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SWR2 Wort zum Tag

Vor kurzem habe ich einen Gummistiefeltanz erlebt. Etwa 20 Jugendliche in Gummistiefeln haben einen furiosen Auftritt irgendwie zwischen Schuhplattler und Kriegstanz hingelegt und als Sänger stimmgewaltig selbst die Musik dazu erzeugt. Das war in Kliptown, einer Schwarzensiedlung zwischen dem Township Soweto und der Millionenmetropole Johannesburg in Südafrika. Der Gummistiefeltanz geht auf die schwarzen Arbeiter in den südafrikanischen Bergwerken zurück. Mit bestimmten Schlagabfolgen auf ihre Stiefelschäfte haben sie sich früher in den Stollen unter Tage Signale zugesandt. Heute ist daraus eine Tanztradition geworden, die mit viel Selbstbewusstsein präsentiert wird. 

Selbstbewusst haben wir die Menschen überhaupt erlebt, denen wir in Kliptown begegnet sind. Dort leben rund 50.000 Menschen in ärmlichsten Hütten. An 50 offenen Wasserstellen können sie sich mit frischem Wasser versorgen. Das Abwasser versickert auf engen, unbefestigten Wegen, die sich wie ein Labyrinth durch die Siedlung ziehen. Ärztliche Versorgung gibt es so gut wie nicht. Dass im Notfall ein Rettungswagen kommt, ist selten. Es ist ein Slum, obwohl die Bewohner dieses Wort nicht gern hören. „Slum“ klingt nach Hoffnungslosigkeit. Aber Kliptown ist trotz allem ein Ort der Hoffnung. 

Der Gummistiefeltanz wurde unserer kleinen Reisegruppe im Haus des „Kliptown-Jugendprogramms“ vorgeführt – „Kliptown Youth Program“, abgekürzt KYP. Seit 2007 organisieren junge Leute hier in einer ehemaligen Ordensschule eigenverantwortlich ein Selbsthilfeprojekt. Ihr Ziel: Die Kinder und Jugendlichen sollen  aus dem Teufelskreis der Armut herauskommen, erklärt Sipo, der 25-jährige Erziehungsmanager. Und das macht auch den Erwachsenen Hoffnung. 

KYP wird über Spenden finanziert. Zusammen mit 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gestalten viele junge Ehrenamtliche das Angebot. 450 Kindergartenkinder und Schüler kann der Club aufnehmen. Zweimal am Tag bekommen sie eine warme Mahlzeit. Mit leerem Magen könne man nicht lernen, sagt Sipo. Besonders stolz sind die Verantwortlichen des KYP auf ihre Schule.  Fast alle schaffen hier erfolgreich den Abschluss, manche studieren heute sogar. Viele kommen später zurück und helfen den Jüngeren bei den Hausaufgaben, treiben Sport mit ihnen oder gestalten kulturelle Angebote. Dieses solidarische Netzwerk ist für KYP besonders wichtig. 

Mit dem Gummistiefeltanz sind die jungen Leute schon in den USA aufgetreten und haben stürmische Erfolge gefeiert. Auch einen Innovationspreis der Vereinten Nationen haben sie erhalten. Von den 50.000 Dollar Preisgeld konnten eine Lehrküche und ein Computerraum finanziert werden. Mit anderen Spenden wurde eine Solaranlage errichtet, die die Clubgebäude und Teile der Siedlung mit Strom versorgt. 

KYP ist für mich ein Kürzel für die unternehmerische Phantasie und gelebte Verantwortung junger Menschen geworden. Ein Kürzel für Hoffnung.

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SWR2 Wort zum Tag

Durban in Südafrika. In einem Vorort stehen zahlreiche Villen, mit gepflegten Vorgärten und PS-starken Autos vor der Garage. Unmittelbar daneben das genaue Gegenteil: ein Slum. Und genau zwischen diesen beiden Orten: das Haus der „Missionaries of Charity“, der „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Sie wurden von Mutter Teresa gegründet. Die Schwestern nehmen schwerstbehindere Kinder und Erwachsene auf, auch Aidskranke leben hier. Sie suchen im Slum nach den Menschen, die ohne sie zugrunde gehen würden. Kliniken weisen sie auf Patienten hin, die keine Angehörigen mehr haben und keinen Ort, wo sie leben oder sterben können; manchmal liest die Polizei Menschen auf der Straße auf und bittet die Schwestern, sie aufzunehmen. Manche leben viele Jahre in dem Heim. Andere sind vom Tod gezeichnet und werden bald sterben. Aber allen ist gemeinsam: Sie erleben, was es bedeutet, menschenwürdig zu leben – und menschenwürdig zu sterben. Und das vielleicht zum ersten Mal. 

Ich war schon öfter in diesem Haus der Mutter-Teresa-Schwestern. Vor wenigen Wochen gerade wieder. Beim Gang durch die einfachen Zimmer komme ich an das Bett einer alten Frau. Ich sehe, dass ihr Leben dem Ende entgegen geht. Ihre Glieder sind von Gicht verkrümmt, ihr Mund ist zahnlos, ein Bein ist amputiert. Sie scheint dement zu sein. Weinend sagt sie immer wieder, dass ihre Mutter verstorben ist, ihr Vater bei einem Unfall getötet wurde, ihre Kinder irgendwo verstreut sind. Und genau so oft – wie eine beschwörende Formel: „Gott ist gut, Dank sei Gott.“ Vielleicht ist das ihre Weise, das Elend auszuhalten. 

 Ich halte eine Weile ihre Hand. Ein Freund von mir ist auch dabei. Er ist pensionierter Pfarrer. Was können wir hier anderes tun als  einfach da sein, eine Weile dabei bleiben? Menschliche Nähe spüren lassen? Das ist nicht leicht. Helfen, direkt etwas unternehmen , konkrete Probleme lösen, das ist einfacher. Aber dabei bleiben, wenn Menschen völlig hilflos sind, und erleben, wie ohnmächtig ich selber bin – das ist schwer. 

Irgendwann müssen wir wieder gehen. Weiterfahren zum nächsten Reiseziel. Es fällt uns nicht leicht. Aber ich glaube, wir haben  verstanden, was die Seele dieses Hauses ausmacht: die Schwestern sind da, einfach da. Sie bleiben bei diesen Menschen, auch wenn andere Hilfe nicht mehr möglich ist. Ihre Nähe gibt diesen  Menschen Ansehen und Würde. Sie leben ihren Glauben an den Gott, dessen Name lautet: „Ich bin da.“

 

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SWR2 Wort zum Tag

Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und die Islamischen Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg haben vor kurzem ein „Gemeinsames Wort zum Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit“ vorgestellt. Ich befürchte, dass dieses gemeinsame Wort nicht so öffentlich beachtet wird, wie es angemessen wäre.  Das was Christen und Muslime trennt, wird gerade im Moment viel mehr betont, als das, was sie verbindet. 

Umso unterstreiche ich diese gemeinsame Initiative. Menschen radikalisieren sich, geflüchtete Menschen werden ausgegrenzt, Menschenrechte werden missachtet und Leben weltweit ausgelöscht. Dies alles macht es dringend erforderlich, die gemeinsamen Quellen des Respekts und der Barmherzigkeit zu suchen. Wie lassen sich die gemeinsamen ethischen und religiösen Grundlagen für Frieden und Gerechtigkeit, für die unantastbare Würde eines jeden einzelnen Menschen erkennen und fruchtbar machen? Diese Frage leitet  die Autoren dieses Gemeinsamen Worts. 

Der gemeinsame Glaube an Gott ist das Zentrum ihrer Friedensbotschaft. Der Name Gottes hat bei Christen und Muslimen unterschiedliche Farben, aber sie bringen eben auf verschiedene Weise zum Ausdruck, dass er ein Gott für uns Menschen ist.  Niemals lassen sich Ablehnung, Unfrieden und Gewalt mit religiösen Argumenten rechtfertigen. „Wir teilen die Überzeugung“, heißt es in dem Gemeinsamen Wort, „dass Gott uns Menschen liebt und dass seine Barmherzigkeit umfassend ist. Die Liebe zu Gott und unseren Mitmenschen –  als Mitgeschöpfe – ist das zentrale und grundlegende Gebot des Schöpfers an uns Menschen. Darin gründen und orientieren sich alle anderen Gebote – auch unsere Schöpfungsverantwortung.“ 

Werden alle Unterschiede nivelliert? Diesen Einwand höre ich schon. Keineswegs, sagen die Verfasser. Aber sie werben gerade angesichts der kulturellen und religiösen Unterschiede dafür, dass wir  – Christen und Muslime – einander besser kennen und verstehen lernen und in unserer Verschiedenheit annehmen. Das kann ich nur unterstreichen, und ebenso diesen Satz, den ich sehr stark finde: „Selbst wenn wir keine weiteren, auch keine religiösen Gemeinsamkeiten finden sollten, wissen wir uns als Christen und als Muslime durch unsere Gottesbeziehung […] dazu verpflichtet, im Großen und im Kleinen für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten.“ 

Ich bin sehr froh über dieses Gemeinsame Wort. Es beantwortet sicher nicht alle Fragen und löst nicht alle Probleme. Aber es kann das, was erstarrt ist,  in Bewegung bringen und Neues möglich machen.  

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SWR2 Wort zum Tag

„Von Gott kommt nur Gutes.“ Das klingt fromm und harmlos. Welch aufrüttelnde Anfragen an mein Gottesbild, aber auch: welch tiefe Kraft des Glaubens und des Vertrauens sich in diesen Worten ausdrücken können, das habe ich in der Begegnung mit einer syrischen Familie erfahren.  Vor knapp zwei Jahren sind die Eltern mit ihren vier Kindern geflohen – das älteste Kind war damals sieben, das jüngste ein Jahr alt. Eine reguläre und sichere Ausreise mit dem Flugzeug war nicht möglich, weil der syrische Staat die Eltern zwingen wollte, ihr einjähriges Kleinkind im Land zurück zu lassen. Sie haben sich dann Schleppern anvertraut, die sie über das Mittelmeer bringen sollten. Vor Sizilien ist ihr Schiff im Sturm gesunken. Andere Schiffe, die zur Rettung herbeigeeilt waren, konnten das Elternpaar retten; die vier Kinder wurden in dem Chaos von ihnen getrennt – und waren seither verschollen. 

Ich habe die Eltern kennen gelernt, weil ich darum gebeten wurde, ihnen bei der Suche nach ihren Kindern zu helfen. Sie konnten und wollten sich nicht damit abfinden, dass diese nicht mehr leben sollten. Doch alle noch so aufwendige Suche mit Hilfe italienischer Behörden, der Marine, der Hafenmeistereien, der Polizei, ja eines Fernsehsenders – alles war vergebens. Von den vier Kindern hat  jede Spur gefehlt. Erst jetzt, vor wenigen Wochen, ist die Nachricht gekommen, dass möglicherweise eines der Kinder direkt nach dem Unglück tot gefunden worden ist. Die Eltern haben es dann anhand von Bildern identifizieren können. Inzwischen haben sie auch sein Grab besucht. Und sie betrachten seinen Tod als Zeichen für das, was sehr wahrscheinlich mit den anderen drei Kindern auch geschehen ist. 

Trotz aller Trauer hat die Mutter gesagt: „Allhamdulilah – von Gott kommt nur Gutes.“ Eine Sozialarbeiterin, die die Familie begleitet, hat mir das berichtet. Ich kann das kaum fassen. Ich weiß nicht, ob ich jemals die Kraft hätte, ein solches Unglück als etwas zu sehen, das mir von Gott zugewiesen ist – und dazu auch noch Ja zu sagen. Aber ich stehe mit großer Achtung vor der Glaubensstärke dieser Frau. Sie lässt auch im tiefsten Unglück nicht davon ab, zu vertrauen, dass ihr Leben in Gott geborgen ist – auch wenn sie nicht versteht, was er ihr zumutet. 

Da stellen sich Fragen, die ein Mensch nur für sich ganz alleine beantworten kann. Für mich ist die Haltung dieser syrischen Mutter allerdings ein Anstoß, über meinen eigenen Glauben und mein eigenes Gottvertrauen nachzudenken.

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SWR2 Wort zum Tag

Ein Muslim hat meine Aufmerksamkeit wieder auf Franz von Assisi gelenkt. Navid Kermani. 2015 hat er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen.  In seinem Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ widmet er dem mittelalterlichen Heiligen ein sehr schönes und ausführliches Kapitel. Für ihn ist Franz von Assisi eine der herausragenden Gestalten in der Geschichte des Christentums, die das Evangelium nicht nur gepredigt, sondern vor allem gelebt haben. 

Ich komme darauf zu sprechen, weil das Beispiel  des Franz von Assisi in heilsamer Weise zum Nachdenken bringen kann. Gerade in dem spannungsreichen Verhältnis, das aktuell zwischen der christlichen und der islamischen Welt besteht. Kermani beschreibt, wie Franziskus dem ägyptischen Sultan al-Malik al-Kamil begegnet. Beide haben sich gegenseitig bewundert und verehrt. Das beruhte auf der Großherzigkeit des muslimischen Herrschers, aber auch darauf, dass Franziskus bis zu seinem Tod darauf bestand, dass Liebe grenzenlos ist. Feindbilder haben darin keinen Platz. 

In einer Zeit, als das christliche Abendland den Orient mit blutigen Kreuzzügen heimgesucht hat, ist  Franziskus gegen alle Warnungen ohne Waffen, ungeschützt, barfuß und ohne Geld ins Lager des Sultans gegangen. Und entsprechend dem islamischen Salam alaikum hat er den Sultan mit den Worten begrüßt: „Der Herr gebe euch Frieden.“ Das Auftreten und der Friedensgruß des Mönchs mögen den Sultan stark bewegt haben, denn er hat ihn mit hohen Ehren empfangen. Und  vor allem sollte er sich als Politiker erweisen, dem es um den Frieden ging – im Gegensatz zu den Gegnern aus dem christlichen Abendland, die die Friedensvereinbarungen gebrochen haben und in ihrem religiösen Wahn das Heilige Land mit Gewalt überzogen haben. 

Franz von Assisi und der ägyptische Sultan al-Malik al-Kamil: der Friedensgruß verbindet sie. Der eine steht für den christlichen Glauben, der andere für den Islam. Zum Wertvollsten ihres Glaubens gehört für beide eine Ethik des Friedens.  Kermani zitiert eine Sure des Koran, in der es heißt: „Sagt nicht zu jemandem, der euch zur Begrüßung Frieden wünscht, du bist kein Gläubiger.“ Und Franz von Assisi seinerseits ist  zeitlebens dem islamischen Brauch des Salam alaikum treu geblieben und hat  in seinem Testament gesagt: „Der Herr hat mir geoffenbart, dass wir als Gruß sagen sollen: Der Herr gebe dir den Frieden.“ 

Ich werde es künftig noch mehr achten, wenn Muslime mich dem Wort Salam, Frieden, grüßen. Das passiert oft. Und ich werde es noch aufmerksamer erwidern.

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SWR2 Wort zum Tag

Vor kurzem war ich zum abendlichen Fastenbrechen in einer islamischen Gemeinde eingeladen. Ich habe eine solche Feier zum ersten Mal erlebt und war sehr beeindruckt von der stilvollen Gastfreundschaft, der ich dort begegnet bin. Vor allem habe ich mich darüber gefreut, dass neben den vielen Mitgliedern der Gemeinde selbst auch jüdische Gläubige und zahlreiche evangelische und katholische Christen die Einladung zu dem festlichen Ereignis angenommen haben. Auch Mitglieder der benachbarten chaldäischen Gemeinde waren gekommen. Christen dieser fast 2000 Jahre alten Kirche haben in ihrer irakischen Heimat oft Schreckliches erlebt. Vieles davon haben ihnen Menschen mit dem Namen Allahs auf den Lippen angetan. 

Diese gemeinsame Feier ist ein schönes, ein versöhnliches Zeichen. Gerade jetzt, da immer stärker öffentlich gegen Muslime in unserem Land polemisiert wird. Sie werden oft mehr oder weniger deutlich für die Unterdrückung in arabischen Diktaturen und für den Terror islamistischer Fanatiker mit verantwortlich gemacht. Dabei verabscheuen sie das.   

Unsere muslimischen Gastgeber sind darüber tief besorgt. Das ist aus den Gesprächen an diesem Abend deutlich heraus zu hören. Sie leben zum Teil schon seit Jahrzehnten hier und wollen zu einem gelingenden Zusammenleben in dieser Gesellschaft beitragen. Sie suchen den Dialog, Aber sie erwarten auch, dass sie in ihrem Glauben respektiert werden. 

Ich verstehe ihre Sorge und teile sie. Das Grundrecht auf freie Ausübung der Religion ist eine tragende Säule demokratischer Gesellschaften. Und genau das wird für Muslime dieser Tage öffentlich in Frage gestellt. Leider immer wieder auch von Menschen, die sich dabei angeblich auf die christliche Tradition berufen. 

Die Grenze verläuft aber nicht zwischen den Religionen. Sie verläuft dort, wo wir uns menschlich oder unmenschlich verhalten, fanatisch oder mit Vernunft. Keine der großen Religionen ist frei von Intoleranz in den eigenen Reihen und von Gewalt in der eigenen Geschichte. Damit muss ich mich ehrlich auseinander setzen, egal, ob ich  Christ oder Muslim bin.    

Die Welt ist in Aufruhr. Mächtige verfolgen die Schwachen ohne Rücksicht auf Verluste und unzählige Menschen müssen fliehen. Gerade jetzt ist das Gebot der Stunde nicht, uns abzugrenzen  und andere zu verdächtigen. Schon gar nicht im Namen der Religion. Wir sind vielmehr gefordert – in Gottes Namen – uns auf das zu besinnen, was uns an humanen Werten verbindet.  Das Fastenbrechen hat mir deutlich gemacht, wie wichtig ein gemeinsamer Weg zu einer friedlicheren Welt ist.

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SWR2 Wort zum Tag

Über ein Jahr lang haben zwei Autorinnen Menschen mit Demenz besucht und Gespräche mit ihnen geführt und aufgezeichnet. Die katholische Veronika-Stiftung Rottenburg hat diese Gespräche jetzt in einem Buch herausgebracht. „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort“, heißt der Titel.[1] Hier wird nicht über Menschen mit Demenz geschrieben, sondern sie kommen selbst zu Wort. Das ist gut.  Für mich ist das eine hohe Wertschätzung dieser Menschen. In der Öffentlichkeit sieht und hört man sie ja sonst meistens nicht. In diesem Buch bekommen sie ihre eigene Stimme. 

Dabei haben sie mir viel zu sagen. Manches, was ich hier lese, ist regelrecht hellsichtig. Und manches ist sehr verschlüsselt, etwas ver-rückt im Vergleich zu unserem gewohnten Sprechen und Denken. Aber wer sagt mir denn, dass das, was ich für normal halte, die einzig mögliche Art zu denken und zu reden ist? Die einzig denkbare Weise, das Leben und die Welt wahrzunehmen?

Bei dem, was ich von den Demenzkranken lese, lerne ich auch etwas über mich selbst.  Sie und ihre Lebensgeschichten stellen Fragen an mich und meine Selbstsicherheit. Es wundert mich nicht, dass eine der Autorinnen sagt, sie habe zunächst Angst vor diesen Begegnungen gehabt. Ich wäre auch erst einmal unsicher, wie ich mich Menschen gegenüber verhalten soll, die sich in eine andere Welt zurückgezogen haben. Aber ich werde auch mit der Zerbrechlichkeit meines eigenen Lebens konfrontiert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, wenn auch ich mir vielleicht einmal verlorengehe; wenn ich nicht mehr Herr meines Lebens und meiner Gedanken bin; wenn ich hilflos und abhängig werde. Manche der Gesprächspartnerinnen und –partner, die in dem Buch zu Wort kommen, nehmen ihren Verfall wahr und leiden sichtbar darunter. 

Natürlich möchte ich gerne mein Leben lang über meine geistigen Kräfte verfügen. Aber das liegt nicht in meiner Hand. Und kann ich denn nur ein selbstbestimmtes, präsentes, aktives Leben für ein sinnvolles Leben halten? Welches Menschenbild leitet mich? 

Das Leben hat viele Gesichter. Die Menschenwürde auch. Die Gespräche, die ich in diesem Buch zu lesen bekomme, lassen mich neu darüber nachdenken, worin die Würde eines Menschen besteht. Und was ein Leben sinnvoll sein lässt. Ich spüre dabei auch Dankbarkeit für das Leben, das ich jetzt leben kann, für die Gedanken, die ich jetzt denken kann, für die Worte, die ich jetzt sprechen kann.


 

[1] Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hsrg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016.

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SWR2 Wort zum Tag

Frau Böhm ist eigensinnig – und mir gerade deshalb  sehr sympathisch. Sie ist 93 Jahre alt und lebt in einem Heim für Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Ich habe ein Interview mit ihr gelesen in dem Buch: „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort.“[1] Darin sind Gespräche festgehalten, die zwei Autorinnen ein Jahr lang mit Menschen geführt haben, die sich in eine andere Welt des Bewusstseins zurückgezogen haben. 

„Wie geht es Ihnen?“, so beginnt das Gespräch. „Durchwachsen“, sagt Frau Böhm. „Das Leben ist ein auf und ab. Man muss halt versuchen, dass man die guten Zeiten  ein bissle halten kann. Und über das Schlechte muss man halt drübersehen und das so nehmen, wie es ist.“ 

Das Schlechte – das ist für Frau Böhm die Kriegszeit, in der ihr Sohn auf die Welt gekommen  ist. „Aber man hat sie durchgestanden“, sagt sie. Die gute Zeit: das waren ihre langen Jahre als Angestellte bei der Stadt. Obwohl es anstrengend war: schon früh morgens den Mann mit Frühstück versorgen, damit er rechtzeitig zur Arbeit kommt; dann selbst pünktlich im Büro erscheinen. Aber es war eine schöne Zeit. „Hab schreiben müssen“, sagt sie. „Ich hab in der Hauptsache Standesamt gemacht, das ist mir auch gelegen.“ 

Ihre Gesprächspartnerin versucht, diese gute Seite der Lebenserfahrung bei Frau Böhm in Erinnerung zu rufen. Steno. Darin sei sie doch so gut gewesen. Ob sie es nicht noch einmal versuchen wolle. Ihren eigenen Namen, irgendetwas.  Die alte Dame wehrt sich, sie weiß, dass sie es nicht mehr kann. Das gehe nicht einfach so, sagt sie, man brauche einen konkreten Auftrag und einen inhaltlichen  Zusammenhang. Den hat sie nicht mehr. 

Als die Interviewerin ein wenig insistiert, sagt sie: „Warum soll ich die kurze Zeit, die ich noch hab, mich mit so einem Kruschd abgeben?“ Kruschd – das ist schwäbisch und heißt: unnützes Zeug. 

Ich finde diese Antwort ganz stark. Diese hoch betagte und an Demenz erkrankte Frau hat ihren eigenen Kopf und setzt ihn auch durch. Sie begründet klar und eindeutig, was sie nicht will und auch, was sie will, was ihr wichtig ist und was nicht. Gott sei Dank tut sie das - in der kurzen Lebensspanne, die ihr noch verbleibt. 

Dass Frau Böhm eigensinnig ist, zeigt auch ihre Antwort auf die Frage, was für sie denn von Bedeutung  sei:  „Autobahn“, sagt  Frau Böhm. Ja – warum denn auch nicht?


 

[1]Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hsrg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016.

 

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SWR2 Wort zum Tag

„Ja. In diesem Sonnenschein wolln wir alle glücklich sein.“ Wie einen Refrain wiederholt und variiert die alte Dame diesen Satz immer wieder: „Ja. In diesem Sonnenschein wolln wir alle glücklich sein.“ Rosa heißt sie. Das Gespräch mit Rosa habe ich in dem Buch „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort“ gelesen. Zwei Autorinnen beschreiben darin ihre Begegnungen mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind.[1] 

Sie leben in einem Land des Vergessens. Und doch sind oft starke Erinnerungen in ihnen lebendig – an Menschen, an glückliche oder auch an leidgeprägte Beziehungen, die jemand ein Leben lang begleiten. Und die sich gegen das Vergessen behaupten. 

Rosa sagt zu der Interviewerin immer Oma. Sie fragt: „Oma, magst du mich?“ Sie sagt: „Mag mich doch! Oma, denk doch an mich! Sei lieb mit mir.“ Und: „Oma sei mit mir. Und hab mich gern.“ Welche Rolle spielte die Oma, als Rosa noch ein Kind war? Was bedeutet sie im Leben von Rosa immer noch – wenige Monate vor ihrem Tod? War sie die Zuflucht des Kindes? Oder bricht im hohen Alter die Angst wieder durch, die Oma könnte der kleinen Rosa ihre Liebe entziehen und sich von ihr abwenden? Und Rosa könnte sich dieser Liebe nur sicher sein, wenn sie der Sonnenschein, das immer liebe und fröhliche Kind ist? Selbst wenn es ihr nicht gut geht? Vielleicht hat sie schon als Kind diese Lektion für ihr Leben gelernt: Lass dir nicht anmerken, wenn es dir schlecht geht. Sei immer die Starke, die Fröhliche, der Sonnenschein. Sonst könntest du die Menschen verlieren, die dir am meisten bedeuten. 

Der Refrain von Rosa verändert sich im Laufe des Gesprächs. Sie sagt nicht mehr: „Wir wollen alle glücklich sein“, sondern: „Ganz allein wolln wir froh und glücklich sein.“ Und dann fließen Sätze ein wie: „Ich bin fertig.“, „Mir tut das linke Bein so weh.“, „Oma, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.“ 

Rosa lässt mich in diesem Interview in ihr Leben blicken. Und ich frage mich: Welche Kraft musste diese Frau vielleicht ein Leben lang aufwenden, weil sie glaubte, sich hinter einem Vorhang von Lebensfreude und Sonnenschein verbergen zu müssen? Und welche Einsamkeit lässt sich erahnen, wenn sich der Vorhang ein klein wenig öffnet.


 

[1]Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hrsg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016

 

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SWR2 Wort zum Tag

„Die letzten Jahre seines Lebens ist Lothar Späth ins Land des Vergessens geführt worden, aber nicht ins Land des Vergessenwerdens.“ Das hat der evangelische Landesbischof Frank Otfried July bei der Trauerfeier für den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten gesagt. Das ist eine schöne Würdigung, geprägt von großem Respekt. Dieser Mensch wird nicht vergessen. Sein Leben und das, was er  getan hat, stehen im Mittelpunkt. Und eben nicht die Demenz, die ihn in den letzten Jahren geprägt hat. 

Es gibt ungezählte Menschen, die auch in dieses  Land des Vergessens fortgegangen sind. Dort haben unser gewohntes Denken und Sprechen ihre Bedeutung verloren. Viele sind einsam und vergessen, lange schon, bevor sie tot sind. Dabei ist auch ihr Leben unendlich viel mehr als der Schatten ihrer letzten Jahre. Ihnen ist ein Buch gewidmet, dass die katholische Veronika-Stiftung Rottenburg veröffentlicht hat. „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort …“, so lautet sein Titel.[1] Zwei Autorinnen haben über ein Jahr lang Gespräche mit dementen Menschen geführt und ihre Äußerungen und Gedanken festgehalten. Diese  sind oft so ehrlich und emotional, dass sie sprachlos machen. Auch Angst spricht daraus, Zorn und Trauer um das Leben, das in eine tiefe Dunkelheit hinein entglitten ist und in dem die Orientierung verloren gegangen ist. 

Es sind unterschiedliche Persönlichkeiten, die hier zu Wort kommen: eine alte Dame etwa, die Puppen sammelt, ein Philosoph, der früher Maschinenbauer war, eine Donauschwäbin, deren Gedanken, Gefühle und deren Sprache in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind. 

Gemeinsam ist in ihnen allen das Gefühl, das eine der Demenzkranken beschreibt: „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort …“ Ja, sie sind mit ihrem Denken und Fühlen in einer anderen Welt. Aber diese Welt ist für sie oft richtig und geordnet, während die Welt, die sie unmittelbar umgibt, sehr verstörend sein kann. Und manche Sicht auf das Leben, die sie ihren Gesprächspartnerinnen anvertrauen, ist erstaunlich hellsichtig. Auf die Frage: „Denken Sie, die bekommen nichts mehr mit?“ antwortet einer der Heimbewohner, der selbst auf dem Weg in die Demenz ist: „Nein, sie bekommen viel mit. Sie verarbeiten es anders.“ 

 In seiner Würdigung für Lothar Späth hat Landesbischof July gesagt: „Auch dann, wenn die Gestaltungskräfte unseres Lebens weniger werden, auch dann, wenn wir nichts mehr aus uns machen können und machen müssen, dann schenkt Gott uns Würde, Namen und Vollendung." Wenn wir uns auch ganz verlieren sollten, unsere Würde bleibt bestehen.


 

[1]Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hrsg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016

 

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