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Hatten Sie über die Oster-Feiertage auch Besuch? Und haben Gäste oder Gästinnen eingeladen? Wenn Sie jetzt innehalten oder sich vielleicht sogar ärgern, weil ich „Gästin“ gesagt habe – dann kann ich das gut nachvollziehen. Mir ging es nämlich selbst so, als ich das Wort „Gästin“ zum ersten Mal gehört habe. Da habe ich gedacht: Gast ist doch schon neutral und schließt alle ein. Warum muss man die weibliche Form so betonen? Das provoziert doch nur, wenn wir es mit dem Gendern übertreiben. Doch mittlerweile habe ich etwas gelernt: Das Wort „Gästin“ ist gar keine neu erfundene Form, sondern über 200 Jahre alt. Zu finden im „Deutschen Wörterbuch“, dass die beiden Brüder Jakob und Wilhelm Grimm verfasst hatten. Ich will das genauer wissen und finde Folgendes: Dass es eine weibliche Form von Gast gibt, hat mit der Herkunft des Wortes zu tun: Gast stand für einen Mann und wurde ursprünglich auch im Sinn von Feind und Krieger verwendet. Und für den weiblichen Gast brauchte es später deshalb die Gästin.
Das mit dem Gendern irritiert viele. So wohl auch einen Radiohörer: Er hat auf einen Beitrag über Ostern reagiert, in dem wir von den Jüngern und Jüngerinnen Jesu erzählen. Der Hörer hat in einem etwas vorwurfsvollen Ton gefragt, ob die Kirche jetzt auch bei diesem „Mist“ mitmachen müsse - er war der Meinung, die Jüngerinnen seien eine Gendererfindung. Er hat sich getäuscht. Das Wort „Jüngerin“ taucht im Neuen Testament auf. Zwar nur einmal – aber tatsächlich waren etliche Frauen unter denen, die Jesus nachgefolgt sind. Das macht eindeutig klar: Es waren nicht nur Jünger, die alles in ihrem Leben zurückgelassen hatten, sondern eben auch Jüngerinnen.
Worauf es mir ankommt: Ich horche auf, wenn ich den Eindruck habe, dass Worte provokant oder ungerecht gewählt werden. Und ja, es ist wichtig, dass wir benennen, um wen es geht; Mann, Frau oder Menschen zwischen den binären Geschlechtern. Weil Sprache diskriminieren kann. Und deshalb gilt es so zu formulieren, dass es gerecht und präzise ist – und dass alle sichtbar werden.
Aber ich finde, es ist‘s nicht wert, dass wir wegen des Gender-Themas streiten. Es gibt genug anderes, zum Debattieren. Meine Haltung ist: Ein bisschen mehr Entspannung bei dieser Geschichte – denn am Ende sind wir alle in derselben Lage: Wir sind nur Gast oder Gästin auf Erden.
https://gfds.de/gaestinnen-eine-legitime-form/
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42046Wie geht eigentlich trauern? Was macht man da? Mein Sohn hat mich das im vergangenen Jahr gefragt. Mehrfach. Innerhalb von wenigen Monaten sind drei Leute aus dem Familienkreis gestorben: Onkel Horst, Onkel Gerhard, Onkel Walter. Und dazu sein Kaninchen. Ich konnte ihm keinen wirklichen Ratschlag geben. Mir ist da bewusst geworden, dass ich das Thema Trauer selbst nicht richtig fassen kann, dass ich keine Worte habe. Weil ich nicht weiß, was da eigentlich mit mir passiert.
Jetzt, ein halbes Jahr später, ist aus der Frage für uns bei der katholischen Rundfunkarbeit ein Projekt geworden; weil nicht nur ich spüre: Beim Thema Trauer da gibt es viel Unsicherheit – und gleichzeitig großen Bedarf. Auch Hörer schreiben uns das immer wieder.
Ich habe mit Trauerbegleitern geredet, habe ein Praktikum bei einem Bestatter gemacht, habe einen besonderen Friedhof angeschaut und viel gelesen. Um zu verstehen, wie wir als Gesellschaft mit Trauer umgehen.
Mein Eindruck ist: Trauern ist für viele ein Tabu-Thema geworden. Weil Menschen nicht gut mit Veränderung im Leben umgehen können. Und sich verabschieden zu müssen, ist eine ganz besondere Herausforderung. Von Menschen oder Orten, von Lebensträumen, vom Job oder dem Berufsleben, von Beziehungen. Wir trauern ja nicht nur, wenn jemand stirbt.
Warum das so ist? Ich habe dafür zwei wesentliche Erklärungen gefunden: Wir leben in einer Zeit, in der für viele an erster Stelle steht: glücklich sein und gute Gefühle haben. Da ist wenig Platz für negative Emotionen. Unsere Leistungsgesellschaft verlangt außerdem, möglichst immer zu funktionieren. Zum zweiten: Traditionen und Trauerrituale sind verloren gegangen. Nur ein Beispiel: Wo es früher noch ein Trauerjahr gab und Menschen dunkle Kleidung getragen haben, da können wir heute nicht mehr so einfach erkennen, ob jemand trauert.
Wir möchten jetzt die Themen Trauer und Abschiednehmen sichtbar machen und gehen deshalb in die Öffentlichkeit. Mit Geschichten und Musik. Wir wollen signalisieren: Trauern gehört zum Leben. Es gibt kein Leben ohne Abschiede – und die verändern uns. Diese Veränderung gilt es anzunehmen, damit wir gut weiterleben können. Unser Projekt trägt deshalb den Titel „Trauern erlaubt!“. Ende Mai sind wir mit einer ersten Veranstaltung in Plochingen unterwegs.
Auf die Frage „Wie geht trauern?“ werden wir keine Antwort finden, die für alle passt. Weil jeder anders trauert. Meinem Sohn hat es geholfen durch Musik mit den Onkeln immer wieder verbunden zu sein: Er hat sich eine Playlist erstellt mit deren Lieblingssongs. Wenn also mal wieder „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“ läuft, dann weiß ich, wo er mit seinen Gedanken gerade ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42045Ich wusste nicht, was ein Ghostworker ist. Jetzt weiß ich’s: Das sind Menschen, die besondere Jobs machen, wichtige Jobs – und dabei unsichtbar bleiben. Wie ein Geist eben, deshalb heißen sie Ghostworkers, Geisterarbeiter.
Heute, am Tag der Arbeit, möchte ich von ihnen erzählen. Die Geisterarbeiter sollen sichtbar werden.
Michelle ist eine von ihnen. Sie hat Informatik studiert und daran mitgearbeitet, dass Chat GPT so groß und so großartig geworden ist. Ich nutze dieses Programm für Künstliche Intelligenz selbst und bin jedes Mal aufs Neue fasziniert, was alles damit möglich ist. Ich bin zum Beispiel nach Straßburg gereist. Und dafür habe ich mir ein komplettes Programm für einen 5-stündigen Besuch samt Restaurant-Tipp ausarbeiten lassen. Was mir bei allen Anfragen an ChatGPT auffällt: Die KI antwortet und reagiert immer freundlich, höflich und respektvoll – egal wie kritisch meine Anfrage ist.
Dafür sorgt unter anderem Michelle. Und damit sind wir auf der Schattenseite der faszinierenden Welt von KI.
Damit Künstliche Intelligenz mir klug antworten kann, muss sie mit riesigen Datenmengen gefüttert werden. Das ist offensichtlich. Damit KI aber keinen Hass verbreitet, nicht diskriminiert oder verletzt, muss man ihr ausdrücklich sagen, was sie nicht darf; sie antwortet nämlich nicht von alleine moralisch angemessen, da braucht es die Arbeit von echten Menschen wie Michelle. Und die sieht so aus: Michelle muss Gewaltvideos sichten, sich Pornografie anschauen, Terrorpropaganda markieren, Texte über Kindesmissbrauch lesen und bewerten. Damit ChatGPT weiß, was es löschen muss. Damit wir damit nicht konfrontiert werden.
Michelle arbeitet in Kenia für weniger als zwei Dollar in der Stunde. Wie es ihr mit dieser Arbeit geht, interessiert niemanden. Ihre Geschichte steht exemplarisch für eine alte Sache und bekannte Strukturen: Sie hat nur einen modernen Namen: Hier geht es um digitalen Kolonialismus, um Ausbeutung. Die Daten und die Arbeit kommen aus dem globalen Süden – Reichtum, Macht und Kontrolle gehen von uns aus dem Norden aus.
Die Entwicklung von KI lässt sich nicht mehr aufhalten. Aber es gibt Möglichkeiten, sich für die Rechte von ghostworkern einzusetzen: Zum Beispiel Vereinigungen wie die Datalabelers unterstützen. Oder politische Vertreter hier in Deutschland auffordern, das Lieferkettengesetz auf digitale Arbeit auszuweiten. Oder zumindest die Begriffe „Ghostworker“ und „digitaler Kolonialismus“ nicht mehr vergessen und davon erzählen.
Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen. Ingo Dachwitz/Sven Hilbig, C.H. Beck
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42044Vor einigen Wochen sind wir sind umgezogen, zwei Erwachsene, zwei Kinder und unser alter Kater. Es war ein Kraftakt, und noch immer ist längst nicht alles so, wie es sein soll. Gleichzeitig habe ich eine Erfahrung gemacht, mit der ich niemals gerechnet hätte: Unser Kater hat uns vorgemacht, wie umziehen gelingt. Also: Wie wir uns verhalten sollen, damit wir mit der Veränderung gut klarkommen. Und dabei hatte ich wirklich große Sorge, dass er uns die Wände hochgeht, weil er es nicht gewohnt ist, im Haus zu bleiben. Und dann ist folgendes passiert: Er hat sich die erste Woche komplett eingeigelt und fast nur geschlafen. In der zweiten Woche hat er sich an die Fenster gesetzt und einfach nur geschaut und beobachtet. Erst in der dritten Woche hat er uns signalisiert: Ich will raus. Wir haben ihm dann ein Geschirr angelegt, ihn an die Leine genommen und nach und nach mit ihm seinen Radius ums neue Haus herum vergrößert.
Ich war jeden Tag viele Stunden mit ihm auf der Wiese unterwegs und habe geduldig gewartet, bis er seine Mäusejagd beendet hat. Anfangs war ich wenig begeistert, weil ich eigentlich gar keine Zeit hatte, es standen noch so viele Kisten da und zurück an den Schreibtisch sollte ich auch. Und gleichzeitig habe ich gespürt: Es tut mir so gut, einfach nichts zu tun und geschehen zu lassen, was der Tag so bringt. Es war mir sogar recht, weil ich gemerkt hab, ich habe im Moment gar nicht die Power für mehr.
Mir ist klar geworden: Der Umzug war nicht nur eine äußere Veränderung. Kisten umzuziehen ist das eine. Aber auch meine Seele muss von einem Ort zum anderen gelangen. Ich brauchte einfach noch Zeit.
Umbrüche im Leben und Veränderungen erlebt jeder, immer wieder. Wichtig ist, dass es dabei einen Raum gibt für die Übergänge, zwischen alt und neu. Der amerikanische Autor und Organisationsberater William Bridges nennt diesen Übergangs-Raum „neutrale Zone“. Die Wiese vor dem Haus war einige Wochen lang meine neutrale Zone. Ein Ort fürs traurig sein, weil wir uns so wohl gefühlt hatten im alten Haus. Ein Ort für die Unsicherheiten: Funktioniert das mit dem längeren Schulweg für den Jüngsten, mit dem neuen Revier für den Kater? Die neutrale Zone hat mich herausgefordert, diesen Zwischen-Zustand auszuhalten. Denn genau das ist notwendig, damit die Energie zurückkommen kann. Und so ist es dann auch passiert. Der Kater kennt jetzt das ganze Quartier und findet alleine nach Hause; und ich fange ganz langsam und in Ruhe an, Bilder aufzuhängen und die Nachbarn kennenzulernen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42043Es war in diesen Tagen vor genau 80 Jahren, Anfang Mai 1945. Mein Uropa Paul erlebt mit den Enkeln in einem Dorf in der Nähe von Ulm die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs; er hat sich um die Tochter und deren Kinder gekümmert, weil der Schwiegersohn im Krieg ist. Als er in der Ferne Panzerlärm hört, hofft er, dass es die Amerikaner sind. Aber sicher ist er sich nicht. Deshalb schickt er einen der Enkelsöhne auf den Dachboden und weist ihn an: „Nimm ein weißes Bettlaken und schwenk es aus dem Fenster!“ Es soll ein unmissverständliches Zeichen sein: Wir wollen Frieden, schießt nicht auf unser Haus! Die Panzer kommen näher und rollen durch die Dorfstraße – und mit ihnen der Frieden. Es sind die Amerikaner.
Wenige Tage später ist mein Uropa zum Stammtisch in die Dorfkneipe gegangen. Zum ersten Mal nach sechs Jahren. Als Hitler den Krieg begonnen hatte, war er Gemeinderat. Mit Kriegsbeginn hatte er sein Amt niedergelegt und ist von diesem Tag an nicht mehr beim Stammtisch gewesen. Er und seine Stimme gegen die Nationalsozialisten waren dort nicht erwünscht. Als mein Uropa 1945 zurück ist am Dorf-Stammtisch, haben die anderen ihn gefragt: „Paul, woher hasch Du des gwisst?“
Das ist eine Geschichte von vielen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden sind. Ich erzähle sie bewusst heute, am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau durch die US-Armee.
Meine Kinder sind die letzte Generation, die solche Geschichten noch live von Oma und Opa hören. Denn diejenigen, die sie erzählen können, sind mittlerweile weit über 80 Jahre alt. Man kann jetzt die Frage stellen: Ist es heute, so viele Jahrzehnte später, noch notwendig, dass wir Kinder und Jugendliche mit dieser Zeit konfrontieren? Es ist doch alles lang vorbei und sie haben damit nichts zu tun. Für mich ist die Antwort klar: JA! Es ist notwendig und es ist wichtig. Weil wir alle unsere Geschichte kennen müssen, weil wir verstehen müssen, wie alles gekommen ist. Um Verantwortung übernehmen zu können, um gute Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.
Ich bin mir sicher: Mein Uropa würde uns vor den Populisten warnen, die heute die Katastrophe des Nationalsozialismus verharmlosen und wieder versuchen, Menschen auszugrenzen. Wie damals.
Damit wir dem entgegentreten können, müssen wir uns erinnern, wir müssen wissen, was geschehen ist. Und dazu braucht es Geschichten, Fakten und Erinnerungsorte.
Damit wir und unsere Kinder nicht sagen können: „Mir hams ja net gwusst.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42042Ostern klingt noch nach in mir. Aber anders als in all den Jahren zuvor. An Ostern feiern Christen die Auferstehung Jesu vom Tod. Ich war lange ziemlich unsicher: Wie soll ich mir diese Auferstehung vorstellen? Wie kann ich sie verstehen? Jetzt habe ich eine Antwort gefunden, die für mich passt.
Mir fällt es schwer zu glauben, dass Jesus nach dem Tod am Kreuz körperlich genesen ist und tatsächlich wieder geatmet hat. Woran ich aber fest glaube: Jesus ist nach seinem Tod nicht einfach verschwunden. Und das hat für mich einen Grund: Er hat Menschen durch sein Leben so tief berührt und bewegt, dass er mit ihnen auch nach seinem Tod verbunden war. Mit Maria Magdalena, die ihm an Ostern als erste begegnet; oder mit den beiden Jüngern, die berichten, wie er sie auf ihrer Flucht vor dem Kreuz und auf dem Weg nach Emmaus begleitet. Diese Begegnungen müssen weit mehr gewesen sein als eine bloße Erinnerung an Jesus. Ich denke, die Jünger und Jüngerinnen haben seine Anwesenheit leibhaftig gespürt. Weil seine Energie geblieben ist; über den Tod hinaus.
Diese Vorstellung beschäftigt mich, seit ich mit dem Philosophen Wilhelm Schmid gesprochen habe. Er hat mir vom Tod seiner Frau erzählt, die Beziehung zu ihr war sehr eng. Für ihn war dieser Tod trotzdem nicht das Ende ihrer Liebe. Nur der „Aggregatzustand“ hat sich verändert, so hat er es formuliert. Aber die Energie seiner Frau, die sei geblieben. In manchen Situationen sei sie ihm noch heute so nahe, als ob sie real da wäre. Auch wenn es ihm natürlich weh tut, dass seine Frau nicht mehr körperlich da ist, er ist noch immer erfüllt von ihrer Liebe.
Liebe, das ist das große Wort im Christentum. Um nichts Anderes geht es. Gott hat seinen Sohn aus Liebe zu den Menschen gesandt. Jesus hat die Menschen geliebt, so radikal und ohne Kompromisse, dass er am Ende deshalb sterben musste.
Die für mich schönste und einfachste Beschreibung, wer oder was Gott ist, steht in der Bibel und lautet: „Gott ist Liebe“ (1Joh 4,16). Und dann ergibt das alles für mich einen Sinn: Die Auferstehung Jesu ist eine Liebesgeschichte, die nie endet. Zwischen dem Vater im Himmel und dem Sohn auf unserer Welt, zwischen Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern. Eine Liebesgeschichte, die jedes Jahr an Ostern wieder erzählt wird. Und die mich jetzt nochmals ganz neu fasziniert hat.
Wilhelm Schmid: Den Tod überleben. Vom Umgang mit dem Unfassbaren, Insel Verlag
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42041Der Satz hat mich getroffen wie eine Ohrfeige. Und er schmerzt mich noch immer, obwohl ich ihn schon vor einigen Monaten gehört habe. Es war Anfang des Jahres. Der Bundestag hat über Migrationspolitik diskutiert. Beide großen Kirchen hatten im Vorfeld eine gemeinsame Stellungnahme an alle Abgeordneten geschickt und darin zu den Anträgen der Unionsfraktion Stellung genommen. Im Wesentlichen ging es den Kirchen um eine menschenwürdige Gestaltung der deutschen Migrationspolitik. Als Kommentar dazu fiel dann dieser Satz vom Vizefraktionschef der CDU. Es waren nur vier Worte: „Überrascht nicht. Interessiert nicht.“ Boah! Das sitzt.
Gut, ich muss anerkennen: In Deutschland gibt es inzwischen mehr konfessionslose Menschen als Katholiken und Protestanten zusammen. Die Überzeugungskraft der Kirchen schwindet. Darüber will ich nicht jammern; mit einer pluralen, gleichberechtigten Gesellschaft kann ich gut leben. Was mich allerdings nicht nur wundert, sondern eben schmerzt, ist die Lässigkeit, mit der jahrhundertelang gewachsene und oft hart errungene Grundüberzeugungen einfach beiseite gefegt werden: Interessiert nicht, also weg damit! Ich muss dagegenhalten. Denn das christliche Menschenbild, das hier scheinbar ausgedient haben soll, hat für mich große Stärken. Und zwar nicht nur für überzeugte Christen, sondern für die ganze Gesellschaft.
Dazu gehört für mich an erster Stelle die Einsicht: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Und, so die säkulare Schlussfolgerung, ausgestattet mit unverbrüchlicher Würde. Zweitens und davon nicht zu trennen: Jeder Mensch ist begrenzt und macht Fehler. Gottes Ebenbild, aber nicht selbst ein Gott. Auf Vergebung angewiesen und auf einen fehlerfreundlichen Umgang miteinander. Drittens darf der Mensch voller Zuversicht sein, dass Zukunft gestaltet werden kann. Denn Zuversicht ist eine Widerstandskraft gegen reale und diffuse Ängste. Und schließlich die Einsicht, dass kein politisches System das Paradies auf Erden herstellen kann, aber trotzdem für menschenwürdige Zustände verantwortlich ist. Alles nicht überraschend? Ich finde schon. Sehr sogar. Eine großartige Errungenschaft. Lassen Sie sich das von niemandem ausreden!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42000Bald ist es so weit: Am 17. Mai heiratet mein Patenkind. Schon lange vor Weihnachten ist die Einladung gekommen, und ich hab‘ mich riesig gefreut. Heiraten ist in der jungen Generation ja nicht mehr so selbstverständlich. Nun wird es sogar eine kirchliche Trauung geben; das ist noch seltener. Sie findet allerdings nicht in der Kirchengemeinde statt, zu der die beiden gehören, sondern auf einer Burg. Die bietet gleichzeitig den passenden Rahmen für die anschließende Feier.
Ich habe die Location gleich mal gegoogelt und, keine Frage, die macht was her: Der alte Rittersaal ist edel eingerichtet, aber bei schönem Wetter soll eh alles draußen stattfinden. Der Blick über die Zinnen bietet fantastische Aussichten und die alten Gemäuer eine tolle Kulisse für lange Fotostrecken. Wer will, kann im Hotel im Südflügel übernachten, alles inclusive. Ich ertappe mich allerdings bei dem Gedanken, was das wohl alles kostet. Und wer es zahlt. Ist es heute noch so, dass die Eltern für die Kosten aufkommen? Mein Patenkind ist Anfang dreißig. Da hat man vielleicht selbst schon was auf die hohe Kante gelegt.
Trotzdem: Vielleicht heiraten heutzutage auch deshalb so wenige Paare, weil die Erwartungen an ein Fest so hoch sind. Meine Nichte hat mir von den Junggesellinnen-Abschieden erzählt, mit denen sie gerade ihre Wochenenden verbringt. Ihre Freundinnen versuchen sich dabei mit den geplanten Aktionen gegenseitig zu überbieten. Geht es vielleicht noch ausgefallener, noch exquisiter, noch krasser? Bestimmt. Aber es geht auch ganz anders. I
nzwischen bieten viele Kirchengemeinden an einem Tag im Jahr sogenannte Pop Up-Hochzeiten an. Für einen festlichen Rahmen und eine schön geschmückte Kirche sorgt die Gemeinde. Auch für die passende Musik. Ob frisch verliebt, standesamtlich verheiratet, ein Jubelpaar oder queer; alle Paare sind dabei herzlich willkommen. Nicht mehr als 90 Minuten werden für ein Vorgespräch, eine Zeremonie und einen Empfang veranschlagt. Alles an einem Tag. Und wer zum Beispiel von einem solchen Angebot der evangelischen Kirche in Überlingen am Bodensee Gebrauch machen möchte, muss nicht mal auf ein Schloss verzichten. Der Garten Eden, die Auferstehungskirche in Überlingen oder die Kapelle auf Schloss Langenstein sind bestens vorbereitet auf zahlreiche Paare, die sich segnen lassen möchten. Am 25. Mai, also genau heute in vier Wochen, heißt es dort: „Einfach Ja!“ Wäre das nicht was?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41999An diesem Schabbat lesen wir in unserem Wochenabschnitt über die Speisegesetze des Judentums und über die für den Verzehr „reinen“, also erlaubten Tiere, sowie über die „unreinen“, und daher zum Verzehr unerlaubten Tiere. Demnach könnte man sagen, dass die Tora,- das Wort unseres G-ttes- von uns Selbstbeschränkung und Selbsterziehung erwartet. Jedoch, das Judesein sieht nicht den Eremiten, oder Asketen als sein Ideal an.
Es ist bezeichnend, dass die Tora zum Abschluss des Kapitels über die erlaubten und unerlaubten Speisen, ihre Betrachtung mit den Worten abschließt: „...darum heiligt euch und ihr sollt heilig werden, denn heilig bin Ich- (G-tt) und machet eure Seelen nicht unrein...(3.B.M. 11:44).“ Ein jeder Christ-, katholisch oder evangelisch, könnte hier aufhorchen und sich fragen, ob ausschließlich dieser Weg zur Heiligkeit führt? Als eine jüdische Klarstellung könnte ich folgendes anbieten: Wie allgemein bekannt ist der „Esstrieb“ neben dem Geschlechtstrieb der stärkste, intensivste menschliche Instinkt. Jedoch, wir, die im Ebenbild G-ttes erschaffen sind, sind auch stark genug uns von diesen Trieben nicht beherrschen zu lassen, sondern wir streben danach sie zu beherrschen. Die Grenzen machen den Juden zum Herrscher über sich selbst, über seine Begierden. Wenn die Tora gerade diese Gebote mit der Aura der Heiligkeit verbindet, dann will sie uns lehren: Beherrsche deine Triebe, denn damit bewährst Du Dich als Ebenbild G-ttes. Mit dem Willen dazu beginnt jede Selbsterziehung.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41830Neulich habe ich mir im Internet eine Hülle für mein neues Handy bestellt. Keine große Sache. Die Bestätigungsmail kam prompt. Ich wollte sie gerade schließen, aber dann habe ich doch angefangen zu lesen. Und nicht mehr aufgehört. Denn da stand – kein Scherz! – der folgende, ziemlich lange Text: „Gerade als wir dachten, dass unser Tag zu Ende wäre, kam Emily total aufgeregt und wie wild in das Büro gesprintet: Es ist passiert! – rief sie außer Atem. Du fragst dich, was der Grund für all diese Aufregung war? Nur die Tatsache, dass Martina – also Du – gerade eine Bestellung bei uns aufgegeben hat!
Die Energie im Gebäude schoss sofort in die Höhe. Konfetti fiel herab, die Musik fing an zu spielen und unser Lächeln wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. Einige von uns lachten, andere weinten und wieder andere begannen, deinen Namen laut zu rufen. Wir erwischten sogar Big J aus der IT-Abteilung – der seit Jahren nicht mehr gelächelt hatte – mit einem fetten Grinsen im Gesicht. Nachdem sich alle High-Fives und Umarmungen gegeben haben, haben wir uns sofort daran gemacht, deine Bestellung für den Versand vorzubereiten. Vertrau uns: Es wird atemberaubend! Wir könnten nicht dankbarer für deine Unterstützung sein und sind überglücklich, dich als Teil der Familie zu haben. Alles Liebe, das Firmen-Team.“
Soweit die Mail, die ja eigentlich nur eine simple Kaufbestätigung sein sollte. Ich war baff. Was für eine gnadenlose Übertreibung! Und alles wegen einer ganz normalen Handyhülle. Die spinnen doch! Andererseits: Ihre Strategie ging auf. Ich hatte die verrückte Botschaft von Anfang bis Ende gelesen. Und ganz ehrlich: Ein kleiner Funken Euphorie ist da schon übergesprungen. Und hat mich an einen erinnert, der sich auch so unbändig freuen konnte. Bei ihm klingt das so: „Und das sage ich euch: Genauso freut sich Gott im Himmel über einen Menschen, der sein Leben ändert. Er freut sich mehr als über 99 Gerechte, die es nicht nötig haben, ihr Leben zu ändern.“ Das sagt Jesus am Ende einer Geschichte, die von einem verloren gegangenen und wieder gefundenen Schaf handelt. Vielleicht würde er sie heute ja ganz anders erzählen. Mit Emily und Big J aus der IT-Abteilung, mit Konfetti, Umarmungen und High-Fives. Hauptsache, die unbändige Freude kommt rüber, die Gott empfindet, wenn ein Mensch sich von ihm finden lässt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41998