und Stille tun sie sich auf. Beim Nachdenken über ein besinnliches Wort. Und auch beim Singen von Liedern oder beim Hören von Musik, die das Herz ruhig werden lassen. Legen Sie sich ihr ganz eigenes Adventsgärtlein an!

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[1] Zitiert aus: „Ich spiele einen Kohlhaas im Genre des Horrorfilms“, Edgar Selge im Gespräch mit Jörg Michael Seewald; FAZ Nr. 272 vom 22.11.13, S. 39.

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SWR2 Wort zum Tag

14DEZ2021
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„Tröstet! Tröstet! Tröstet mein Volk, spricht euer Gott!“ Mit kräftiger Stimme und dieser dreifachen Ansage kündigt der Tenor zu Beginn von Händels Oratorium „Der Messias“ das Kommen eines Erlösers an. Damit eröffnet er ein großartiges Werk, das gerade in der Adventszeit oft zu hören ist. Es erzählt in Wort und Ton vom Trost Gottes für diese Welt, der in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist.

Die Verheißung, getröstet zu werden, ist die große Nachricht des Advents! Mit Händels wunderbarer Musik dringt sie nicht nur ins Ohr, sondern singt und spielt sich mitten ins Herz. So empfinde zumindest ich es. Note für Note ein Tropfen Trost im großen Meer der Sehnsucht, der Verzweiflung.

Trost ist etwas so Wichtiges. Etwas, das wir, glaube ich, gut gebrauchen können. Gerade jetzt am Ende eines Jahres. Am Ende dieses Jahres. Mit so vielen bedrückenden Nachrichten wie die Flutkatastrophe im Ahrtal, steigende Wohnungs- und Energiekosten und auch wieder und immer noch: Corona. Da mag sich mancher ratlos, hilflos, trostlos fühlen.

Vielleicht auch aufgrund einer persönlichen Erfahrung. Ich weiß von einer Frau, die seit diesem Jahr mit einer schweren Autoimmunerkrankung kämpft. Die Hoffnung auf Heilung hat sie noch nicht aufgegeben. Ich frage mich, wie sie sich wohl fühlen mag im Blick auf das Weihnachtsfest? Vielleicht tun ihr die Vorbereitungen dafür auch gut: Die Weihnachtsdekoration hervorholen, Geschenke kaufen für liebe Menschen, deren Verbundenheit sie gerade jetzt besonders spürt. Das kann auch Halt geben.

So wie die Musik. Sie hat mir erzählt, dass sie sich nun öfter in den Sessel in ihrem Wohnzimmer setzt, um Musik zu hören. Jetzt in der Vorweihnachtszeit hat sie den Messias von Händel für sich wieder entdeckt. Besonders eine Sopran-Arie hat es ihr angetan: „Er weidet seine Herde, dem Hirten gleich, und heget seine Lämmer so sanft in seinem Arm; er nimmt sie mit Erbarmen auf in seinen Schoß, und leitet sanft, die in Nöten sind.“ Da wird der Trost so spürbar wie eine sanfte Umarmung. Das lässt sie zur Ruhe kommen und gibt ihr neue Kraft.

Der Messias ist sicher kein Allheilmittel gegen schwere Tage und Zeiten. Und auch nicht gegen alle Trostlosigkeit dieser Welt. Aber er ist ein Beispiel dafür wie Worte und Musik Herz und Sinn stärken und das Gemüt wieder aufrichten können. Gerade jetzt. In dieser Zeit.

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SWR2 Wort zum Tag

13DEZ2021
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Im Advent sucht mich die Sehnsucht häufiger heim als zu anderen Jahreszeiten. Manchmal habe ich sie kaum bemerkt. Weder ihr Kommen noch ihr Gehen. War mit Planen und Organisieren beschäftigt. Aber in der Adventszeit möchte ich zulassen, dass die Sehnsucht sich Schlupflöcher sucht und findet. Ich möchte sie hereinlassen und wahrnehmen. Dem eigenen Suchen Raum geben. Nach Trost. Und Licht. Nach Liebe und Geborgenheit. Nach Gott. Jetzt im Advent ist die Zeit dafür.

Ich lese viel. Vertiefe mich in alte Schriften. Und finde alte lateinische Worte. Über die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aufgeschrieben von Augustin, dem großen theologischen Lehrer, im 4. Jhdt n. Chr., vor etwa 1600 Jahren. „Homo desiderium dei“. Groß stehen sie im Raum: Mensch. Sehnsucht. Gott.

Genau übersetzt heißt das Zitat: Der Mensch ist Sehnsucht nach Gott. Was für eine Beschreibung! Der ganze Mensch mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele, Herz und Geist: alles sehnt sich nach Gott. Eine starke These. Manch einer würde sich wahrscheinlich dagegen wehren, wenn man ihm sagte, er würde aus nichts als Sehnsucht bestehen. Verliebte haben vielleicht eine Ahnung davon. Einerseits. Andererseits: Die Sehnsucht nach einem, der endlich den Schmerz dieser Welt stillt, und auch mich als Mensch, heilen kann, diese Sehnsucht kenne ich zu gut. Sie befällt mich immer wieder, wenn ich Ungerechtigkeit, Leid, Not sehe oder selbst erfahre.

„Homo desiderium dei“. Das kann auch umgekehrt heißen: Der Mensch ist die Sehnsucht Gottes. Was für eine völlig andere Perspektive! Aber genauso bedenkenswert: Gott sehnt sich nach uns Menschen. Nach mir! Er will wissen, wie es mir geht, will mir nahe sein, mit mir reden, mich sehen, hören, vielleicht gar mein Herz berühren… . Dass es durchströmt wird von Liebe, Wärme, Trost. Das wäre schön. In einem Adventslied wird es so beschrieben: „da bist du, mein Heil, kommen und hast mich froh gemacht“.

Ich glaube, ich weiß jetzt, was Augustin meint. Das Nest für Gottes Sehnsucht ist mein Herz. Dem eigenen Suchen Raum geben heißt, Gott Raum geben. Sich der Sehnsucht öffnen. Um von Gott gefunden zu werden. Jetzt im Advent ist die Zeit dafür.

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SWR2 Wort zum Tag

03NOV2021
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Sitzen zwei Männer in einer Bar irgendwo in der Wildnis von Alaska. Der eine ist religiös, der andere Atheist. Die beiden diskutieren über die Existenz Gottes. Sagt der Atheist: „Pass auf. Letzten Monat bin ich weit weg vom Camp in einen fürchterlichen Schneesturm geraten, ich hab mich total verirrt, vierzig Grad unter null, und da hab ich geschrieen: „Gott, wenn es dich gibt, dann hilf mir jetzt!, ich stecke in diesem Schneesturm fest und sterbe, wenn du mir nicht hilfst!“

Der religiöse Mann schaut den Atheisten ganz verdutzt an: „Na, dann musst du jetzt doch an ihn glauben“, sagt er. „Schließlich sitzt du quicklebendig hier neben mir“.
Der Atheist verdreht die Augen: „Quatsch, Mann, da sind bloß zufällig ein paar Eskimos vorbeigekommen und haben mir den Weg zurück ins Camp gezeigt“.

Ein und dieselbe Erfahrung kann für zwei verschiedene Menschen einen unterschiedlichen Sinn haben. Es ist eine Frage der Deutung.

Das hat der amerikanische Schriftsteller und Philosoph David Foster Wallace in einer inzwischen berühmt gewordenen Rede erörtert.

In dieser Rede zeigt er eindrücklich auf, wie sehr unsere „Standardeinstellung“, das, was wir erleben immer wieder bestätigt. Wie wenig offen wir sind für eine unvoreingenommene Sicht auf die Welt. Erst recht für „das Wahre und Wesentliche, das hinter den Dingen liegt und sich uns nicht immer gleich und offensichtlich erschließt“.

Das gilt, wie die kurze Geschichte vom Anfang zeigt, auch in der Frage des Glaubens. Eine Erfahrung, zwei ganz verschiedene Deutungen. Für welche würden Sie sich entscheiden?

Ich für mich kann sagen, dass es durchaus Dinge gibt, die ich Gott und nicht dem Zufall zuschreibe. So wie der religiöse Mann. Ich kenne aber auch die Erfahrung, dass Gott mein Gebet nicht erhört hat.

Ich glaube, dass Gott, manches Mal, so meine „Standardeinstellung“ und religiöse Selbstgewissheit aufbricht. Das ist nicht immer einfach. Und schmerzt. Aber dennoch glaube ich weiter an ihn. Weil es für mich Sinn macht, dass nicht alles einfach bloßer Zufall ist, sondern dass da einer ist, der seine Hand im Spiel hat. Und es außerdem mir völlig überlässt, wie ich es deute.

Für welche Deutung Sie sich auch entscheiden mögen. Ich wünsche Ihnen in jedem Fall zur rechten Zeit ein paar Eskimos am rechten Ort!

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SWR2 Wort zum Tag

02NOV2021
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„Grüß Gott!“ Ganz überrascht war ich, als mich neulich beim Wandern ein Mann so gegrüßt hat.
Mit der Familie wandern wir gern am Haardtrand des Pfälzer Waldes. Im steten Wechsel zwischen Wald und Weinbergen, mit vielen schönen Ausblicken auf die Rheinebene in ihrer ganzen Weite, umgeben von der bunten Farbenpracht der Blätter von Wald und Reben, die im Herbst Landschaft und Seele zum Leuchten bringt.

Wir sind nicht die einzigen Wanderer, die da unterwegs sind. Und wie es sich gehört, begrüßt man einander mit einem „Hallo“ oder „Guten Taq“ oder einfach einem leichten Kopfnicken. Aber dann kam dieser Wanderer mit seinem fröhlichen „Grüß Gott!“ und hat mich ins Nachdenken gebracht.

Mir ist aufgefallen, wie lange ich das schon nicht mehr gehört habe. In meiner Kindheit ist es ein gängiger Gruß gewesen. Jedenfalls in Süddeutschland. Beim sonntäglichen Wandern auf der Schwäbischen Alb oder im Allgäu und auch im Alltag, wenn man sich beim Einkaufen auf der Straße begegnet ist.

„Grüß Gott!“... . Das bedeutet „möge dir Gott freundlich begegnen“ oder „möge Gott dich segnen“. Das ist doch ein guter Wunsch. Unabhängig davon, ob der andere an Gott glaubt oder nicht. Dass ich demjenigen, dem ich begegne, wünsche, dass Gott seine Hand über ihn halten möge. Dass er oder sie Gutes erfahren möge.

Zum Beispiel beim Wandern durch den Pfälzer Wald. Gerade jetzt im Herbst, wo manche Wege gefährlich feucht und glitschig sind, vielleicht sogar schon gefroren. Oder der Nebel den Blick verschleiert, so dass man Mühe hat, nicht vom Weg abzukommen und sich zu verirren. Da kann man ein „Grüß Gott“ durchaus gebrauchen.

Erst recht aber im weiteren Sinn. Beim Wandern durch das Leben. Im wiederkehrenden Wechsel von Höhen und Tiefen. Dass Schritt und Tritt gelingen, von Kindheit und Jugend an bis ins Alter hinein. Gesegnet sein mit guten und gelingenden Wegen, stimmigen Stationen, bergenden Unterkünften und treuen Weggefährten.

Gesegnet sein mit Ruhe und Gelassenheit, wenn ein Weg anders verläuft, als man es sich erhofft und gewünscht hat. Zufrieden sein können mit dem, was ist - und an dem nicht verzweifeln, was nicht ist.

Die Fülle des Lebens spüren können beim Anblick so vieler bunter Lebensblätter, die den Weg säumen und ihn so zum Leuchten bringen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, von Wanderer zu Wanderer, ein herzliches „Grüß Gott!“ nicht nur für den heutigen Tag!

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SWR2 Wort zum Tag

25SEP2021
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„Mahlzeit!“ ruft mir eine Frau zu. Es ist kurz vor halb zwölf, ich stehe am Eingang unseres Gemeindehauses und die ersten Gäste kommen, um im großen Saal ein Mittagessen einzunehmen.

Ich kenne sie gut. Sie kommt schon seit Jahren. Früher hat sie in einem Handwerksberuf gearbeitet. War fest angestellt. Aber dann kam eines zum anderen. Eine schwere Krebserkrankung. Körperliche Langzeitfolgen. Der Verlust der Arbeitsstelle. Eine bleibende Arbeitsunfähigkeit. Die viel zu geringe Erwerbsminderungsrente. So dass sie auch ihre Eigentumswohnung nicht mehr halten konnte. Seitdem lebt sie von Hartz-IV. Und sie weiß, da wird sie nie mehr herauskommen.

„MahlZeit“ heißt auch das Sozialprojekt, das hier im Martin-Luther-King-Haus an der Gedächtniskirche in Speyer für Menschen, die bedürftig sind, an vier Tagen in der Woche ein warmes Essen anbietet: Menschen, die in der Armutsklemme stecken. Mit Hartz IV-Bezug, Rentner, Alleinstehende mit zu geringem Einkommen, Obdachlose. Alle bekommen eine vollständige Mahlzeit mit Vorspeise, Salat, Hauptspeise und Nachtisch. Für 1 Euro. Aus Wertschätzung für das Essen wie der Bedürftigen gleichermaßen.

Das ist auch der Frau wichtig. Dass sie nicht als Almosenempfängerin und Mensch 2. Klasse behandelt wird. Diese Erfahrung macht sie oft genug. Aber hier bei der Kirche sei das zum Glück anders. Dafür ist sie dankbar.

Für Menschen wie sie ist die „MahlZeit“ wichtig. Nicht nur wegen des Essens. Sondern besonders auch wegen der Begegnung mit anderen. Der Gemeinschaft, die man erfährt. Das tut gut. Sie weiß, sie ist mit ihrem Schicksal nicht allein. So wie auch der Rentner mit der nicht ausreichenden Rente. Für ihn wie für viele andere ist die Begegnung „Therapie“ gegen die Einsamkeit. Anderen gibt der „MahlZeit“-Termin eine feste Struktur für den Tag.

Darum ist das „Z“ in der „MahlZeit“ groß geschrieben. Weil beides gleich wichtig ist: Das Mahl und die Zeit. Beim Essen miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen, zu erfahren, anderen geht es auch so. Einen Raum, einen Ort, eine Zeit haben. Miteinander und Füreinander. Auch mit den über 30 Ehrenamtlichen, die sich hier engagieren.

Sozialprojekte wie dieses können die Armut nicht beseitigen. Aber Not lindern. Und Leib und Seele stärken. Wenigstens einmal am Tag.

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