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SWR2 Wort zum Tag

Gott steht auf der Seite der Ohnmächtigen, der Erniedrigten, der Gewaltlosen. An diesem Gottesbild der Bibel ist nicht zu rütteln.

In einem Text im Evangelium, der für mich sehr wichtig ist, wird das unmissverständlich deutlich. Es ist das Magnifikat, das Loblied Marias auf die Größe Gottes. „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt in Gott meinem Retter“, so beginnt es.

Dieser Lobpreis Marias müsste eigentlich allen ein Dorn im Auge sein, die sich selbst für groß halten. Denn es heißt dort auch: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“

Ja, möchte man sagen, das wäre gut – aber es ist leider nicht so. Die Mächtigen behalten die Macht, und die, denen sehr viel gehört, verteidigen ihren Besitz. Die Gewalttäter üben weiter Gewalt aus, und die Unterdrückten und Gequälten bleiben weiter unterdrückt und gequält. Schon Martin Luther, der eine sehr schöne Auslegung des Magnifikat geschrieben hat, sieht das ganz realistisch: „Die Gelehrten lassen den Hochmut ihres Herzens nicht, die Gewalttätigen lassen ihre Unterdrückung nicht, die Reichen lassen ihre Lust nicht: so hat es seinen Gang.“[1]

Kann man diesen biblischen Text also ad acta legen? Vertröstet er die Erniedrigten und Gedemütigten lediglich auf eine spätere Gerechtigkeit – irgendwann einmal, mit ungewissem Ausgang?

Das wäre zu einfach. Das Magnifikat ist ein subversiver Text. Niemand kann sich auf Gott berufen, der anderen Menschen Gewalt antut. Körperliche und auch seelische Gewalt. Aber immer wieder wird der Name Gottes dafür missbraucht. Auch Christen sollten da nicht überheblich sein.

Aber das beginnt nicht bei irgendwelchen anderen, sondern bei mir selbst. Da, wo ich intellektuell, moralisch oder auch religiös selbstgefällig bin. Und wo ich ausschließlich meine Interessen verfolge und nicht darauf achte, was den Menschen neben mit gut tut.

Gott steht auf der Seite der Schwachen. Davon bin ich überzeugt, auch wenn der Lauf der Welt anders aussieht. Und es beunruhigt mich – hoffentlich.

 


[1]Martin Luther, WA Bd. 7, 590.

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SWR2 Wort zum Tag

Der Mai ist in der katholischen Kirche der Marienmonat. Ich gebe zu: Ich tue mich etwas schwer damit. Gerade deshalb versuche ich, mich mit dem Bild Marias auseinanderzusetzen, wie es die Bibel zeichnet. Es bringt mich dazu, nach meinem eigenen Glauben zu fragen.

Ein wertvoller biblischer Text ist für mich das Magnifikat, ein Lied, in dem Maria die Größe Gottes besingt. „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter“, so beginnt es. Und so wird dieser Jubel begründet: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“

Gott sieht die Menschen, die erniedrigt, gedemütigt, verelendet sind, sagt dieser Hymnus. Darin besteht Gottes unfassbare Größe: dass er diese Menschen ansieht und ihnen zu Ansehen verhilft, auch dann, wenn sie für die Mitmenschen und vor den eigenen Augen völlig unansehnlich geworden sind. Für Martin Luther, der eine sehr schöne Auslegung des Magnifikat geschrieben hat, „bleibt sie allein Gottes Sache, diese Art zu sehen, die in die Tiefe, in Not und Jammer sieht; er ist nahe allen denen, die in der Tiefe sind“. Und wenige Sätze davor sagt er: „Je tiefer jemand unter ihm ist, desto besser sieht er ihn.“[1]

Für meinen Gottesglauben ist das zentral: Gott ist den Menschen nicht nur im Glück, sondern auch im tiefsten Dunkel nahe. Im tödlichen Schicksal Jesu hat Gott sich selbst der Hoffnungslosigkeit und Gottverlassenheit ausgesetzt, damit niemand in seiner tiefsten Verzweiflung allein ist. Und Ostern heißt dann: Aus dem Nichts, aus dem Tod schafft Gott neues Leben. Das glaube ich. Noch einmal Martin Luther. Er sagt: „Alle seine Werke sind bis ans Ende der Welt so beschaffen, dass er aus dem, das nichts, gering, verachtet, elend, tot ist, etwas macht, etwas Kostbares, Ehrenvolles, Seliges und Lebendiges.“[2]

Noch einmal: Dass Gott gerade dann für das Leben steht, wenn es gar nicht danach aussieht, das ist der Kern meines Glaubens. Ich weiß, wie schwer es sein kann, daran zu glauben. Ich sitze am Bett eines todkranken und depressiven Menschen, der sich völlig von Gott verlassen fühlt, an den er ein Leben lang geglaubt hat. Und ich spüre bei mir selber, wie zerbrechlich meine Gewissheiten werden können und wie hilflos meine Worte sind. Ich kann nur da sein und seine unbeantworteten Fragen und Zweifel aushalten. Und darauf vertrauen, dass Gott da ist, auch wenn es so aussieht, als sei er weit entfernt. Der Gott, von dem Maria sagt: Er hat auf mich in meiner Niedrigkeit geschaut.



[1]Martin Luther, Das Magnifikat, WA Bd. 7, 547.

[2] Ebd.

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SWR2 Wort zum Tag

Ein wunderbares Loblied auf die Größe Gottes legt das Evangelium Maria in den Mund. Es ist das Magnifikat. „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.“ So beginnt diese Dichtung.

 Ich habe jetzt im Mai, der in katholischen Kirche als Marienmonat begangen wird, wieder einmal zu diesem Magnifikat gegriffen. Weil mich das Bild Marias fasziniert, das in diesem Text aufscheint. Und weil ich das Gottesbild geradezu aufregend finde, das hier gezeichnet wird.

 Dieser Text ist voller Spannungen. Es nimmt den Blick der Mutter ein, die mit ihrem Sohn alles durchsteht. Bis zum bitteren Ende, wenn er wie ein Verbrecher am Kreuz hängt. Maria hat mit ihm gelitten, ist mit ihm erniedrigt und gedemütigt worden. Ihr Blick ist der Blick der Erniedrigten, der Gedemütigten zu allen Zeiten. Und wirklich dramatisch ist daran, dass hier die Verhältnisse von Oben und Unten, von Macht und Ohnmacht auf den Kopf gestellt werden. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“, so heißt es im Magnifikat. Das sind „die machtvollen Taten“, die Gott „mit seinem Arm vollbringt“.  

Nicht alle Rätsel der Geschichte lassen sich mit dem Glauben an Gott lösen. Im Gegenteil: Ihre dunklen Schatten machen Gott noch rätselhafter. Aber eines macht das Magnifikat deutlich: Macht lässt sich mit Gott nicht rechtfertigen, und Ohnmacht lässt sich mit ihm nicht schönreden. Die Maßstäbe von Groß und Klein, von Mächtig und Gering werden hier umgedreht ins Gegenteil. Auch wenn diese Maßstäbe oft als gottgewollte Ordnung dieser Welt missverstanden werden

Martin Luther hat eine tiefsinnige Betrachtung über das Magnifikat geschrieben. Er sieht darin die „tiefe Erkenntnis und Weisheit: dass Gott ein solcher Herr sei, der nichts anderes zu schaffen habe, als nur zu erhöhen, was niedrig ist, zu erniedrigen, was da hoch ist, und kurz, zu zerbrechen, was da gemacht ist, und zu machen, was zerbrochen ist“.[1] Das ist eine verkehrte Welt – Gottes verkehrte Welt.



[1]Martin Luther, Das Magnifikat, WA Bd. 7, 546.

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SWR2 Wort zum Tag

1. Mai – Tag der Arbeit. Dieses Datum markiert eine über 160-jährige verdienstvolle Geschichte, in der Arbeiter und Gewerkschaften für erträgliche Arbeitszeiten, für faire Löhne und für das Recht zu streiken gekämpft haben. Ich blicke mit großem Respekt auf diese Geschichte. Denn hier bei uns können die meisten Menschen ein sozial abgesichertes Leben führen. Es ist aber trotzdem weiterhin nötig, um soziale Gerechtigkeit zu ringen. Denn nicht allen geht es gut. Man mag sich über die Zahlen streiten – Tatsache ist doch, dass viele Menschen in Verhältnissen leben, die man als „prekär“ oder gar als arm bezeichnet. Das betrifft zum Beispiel allein erziehende Frauen, junge Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung oder auch ältere Menschen mit geringen Rentenansprüchen. Und oft hat die Armut auch einen „Migrationshintergrund“ – Menschen, die schon lange bei uns leben und doch nicht angekommen sind. Geflüchtete, die mit großen Hoffnungen hierhergekommen sind und jetzt keine Zukunftsperspektive sehen.

Damit weite ich den Kreis meiner Überlegungen aus. Geflüchtete Menschen sind Zeugen einer anderen Welt. Einer Welt, die ich manchmal von mir fern halten möchte, weil ich sie kaum ertrage. Und doch ist diese eine Welt auch meine Welt, und was in ihr vorgeht, gehört auch zu meinem Leben.

Gerade deshalb lädt der 1. Mai dazu ein, den Blick zu weiten. Über den eigenen Tellerrand zu schauen und über die sozialen Fragen in unserem Land hinaus zu denken. „Wir brauchen eine neue universale Solidarität“, sagt Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben „Laudato si‘“.[1] Ich bin für das, was ich tue, verantwortlich. Nicht nur vor mir selbst, sondern alles, was ich tue, wirkt sich aus auf die Welt, in der ich lebe, und auf die Menschen, die mit mir zusammen darin leben. Und ich bin auch verantwortlich gegenüber der Schöpfung, die allen geschenkt ist. Nicht nur eine Minderheit – nein alle sollen ein menschenwürdiges Leben führen können.

Gemessen an dem, wie es Menschen in vielen Ländern geht – oft nur wenige Flugstunden von uns entfernt –, leben wir hier auf einer Insel des sozialen Wohlergehens. Ich habe in Ländern des so genannten globalen Südens Elend gesehen und erlebt, in dem ich nicht eine Stunde leben könnte.

Eigentlich möchte doch jeder Mensch gut dort leben können, wo er zuhause ist. Überall auf der Welt. Dass dies so vielen verwehrt ist, daran kann ich nichts ändern. Und je mehr ich sehe, desto schmerzhafter ist das für mich. Ich habe keinen Einfluss darauf, dass die großen Machtblöcke mit ihren Stellvertreterkriegen ungezählte Menschen ins Unglück stürzen. Ich kann nichts daran ändern, dass der Wohlstand hierzulande auf unfairen Wirtschaftsbeziehungen beruht, die andere Länder abhängig und arm machen. Ich werde auch nichts dagegen ausrichten, dass Waffenhändler ihre schmutzigen Geschäfte machen, selbst wenn ich noch so empört darüber bin.


[1] Zit. bei Papst Franziskus, Laudato si‘. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Die Umwelt-Enzyklika mit Einführung und Themenschlüssel, Stuttgart 2015, 31.

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SWR2 Wort zum Tag

Wie es soll es aussehen, „unser Land“? Das Land in dem wir leben wollen und das auch unsere Kinder später einmal als „unser Land“ bezeichnen können? Bundespräsident Joachim Gauck hat diese Frage zu Beginn seiner Amtszeit vor fünf Jahren gestellt. Und jetzt hat er  sie in seiner bewegenden Abschiedsrede wiederholt. 

Ja, wie soll es aussehen, unser Land? Das frage ich mich als Bürger, das frage ich mich als  Christ und als Mitglied einer Kirche, die an der Gestaltung unseres Landes und unserer Gesellschaft einen wichtigen Anteil hat. 

Eine Antwort auf diese Frage ist mir besonders wichtig: Ich möchte in einem Land, in einer Gesellschaft und auch in einer Kirche leben, in der es nicht die Ausnahme ist, sondern selbstverständlich, dass Menschen sehr verschieden sind und das Leben bunt ist. Das ist für die einen immer schon klar, für andere soll es genau so nicht sein. Ich erlebe zurzeit beides: eine große Offenheit gegenüber anderen Menschen mit unterschiedlicher ethnischer, kultureller, religiöser Prägung; gegenüber einer Vielfalt von Möglichkeiten, zu denken, zu glauben, das  Leben zu gestalten. Aber andererseits gibt es bei vielen Menschen auch ein starkes Bedürfnis, sich abzugrenzen. Sie wollen sich an etwas halten können, das scheinbar sicher und wahr ist. Und sie fordern dies zum Teil vehement ein. 

Ich glaube, dass wir heute herausgefordert sind, neue Visionen zu entwickeln, wie dies schon sehr lange nicht mehr der Fall war. Meine Vision ist es, dass Menschen so mit einander leben, dass Vielfalt nicht die Ausnahme, sondern das Selbstverständliche ist. Dass dies nicht nur widerwillig hingenommen wird, weil es doch nicht zu ändern ist, sondern dass es angenommen und bejaht wird. Ich wünsche mir ein Gemeinwesen, in dem nicht an erster Stelle die Frage steht: „Wo kommst Du her? Was denkst Du? Wie lebst Du?“, sondern: „Wer bist Du?“ Der andere ist Mensch wie ich. Darum geht es.

Es gibt Menschen, die sich vor einem solchen Zukunftsbild fürchten und es ablehnen. Wenn ich Vielfalt bejahe, dann muss ich auch sie und ihre Argumente ernst nehmen. Ich weiß: was meinen eigenen Überzeugungen widerspricht, das möchte ich nicht so gerne hören. Widerspruch macht meinen eigenen Standpunkt natürlich nicht einfacher. Doch ziehe ich dort die Grenze, wo jemand einem anderen Menschen seine Würde abspricht, sein Recht darauf, anders zu leben, zu denken, zu glauben. Das muss uns bei aller Vielfalt verbinden: dass wir die Würde des anderen Menschen achten. Und in einem Land, in dem das gilt, möchte ich leben.

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SWR2 Wort zum Tag

In seinem letzten Buch denkt der schwedische Schriftsteller Henning Mankell über existenzielle Fragen seines eigenen Lebens nach. Aber auch grundsätzlich darüber, „was es heißt, ein Mensch zu sein“. [1] „Treibsand“ lautet der Titel des Buchs. Mankell hat es kurz vor seinem Tod veröffentlicht.

In einem Kapitel setzt er sich mit dem Thema „Hoffnung“ auseinander. „Was geschieht mit Menschen, die jegliche Hoffnung verloren haben? Wenn ihnen nichts mehr bleibt?“[2], fragt Mankell.  Es gibt viele Gründe, sich damit auseinander zu setzen; für ihn war es die tödliche Diagnose Krebs. Aber worauf Menschen hoffen, das ist so vielfältig wie das Leben. Mankell erzählt vom Besuch in einem Café: „Ich betrachte die Menschen an den anderen Tischen und denke mir, dass sie alle eine gewisse Hoffnung mit sich herumtragen. Dass ihnen etwas gelingen möge, dass etwas zu Ende geht, sich für etwas eine Erklärung findet, etwas Schmerzhaftes sich als fasch herausstellt.“[3]

Ich glaube das auch: Wir könnten nicht leben und nicht handeln, wenn wir nicht von der Hoffnung geleitet  würden, dass es zu etwas gut ist, dass sich ein Sinn darin zeigt. Ich könnte nicht kreativ sein, nichts wagen, nicht neu anfangen und auch kein Leid ertragen ohne Hoffnung. Auch wenn Hoffnungen sich vielleicht nicht erfüllen, auch wenn sie immer weiter reduziert werden müssen. Dennoch. „Die ganze Zeit“, sagt Henning Mankell, „müssen wir dafür sorgen, dass die Hoffnung immer stärker ist als die Hoffnungslosigkeit. Ohne Hoffnung gibt es im Grunde kein Überleben.“[4]

Was aber geschieht, wenn keine Hoffnung mehr besteht? Gibt es dann auch keinen Gott mehr?, fragt Mankell. Ist dann der Himmel so leer wie das Meer? „Es gibt keine Antwort auf diese Frage“, sagt er. „Sie ist ganz einfach falsch gestellt oder unmöglich zu  beantworten. Wo alle Hoffnung endet, gibt es kein menschliches Leben.“[5]

Ist das dennoch möglich: leben, auch wenn alles hoffnungslos erscheint? Ich glaube, das ist der Ernstfall der Hoffnung: selbst dann noch vertrauen, wenn alle Wünsche vergebens sind. Vertrauen, dass es selbst in tiefster Nacht eine Antwort gibt – auch wenn ich sie überhaupt nicht erkennen kann. „Die Hoffnung existiert“, sagt Henning Mankell. „Vielleicht nur als Schatten. Aber dennoch.“

 



[1]Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015.

[2] A. a. O. 102.

[3] A. a. O. 104.

[4] Ebd.

[5] A. a. O. 102.

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SWR2 Wort zum Tag

„Treibsand“ heißt das letzte Buch, das Henning Mankell veröffentlicht hat. [1] Der schwedische Schriftsteller und Theaterregisseur ist  im Oktober 2015 gestorben. In diesem Buch denkt er darüber nach, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Den Titel „Treibsand“ verdankt der Band einem seiner Kapitel. Als Kind, so erzählt Mankell darin, hat er manchmal darüber nachgedacht, welche Todesart er am meisten fürchtet. Eine davon besteht darin, im Winter durch die Eisdecke eines zugefrorenen Sees einzubrechen und unter das Eis gezogen zu werden. Das ist in seinem Dorf einmal passiert. Das andere, wovor er sich als Kind gefürchtet hat, ist Treibsand. Er hat irgendwo gelesen, wie ein Mann auf einer Düne von einer Unterströmung des Sandes erfasst und immer tiefer hinabgezogen worden ist.

Mankell hatte Krebs, und er hat gewusst, dass es keine Chance auf Heilung gibt. Da holen ihn Jahrzehnte später seine Kindheitsbilder wieder ein: in der Eiseskälte der Angst erstarren; in der Resignation ersticken. So zu reagieren, jetzt, mit dieser Diagnose, das will er auf keinen Fall. Und es gelingt ihm zu widerstehen: nicht vom Leben ablassen, das Bücherregal weiter mit neuen Büchern füllen und viel lesen, schöpferisch tätig sein, so lange es geht.

Das letzte Kapitel seines Buches ist überschrieben: „Sich nie die Freude nehmen lassen.“ Darin schreibt Mankell: „Vor allem lebe ich in der Erwartung neuer begnadeter Augenblicke. In denen mir niemand die Freude nimmt, selbst etwas zu schaffen oder etwas zu sehen, was andere geschaffen haben. Augenblicke, die kommen, die kommen müssen, wenn das Leben für mich einen Wert haben soll.“[2]

Das ist eine ermutigende Aufforderung, dem Leben zu vertrauen, auch wenn sein Ende unausweichlich vor Augen steht. Die meisten Menschen kennen das: Angst davor, wie das Leben weitergehen soll; Schicksalsschläge, die sie resignieren und fast verzweifeln lassen. Viele müssen im Angesicht des nahen Todes leben. Immer wieder erlebe ich Menschen, die auch in der Schwäche stark sind. Gläubige Menschen suchen Halt im Vertrauen auf Gott. Nicht allen ist das gegeben. Ich wünsche mir, dass ich in schweren Lebenskrisen erkennen kann, wovon Mankell spricht: diese „begnadeten Augenblicke“; Augenblicke der Freude, die mir nichts und niemand nehmen kann. Augenblicke, die mein Leben wertvoll erscheinen lassen, auch wenn es bedrängt ist.

 

[1]Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015.

[2] A. a. O. 380.

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SWR2 Wort zum Tag

Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell ist vor allem wegen seiner Krimis mit Kommissar Wallander bekannt geworden. Im Oktober 2015 ist er gestorben. Er war schwer krebskrank. In seinem letzten Buch hat er über sein eigenes Leben nachgedacht und sich zugleich der Frage gestellt: „Was es heißt, ein Mensch zu sein.“ „Treibsand“ heißt das Buch.[1]

Am Ende des Buchs kommt er auf die zahllosen Menschen zu sprechen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist. „Im Leben umgeben dich unzählige Menschen”, schreibt Henning Mankell. „Viele nimmst du einen Moment lang wahr, vergisst sie aber sofort wieder. Mit anderen hast du einen kurzen Augenkontakt. Und mit einem Teil dieser Menschen führst du Gespräche. Außerdem hast du deine Familie, deine Freunde und Bekannten, die dir nahestehen. […]  Aber die allermeisten sind einfach Menschen, die zufällig gleichzeitig mit dir leben. Millionen Menschen, die einen kurzen Besuch auf der Erde machen, der sich mit deinem überlappt.”[2]

Ich kenne solche Gedanken. Wie  vielen Menschen bin ich schon begegnet: nahe stehenden Menschen, die mich lange begleitet haben; Menschen, mit denen ich beruflich zu tun hatte? Kurze Begegnungen sind mir unvergesslich geblieben, andere waren schnell wieder aus der Erinnerung verschwunden.  Schicksale haben mich berührt – manchmal konnte ich helfen, oft auch nicht. Wie würde mein Leben aussehen ohne diese Menschen? Was verdanke ich ihnen? Manches wäre vielleicht ganz anders verlaufen, wenn andere Menschen meinen Weg gekreuzt hätten – und ich ihren. Denn auch ich habe das Leben dieser Menschen beeinflusst, bewusst oder ohne es zu wissen. Mit oder ohne Absicht. Wem hat die Begegnung mit mir gut getan, wem habe ich geschadet?

Für vieles bin ich dankbar, über vieles glücklich – an manchem trage ich schwer. Leben ist vieldeutig, daran ist nichts zu ändern. Aber eines ist mir bei Henning Mankells Zeilen wieder einmal deutlich geworden: Mein Leben ist nicht nur mein Leben; es ist ein Netzwerk von Leben – weit verzweigt, eigentlich unüberschaubar. Niemand lebt für sich allein, nur im Wir sind wir Menschen.



[1]Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015.

[2] A. a. O. 382.

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SWR2 Wort zum Tag

In Südafrika gibt es diesen Witz: Ein weißer Junge kommt von der Schule nach Hause und erzählt seiner Mutter begeistert von seinem neuen Freund. „Ist er weiß oder schwarz?“, fragt die Mutter. „Das weiß ich nicht“, sagt der Junge, „da muss ich morgen erst nachschauen.“ Kardinal Alfred Napier, der Bischof der Erzdiözese Durban, hat  das unserer kleinen Reisegruppe erzählt, die ihn vor kurzem besucht hat. 

Eine lustige Geschichte. Aber ihr Hintergrund ist ernst. Der Kardinal, selbst ein Schwarzer, sagt, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Apartheit sei es immer noch nicht geglückt, dass Weiße, Schwarze und so genannte Coloured People, Farbige mit anderen ethnischen Wurzeln, einigermaßen gut miteinander leben. In der Gesellschaft nicht und leider auch nicht in der Kirche. Wir selbst erleben es auf dieser Reise hautnah: Die Menschen sind enttäuscht; sie waren sehr euphorisch, und jetzt ist nichts besser geworden.  Im Gegenteil. Die Leute werden immer ärmer. Das macht viele aggressiv und misstrauisch, und  so nehmen die sozialen Spannungen zu.  Die Schuld wird vor allem den Weißen zugeschoben, auch wenn die heute Verantwortlichen offensichtlich korrupt und politisch unfähig sind.  Aber auch innerhalb der schwarzen Bevölkerung gibt es viele Konflikte – nicht zuletzt, weil täglich tausende geflüchtete Menschen aus den afrikanischen Nachbarstaaten ins Land kommen. „Ich setze allerdings große Hoffnungen in die Kinder und Jugendlichen“, sagt Kardinal Napier. „Es ist heute selbstverständlich, dass sie gemeinsam die Schule besuchen und miteinander leben lernen.“ Irgendwann ist nicht mehr die Hautfarbe wichtig, sondern der Mensch. Daran glaubt er fest. 

Ich will die komplizierte Situation in Südafrika nicht einfach auf unser Land übertragen. Aber ich stelle mir vor: ein Junge in Deutschland kommt nach Hause und erzählt begeistert von seinem besten Freund, einem Flüchtlingskind aus Eritrea. Oder ein Mädchen bringt ihre muslimische Freundin nach Hause, die ihren Kopf mit einem Niqab verschleiert hat. In manchen  Familien mag das gut möglich sein. Aber selbstverständlich ist es nicht. Ich sehe vielmehr mit Sorge, dass viele sehr misstrauisch auf alles reagieren, was ihnen fremd vorkommt. Und dass sie Menschen ablehnen, die nicht in das Bild passen, das als „normal“ gilt. Und die Angst nimmt zu – viele Leute wissen dabei gar nicht, wovor sie Angst haben. 

Aber ich hoffe ebenso wie der Kardinal von Durban, dass irgendwann kommende Generationen diese Grenzen nicht mehr beachten. Dass Kinder von ihrem neuen Freund oder ihrer neuen Freundin zuhause erzählen und am nächsten Tag erst mal nachschauen und nachfragen müssen, ob diese weiß oder braun oder schwarz sind, Christen oder Juden oder Muslime, Einheimische oder Flüchtlinge … Nein, ich hoffe, dass dann solche Fragen unwichtig geworden sind.

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SWR2 Wort zum Tag

Ein Fest feiern – mit nichts außer sich selber und ansteckender Lebensfreude. Ich habe dies vor kurzem erlebt in Mamelodi, einer großen armen Schwarzensiedlung in der Nähe der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria. Die katholische Gemeinde dort feiert ihr zehnjähriges Bestehen. Pünktlich um 8.30 Uhr, wie vereinbart, ist unsere kleine Reisegruppe dort. Wir wollen nicht zu spät zum Gottesdienst kommen. Es dauert dann allerdings noch eine Stunde, bis alle da sind und der Gottesdienst wirklich anfängt. Die Kinder spielen einstweilen Fußball, die Erwachsenen kaufen in einem kleinen Second-Hand-Shop im Freien vor der Kirche ein. Niemand stört das.  „Du kommst, wenn Du kannst“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Und: „Du bist willkommen, wenn Du kommst.“ 

Es wird dann ein Gottesdienst, wie man ihn nur in Afrika erleben kann. Fast drei Stunden dauert er. Die Lieder, von einem kleinen, aber stimmgewaltigen Chor intoniert, sind mitreißend. Die Kinder schauen uns Weiße aus Deutschland neugierig an, aber fremd fühlen wir uns nicht. Wir gehören selbstverständlich zu dieser ausschließlich einheimischen Gottesdienstgemeinde dazu. 

„Wir müssen nicht auf andere schauen, denen es besser geht“, sagt der Gemeindepfarrer in seiner Predigt. „Weil wir gut und glücklich leben, deshalb feiern wir ein Fest.“ Mehr Besitz, mehr Wohlstand – das alles sei äußerlich. „Wir feiern das Fest unseres Lebens. Wir feiern unseren Glauben und unsere Liebe zu Jesus“, sagt der Pfarrer. „Das ist die Botschaft, um die es geht und die verkündet werden muss.“ 

Einfache Worte; für viele in dieser Gemeinde ist das Leben mit Sorgen belastet, das sieht man ihnen an. Erst vor kurzem hat es hier in der Siedlung gewalttätige Ausschreitungen gegeben. Und doch scheint es, als erreichten diese Sätze die Herzen der Menschen. 

Nach dem Mittagessen wollen wir eigentlich wieder gehen. Das Tagesprogramm sieht  es so vor. Aber dann merken wir, dass die Gemeinde einiges vorbereitet hat: akrobatische Tanzeinlagen die Kinder, Lieder oder gespielte Bibelszenen die Jugendlichen und die Erwachsenen. Sie wären sehr enttäuscht, wenn wir nicht dabei blieben. Natürlich würden sie auch feiern, wenn wir an diesem Sonntag nicht gekommen wären. Aber heute gehören wir dazu; wir sind willkommen, einfach weil wir da sind. Und das Fest wäre ohne uns nicht so schön. 

Unser restliches Tagesprogramm entfällt. Ein gemeinsames Fest zu feiern, einfach so, weil das Leben an diesem Tag schön ist – das ist wichtiger als alles andere.

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