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16JUL2024
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Letzte Woche auf der Titelseite der Südwestpresse: „Unter Tränen hat Fußball-Bundestrainer Julian Nagelsmann an die Deutschen appelliert, den Spirit seines Teams zu übernehmen und in schweren Zeiten zum Gemeinsinn zu finden, statt im Meckern und Egoismus zu verharren.“ Und wörtlich hat ihn die Zeitung zitiert: „Ich wünsche mir für dieses Land, dass wir verstehen, dass es gemeinsam einfach besser geht.“

Wo der Mann Recht hat, da hat er Recht, würde ich sagen. Der Spirit und der Einsatz der ganzen Mannschaft beim Spiel gegen Spanien hat sogar mich gepackt – und ich habe von Fußball so was von keine Ahnung. Der Deutschen Mannschaft zuzusehen, wie sie nicht aufgegeben hat – wie die Spieler als Team GEMEINSAM nicht aufgegeben haben, das hat tatsächlich gutgetan. Ich fand’s tatsächlich inspirierend.

Andererseits kann ich unserem Bundestrainer trotzdem nicht so ganz zustimmen. Ich glaube nicht daran, dass man den Team-Spirit einer Fußball-National-Elf so einfach auf den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft übertragen kann. Klar geht es besser gemeinsam, wenn man ein Ziel erreichen will. Im Fußball ist das aber auch einfach, weil das Ziel klar ist: nämlich das Spiel zu gewinnen. Aber welche Ziele wollen wir in unserer Gesellschaft erreichen? Das müssten wir erst einmal klären. Die Spieler einer Mannschaft haben außerdem wunderbar klare Regeln, nach denen sie sich während des Spiels richten können. Und jeder hat seinen Platz: Verteidigung, Rechts Außen, Torwart usw… In unserer komplexen Gesellschaft muss sich jeder einzelne seinen Platz erst einmal selbst suchen – auch nicht gerade einfach.

Ich fürchte deshalb, dass der Appell von Nagelsmann ein Stück weit verpuffen wird. Einfach, weil ich denke, dass etwas fehlt in seinem Vergleich: Nämlich die klaren Regeln, die im Fußball gelten; und dass alle Mitglieder des Teams ihren Platz im Gemeinschaftsgefüge genau kennen. Vor allem aber: dass alle das gleiche Ziel vor Augen haben. Ich meine, wenn wir diese Seite mit einbeziehen, dann können wir uns von unserer Fußball-Nationalmannschaft tatsächlich inspirieren lassen und anfangen, zu fragen: Wo wollen wir den eigentlich gemeinsam hin? Was ist das Ziel, das die Menschen in unserem Land zu einer Mannschaft werden lässt? Ich glaube, mit diesen Fragen im Kopf kann sich wirklich wieder so etwas wie Teamgeist in unserer Gesellschaft entfalten. Und helfen, dass wir verstehen, dass es gemeinsam einfach besser geht.

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15JUL2024
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Jetzt ist sie vorbei, die Fußball-Heim-EM. Oder war’s die WM? Nein, Quatsch mein Desinteresse ist nur Show, und normalerweise schaue ich tatsächlich keinen Fußball. Aber nach der Vorrunde ist der Funke sogar auf mich übergesprungen. Und während der Partie Deutschland – Spanien war ich am Überlegen, wo und mit welchen Leuten zusammen ich das Halbfinale gucken wollte – bis Deutschland doch noch ausgeschieden ist. Da war bei mir dann leider die Luft wieder raus.

Mir hat das richtig leidgetan. Denn es war wirklich schön, etwas zu haben, bei dem man mitfiebern konnte. In den Wochen vor dem EM-Start war ich da noch skeptisch. Mir war ein bisschen zu viel die Rede von „neuem Sommermärchen“ und dem „Fußball-Fest, das ganz Europa zusammenbringt“. Ein enormer Anspruch an ein Fußballturnier. Mir war der zu hoch gegriffen.

Die EM hat mich dann doch gepackt. Aber genauso schnell war es damit leider auch wieder vorbei. Ich bin nun mal nicht der Typ, für den Dabeisein alles ist. Mit Fans aus anderen Ländern genauso mitfiebern, wie fürs eigene Team? Ich gebe zu – so groß war meine Verbundenheit dann doch nicht.

Ich muss zugeben, dass die Fußball-Europameisterschaft ein mulmiges Gefühl bei mir hinterlässt. Wegen diesem übergroßen Anspruch: Endlich DAS unbeschwerte Fest statt der ewigen Krisen. DAS Sportereignis, bei dem Dabeisein alles ist, und ganz Europa gemeinsam feiert – aber jetzt ist das Fest vorbei. Und eigentlich ist die Party doch schon vor dem großen Finale abgebröckelt – mit jeder Nation, die ausgeschieden ist, ein bisschen mehr.

Nebenbei: Wer ist denn jetzt eigentlich Europameister geworden? Nein, nein, wieder Quatsch – so viel Interesse ist bei mir doch noch geblieben. Ich gratuliere den Europameistern auch von Herzen. Und denke: Es war eine tolle Zeit. Das Fußball-Fest hat es tatsächlich geschafft, die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Ecken Europas gemeinsam und friedlich zum Feiern zu bringen. Es geht also!

Und trotzdem ist es halt Fußball. Einfach ein Event, das ein paar Wochen dauert und mit dem heutigen Morgen auch schon wieder vorbei ist. Um Länder und ihre Menschen tragfähig und auf Dauer zusammenzuschweißen, braucht es, meine ich, doch etwas mehr. Und was das sein könnte, das uns als Europäer zu einer starken Gemeinschaft zusammenschweißen könnte, das frage ich mich gerade heute Morgen wieder neu - jetzt, wo das Sommermärchen vorbei ist.  

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13JUL2024
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Joachim – diesen Namen haben mir meine Eltern gegeben. Und es ist der gleiche Name, den auch mein Patenonkel hatte. Ich bin froh, dass ich nur diesen einen Namen habe. Weil er mich immer an meinen Patenonkel erinnert. Leider habe ich ihn nicht besonders lange gekannt.

Jedes Jahr erinnere ich mich an den Tag, an dem sich für mich, meine Eltern und meine Großeltern vor mittlerweile 57 Jahren das Leben schlagartig verändert. Ich bin damals fast 6 Jahre alt und kann es zuerst gar nicht verstehen, dass sich so viel ändert. Mein Patenonkel Joachim kommt mit 23 Jahren bei einem Autounfall ums Leben.

Er hatte den gleichen Vornamen wie ich, Joachim. Was lag da näher, meine Großmutter zu trösten mit dem Satz: „Du hast doch noch mich, noch einen Joachim.“

Erst viel später habe ich die wirkliche Tragweite verstehen können. Er war das jüngste Kind meiner Großeltern neben seinen zwei Schwestern. Meine Mutter war die älteste Schwester. 1943, also mitten im zweiten Weltkrieg, wird er in Elbing in der Nähe von Danzig geboren, heute ist es polnisch und heißt Elblag.

Er ist noch ganz klein, als meine Großmutter mit den drei Kindern flieht und einen der letzten Züge erreicht, die nach Berlin fahren. 1952 wird dann Kassel die neue Heimat, weil mein Großvater bei Henschel Arbeit im Lokomotivbau findet.

Das Gesellenstück von meinem Patenonkel, einen glänzenden Hammerkopf, habe ich heute noch auf meinem Schreibtisch liegen, eine schöne Erinnerung. Alles ist gut gegangen bis dahin. Und dann ein Autounfall in Trier, wo er bei der Bundeswehr war.

Zur Beerdigung durfte ich damals nicht mit, meine Eltern wollten uns Kinder noch ein wenig schützen vor der Erfahrung des Todes, aber irgendwie hat mir immer etwas gefehlt, der letzte Abschied. Sehr häufig sind wir an seinem Grab gewesen. Das gibt es jetzt schon lange nicht mehr. Gerne erinnere ich mich an ihn. Er hat mir zum Beispiel die Liebe zur Modelleisenbahn mitgegeben. Wenn ich meine Modelleisenbahn heute fahren lasse, erinnert es mich an ihn und ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn er heute noch leben würde. Er wäre jetzt 80 Jahre alt.

Mein Name erinnert mich bis heute an ihn.

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12JUL2024
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"Hallo, das darf doch jetzt nicht wahr sein. Da kommt mein Bruder nach Hause und mein Vater hat nichts Besseres zu tun, als ein Fest zu feiern. Weil er ihn heil zurückbekommen hat. Dabei hat der doch nur Mist gebaut.“

Vielleicht ahnen Sie es schon: Ich erzähle Ihnen gerade eine Geschichte aus der Bibel. Sie kennen sie unter dem Namen „Der verlorene Sohn“ oder auch „der barmherzige Vater“. Ich wähle heute nicht den Blick vom Vater oder dem verlorenen Sohn, sondern vom zweiten, älteren Sohn. Vermutlich ungewöhnlich, aber ich finde sehr aufschlussreich.

Während der jüngere Sohn sich das Erbteil auszahlen lässt, fortzieht und alles verprasst, um dann wieder zum Vater zurückzukommen und darum zu bitten, eine Anstellung zu bekommen, bleibt der ältere Sohn. Als der verlorene Sohn wieder zurückkommt, feiert der Vater ein großes Fest mit ihm, weil er ihn gesund wieder in die Arme schließt.

Der ältere Sohn hingegen will nicht mitfeiern. Er hat die ganze Zeit für den Vater gearbeitet, also alles richtig gemacht. So zumindest die landläufige Deutung.

Wenn ich die Perspektive zum älteren Sohn wechsele, stelle ich ziemlich schnell fest, dass der Vater zwar sagt: „Alles was mein ist, ist auch dein.“ Auch der ältere Sohn kann sich das Geld nehmen, um mit seinen Freunden ein Fest zu feiern. Vielleicht wünscht er sich aber, dass der Vater ihm mal etwas schenkt und ihm damit Achtsamkeit entgegenbringt. Ich kann mir auch vorstellen, dass er gerne mal was ganz anderes machen würde, so wie sein jüngerer Bruder. Aber er hatte nie den Mut dazu.

Manchmal ist es gut, die Perspektive zu wechseln. Auf relativ einfache Weise kann ich da einige Dinge neu erleben und erfahren.

Besonders bei Konflikten ist das ein Mittel, was gut zum Ziel führen kann, nämlich zu einem Kompromiss zu kommen, mit dem beide Parteien leben können. Mit einem Perspektivwechsel kann ich mich aus der Sicht des anderen in den Sachverhalt hineinversetzen und vielleicht spüren, dass das, was dem anderen wichtig ist, gar nicht so unannehmbar ist. Und ihn so besser verstehen.

So kann ich bei der Geschichte vom verlorenen Sohn feststellen, dass dieser ältere Sohn, der immer beim Vater bleibt, doch auch irgendwie verloren ist, nur auf eine ganz andere Art. Und auch er braucht die Hilfe und das gute Wort des Vaters.

Jetzt verstehe ich ihn noch viel besser. Und ich hoffe, dass der Vater auch ihn in die Arme nimmt und mit ihm feiert.

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11JUL2024
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Sie schießen wie Pilze aus dem Boden, Baustellen, überall in der Stadt. Bauarbeiter, die die Straße und die Bürgersteige aufreißen, um neue Rohre, Leitungen und Glasfaser zu verlegen. Lärm, Schmutz, schlechte Luft…

Muss das jetzt sein?

Muss das jetzt sein, denke ich auch, wenn mit einem neuen Projekt quasi eine „Baustelle“ auf meinem Arbeitsplatz Einzug hält, oder - wie vor eineinhalb Jahren – die sanitären Anlagen im Pfarrhaus umgebaut und erneuert werden mussten. Wäre es nicht noch ein bisschen so gegangen?, habe ich mich gefragt. Und die ehrliche Antwort ist: Nein!

Baustellen sind zwar nichts, wonach ich mich sehne. Denn Baustellen bringen eben Schmutz und Unordnung in den Tagesablauf.

Aber, Baustellen bringen auch etwas Neues. Wenn die Straße neu gebaut ist und es sich super darauf fahren lässt, bin ich richtig froh. Das neue Arbeitsprojekt entwickelt sich mittlerweile sehr gut. Und wenn ich ins Bad gehe, freue ich mich jedesmal, weil es einfach schön geworden ist. Ohne Baustelle wäre hier zumindest nichts besser geworden.

Gustav Heinemann, lange Jahre sehr aktiv in der evangelischen Kirche und von 1969 bis 1974 Bundespräsident, hat das einmal so in Worte gefasst: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“

Meine Schwiegermutter hat nie lange gezögert. Wenn sie etwas neu machen wollte, dann hat sie geplant und es bald umgesetzt. Zu ihr in die Wohnung zu kommen hat manches Mal eine Überraschung gebracht.

Ich tue mir da oft viel schwerer und warte ewig ab. Und das, obwohl ich ahne, wie schön es hinterher sein wird. Aber da ist dieser innere Schweinehund, den es zu überwinden gilt. Ich schaffe es am besten, wenn ich einfach mal an einer Ecke anfange. Jetzt ist der Startpunkt gesetzt und das Ziel greifbar. Und wenn es fertig ist, bin ich glücklich und stolz auf mich selbst.

Baustellen kosten Zeit, schaffen Verdruss, fordern heraus.

Aber Baustellen bedeuten auch, ich mache mich und mein Umfeld fit für die Zukunft.

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10JUL2024
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Ich singe gerne, ich singe oft. Beim Singen komme ich auf andere Gedanken, dabei scheint manches viel fröhlicher. Das war schon zu meiner Grundschulzeit so. In unserem Klassenzimmer stand ein Flügel und unser Klassenlehrer forderte uns jeden Tag zu Beginn auf, uns drum herum zu stellen und dann haben wir gemeinsam gesungen. Da haben wir jeden Morgen unseren Spaß gehabt und sind so richtig wach geworden. Und aus unserer Klasse ist eine tolle Klassengemeinschaft geworden, das Singen hat uns zusammengeschweißt. Bis heute habe ich die Melodien im Kopf und von den meisten Liedern kann ich zumindest die erste Strophe immer noch auswendig.

Heute höre ich ganz oft von verschiedenen Menschen, dass sie nicht singen können. Aber beim Singen geht es erstmal nicht darum, jeden Ton zu treffen. Beim Singen geht es um so viel mehr, Gemeinschaft und Vertrauen. Und wenn ich mich traue, auch mal die schiefen Töne zu riskieren, dann kann einiges passieren.

In einem Lied von Johann Gottfried Seume aus dem Jahr 1804 heißt es in der ersten Strophe:

„Wo man singet, da lass dich ruhig nieder,

ohne Furcht was man im Lande glaubt;

wo man singet, wird kein Mensch beraubt,

böse Menschen haben keine Lieder.“

Wenn Menschen miteinander singen, dann fühlen sie sich sicher. Ich finde, das ist ein interessanter Gedanke. Ich erinnere mich da sofort an Nachtwanderungen mit Kindern, bei denen sie lauthals singen. Da verschwindet die Angst vor der Dunkelheit schnell. Ältere Menschen singen gerne Volkslieder, weil sie den Text kennen und sich dabei sicher und weniger vergesslich fühlen.

Oder heute Abend im Halbfinale - bevors losgeht und die beiden Mannschaften und auch die Fans ihre Nationalhymne singen - sich nochmal voll konzentrieren, die Anspannung loslassen und sich so sicherer und mehr als Team fühlen.

Ich wünsche mir, dass Sie sich auch trauen zu singen. Das bringt so viel Freude und hebt die Stimmung. Probieren Sie es einfach mal. Singen Sie ein Lied mit, das im Radio gespielt wird und das sie kennen. Vielleicht können sie sich so Luft machen, wo ein Gedanke sonst immer drückt und sich so sicherer und stärker fühlen.

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09JUL2024
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Es grünt und blüht. Mittlerweile ist auch in Furtwangen im Schwarzwald der Sommer angekommen. Jeden Morgen weckt mich ein vielstimmiges Konzert aus Vogelkehlen.

Ein Paar Rotschwänzchen machen mir dabei eine besondere Freude. Jedes Jahr kommen sie wieder und suchen sich direkt unter dem Vordach vom Pfarrhaus einen Nistplatz.

Dort sind sie beschützt, sicher vor Unwetter und auch vor Katzen und anderen Tieren. Wenn ich ins Haus hinein oder hinaus gehe, verhalten sie sich ganz still und warten ab, bis ich wieder verschwunden bin. Es braucht schon eine Zeit, bis ich auch hinter der offenen Tür stehen kann und ganz still beobachte, was das Vogelpärchen so macht. Wenn ich den beiden so zuschaue, dann muss ich immer wieder an einen Psalm denken, der von Vögeln spricht, die ihr Nest im Haus Gottes haben. Es ist der Psalm 84 und dort heißt es: „Wie liebenswert ist deine Wohnung, Herr der Heerscharen. Auch der Sperling findet ein Haus und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen.“ In einem liebevollen Nest, zu Hause bei Gott – was für ein schönes Bild.

So wie die Vögel brauchen auch wir Menschen ein gutes und sicheres zu Hause. Wenn wir in unsere Welt hineinschauen und die Nachrichten hören, dann scheint aber alles gar nicht so sicher zu sein. Umso mehr sehnen wir uns dann nach Sicherheit. Manche fordern, doch endlich die Grenzen dicht zu machen und unliebsame Personen einfach auszuweisen – um sicherer und besser leben zu können. „Wir selbst sollen zuerst kommen“, lautet die Forderung. Aber die Parole „wir zuerst“, eint nicht wirklich, sondern spaltet eher, weil viele dabei auf der Strecke bleiben. Und so kann doch kein liebevolles Zuhause aussehen.

Unsere Welt ist näher zusammengerückt und was wir brauchen, das ist ein aufeinander zugehen und den Kontakt mit den anderen, damit wir auch wirklich zusammenwachsen. Das gibt Sicherheit! Denn Freunde können miteinander die Welt gestalten und sich gegenseitig behüten. Die Europameisterschaft, die ja gerade in Deutschland stattfindet, lässt uns das auch am Tag des ersten Halbfinales ganz praktisch erfahren. Feiern mit vielen Menschen aus vielen anderen Ländern. Und die sollen sich hier auch sicher und willkommen fühlen können, wie die Vögel im Nest unter meinem Pfarrhausdach.

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08JUL2024
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„Weihnachten komme ich wieder.“

Sage ich meinen Eltern, als ich von meiner Geburtsstadt Kassel nach Freiburg zum Studium fahre. Es ist der Sommer im Jahre 1984 und ich habe eine tolle Zeit vor mir, die viele neue Erfahrungen bringen wird. Für mich ist es ein wichtiger Schritt, um selbständig zu werden. 500 km weit weg von zu Hause. Ich kann nicht mal eben nach Kassel fahren.

Rückblickend weiß ich, dass es für meine Mutter eine Zeit war, die ihr auch etwas Angst gemacht hat. Mehrmals hat sie mich gefragt, ob ich nicht doch mal nach Hause kommen will. Sie ist ein Mensch gewesen, der gerne geklammert hat. Gerade deshalb habe ich diesen Abstand gebraucht. Telefoniert habe ich immer wieder mal mit ihr.

Es hat mir gut getan, und es hat auch ihr gut getan. Ich bin davon überzeugt, dass ich nur auf diese Weise frei und unabhängig werden konnte. Und es hat auch später im Leben immer wieder Situationen gegeben, in denen sie mich am liebsten wieder bei sich gehabt hätte. Mehrmals hatte ich das Gefühl, dass sie mir eigene Entscheidungen nicht zugetraut hat.

Mittlerweile bin nicht nur ich, sondern sind auch meine eigenen Kinder erwachsen. Sie haben sich ein eigenes Leben aufgebaut. Gerade wegen meiner eigenen Erfahrungen habe ich ihnen immer sehr viel Freiraum für eigene Entscheidungen gelassen. Und ich spüre ihre Dankbarkeit dafür.

Ich bin davon überzeugt, dass sich in solchen Entscheidungssituationen zeigt, ob ich bereit bin, meine Kinder frei und selbständig werden zu lassen. Das ist manchmal schwer und tut auch ein bisschen weh. Aber schon bei der Geburt der Kinder müssen sich Eltern im Klaren sein, dass die Kinder im Lauf der Zeit ein eigenes Leben haben werden.

Lange schon ist mir ein Spruch von Khalil Gibran im Sinn: „Solange deine Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie größer werden, schenk ihnen Flügel.“ Und ich möchte es sogar noch verstärken: Kräftige Wurzeln und tragfähige Flügel.

Ich freue mich, dass meine Kinder alleine weit fliegen und ich bin stolz, dass sie so kräftige Wurzeln haben und wissen, dass sie egal wann und wo und warum bei mir Halt finden, wann immer sie es brauchen.

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06JUL2024
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Sein Geburtstag ist nicht bekannt. Auch das Geburtsjahr nur so ungefähr: Um 1370 soll er auf die Welt gekommen sein. Sein Todestag aber steht fest. Am 6. Juli 1415 ist der Theologe Jan Hus auf einem Scheiterhaufen in Konstanz am Bodensee verbrannt worden. Ein schrecklicher Tod und ein trüber Gedenktag. Ähnlich wie hundert Jahre später Martin Luther hat auch Jan Hus den Amts- und Machtmissbrauch in der Kirche seiner Zeit scharf kritisiert. Den drei Päpsten, die sich damals um die Herrschaft gestritten haben, hat er allen die Gefolgschaft verweigert, stattdessen die Bibel in seine tschechische Muttersprache übersetzt. Weil er so verständlich und lebensnah erzählen konnte, war er als Prediger sehr geschätzt. Für seine kritische und eigenständige Haltung ist er damals angeklagt worden.  Widerrufen, wovon er im Innersten überzeugt war, wollte er nicht. Und das hat er mit seinem Leben bezahlt.

Das alles ist furchtbar lange her und scheint einer völlig anderen Zeit anzugehören. Die Todesstrafe ist abgeschafft; kein Mensch wird heute mehr öffentlich hingerichtet. Jedenfalls nicht in Konstanz. Freie Meinungsäußerung gilt auch in Glaubensdingen; die deutsche Verfassung garantiert eine positive Religionsfreiheit. Zwischen unterschiedlichen Konfessionen und Religionen wird in der Öffentlichkeit ein respektvoller Umgang zelebriert. Manchmal frage ich mich allerdings, ob sich die Schauplätze für Hinrichtungen nicht einfach nur verlagert haben. Weg von den Marktplätzen in die virtuellen Welten des Netzes. In den Kommentarspalten von sozialen Medien herrscht hie und da ein Tonfall, der mich sprachlos macht. Da wird nicht lange gefackelt, sondern verbale Brandsätze gezündet und kurzer Prozess gemacht mit Menschen und Meinungen. Eine Freundin hat mir gerade gesagt, dass sie sich wundert, warum so vieles davon einfach unwidersprochen stehen bleibt. Denn wer schweigt, scheint zuzustimmen. Da habe ich mich angesprochen gefühlt. Ich weiß: Viele sagen, sich in solche Diskussionen einzumischen, bringt eh nichts. Aber vielleicht ist ein klar formulierter Widerspruch gegen Hetze und Shitstorms es ja doch wert für einen einzelnen, der doch ins Nachdenken kommt und sich auf eine echte Diskussion einlässt. Oder zumindest für die schweigende Menge, der damit signalisiert wird: Ihr seid nicht allein. 

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05JUL2024
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Die kleine Dorfkirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gut 80 Personen in festlicher Kleidung füllen die Bänke. Viele von ihnen waren schon lange nicht mehr in einem Gottesdienst. Braut und Bräutigam sind um die sechzig; beide heiraten bereits zum zweiten Mal. Das wir auch nicht verschwiegen. Der Pfarrer nennt in seiner Predigt die verstorbene Frau des Bräutigams und den geschiedenen Mann der Braut beim Namen. Und spricht auch vom Schmerz über Trennung und Tod.

In den ersten Reihen rechts und links sitzen die erwachsenen Kinder des Paars mit durchaus gemischten Gefühlen. Das Brautpaar spricht selbst ein Gebet. Bringt sichtlich gerührt seinen Dank zum Ausdruck für diesen Moment, für die als Gottesgeschenk empfundene Begegnung, die dazu geführt hat, sich in fortgeschrittenem Alter noch einmal verlieben zu dürfen mit allem, was zum Verliebtsein und zur Liebe gehört. Spricht dankbar aus, dass Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde diesen Weg begleitet haben und zu diesem Fest gekommen sind. Alles gar nicht selbstverständlich. In etlichen Augenpaaren sehe ich Tränen schimmern. Auch bei einigen Männern.

Und ich spüre in diesem Augenblick, dass wir genau am richtigen Platz sind: nämlich in einem Gottesdienst. Das lässt sich mit Worten gar nicht so leicht erklären: Es kommt eben nicht nur darauf an, was im Gottesdienst gesagt wird. Ich spüre, wie in den Menschen und zwischen ihnen ein Raum aufgeht, in dem Platz ist für alles, was das Leben weiter und tiefer macht. Für vieles, wofür im Alltag keine Zeit bleibt. Und dass der Gottesdienst passende, stimmige Formen bereithält, um sich davon berühren zu lassen. Angefasst zu werden. Vieles trägt dazu bei: Musik. Gebete. Ausgewählte Worte. Persönlich und erfahrungsgesättigt von mehr als einem einzelnen Menschenleben. Schließlich wird das Brautpaar gesegnet. Auch die Trauzeugin wirkt dabei mit. Und ich wünsche mir, dass alle andern sich in diesem Moment auch gesegnet fühlen. Gesehen mit allem, was sie in ihren Seelen und ihren unsichtbaren Rucksäcken mit sich tragen. Mit liebevollen Augen angeschaut von jener großen segnenden Kraft, die ich Gott nenne. So was Schönes, liebe Leute, so was könnt ihr in einem Gottesdienst erleben.

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